Paris, Théâtre de l'Athénée, UBU ROI - Alfred Jarry, IOCO

Ubu ist ein feiger, gieriger und gewalttätiger Mann… … der die Macht im fernen Königreich Polen übernimmt, bevor er den Zaren von Russland in einem absurden Krieg herausfordert… Ubu Roi ist seit seiner Entstehung im Theater im Jahr 1896 durch den jungen Alfred Jarry umstritten und wird fortgesetzt,

Paris, Théâtre de l'Athénée, UBU ROI - Alfred Jarry, IOCO
Théâtre de l'Athénée @ Wikimedia Commons

THÉÂTRE DE L’ATHÉNÉE, PARIS - 10.10.2024 - Alfred Jarry: UBU ROI (1896), Komödie in drei Akten mit einer Szenen-Musik  (1907) von Claude Terrasse.

 von Peter Michael Peters

DER UNERSÄTTLICHE UBU ROI…

Père Ubu: „J’ai changé de gouvernement et j’ai fait mettre dans le journal qu’on paierait deux fois tous les impôts et trois fois ceux qui pourront étre désignés ultérieurement. Avec ce système j’aurai vite fortune, alors je tuerai le monde et je m’en irai.“ (3.Akt / 5. Szene)

 

Ubu ist ein feiger, gieriger und gewalttätiger Mann…

… der die Macht im fernen Königreich Polen übernimmt, bevor er den Zaren von Russland in einem absurden Krieg herausfordert… Ubu Roi ist seit seiner Entstehung im Theater im Jahr 1896 durch den jungen Alfred Jarry (1873-1907) umstritten und wird fortgesetzt, um die Menschen heute noch zum Lachen und zur Reaktion zu bringen: Die Ubu sind tatsächlich hier und da noch präsent und verkörpern die Rache unserer unterdrückten Instinkte. Der französische Regisseur Pascal Neyron bietet uns an, die Originalmusik von Claude Terrasse (1867-1923) in ihrer Orchesterfassung wiederzuentdecken, eine exhumierte und von den Frivolités Parisiennes aufgeführte Fassung.

„De par ma chandelle verte, merdre, Madame, certes oui, je suis content“ sagt Pére Ubu, der neue billige und vulgäre Macbeth (1611) frei nach William Shakespeare (1564-1616), zu seiner Frau, die ihn am liebsten schon auf dem Thron sehen würde. Dort wird sie ihn bald wiedersehen, nachdem sie ihn mit Unterstützung des Capitaine Bordure angestiftet hat, den König zu töten, wodurch die Königin und ihr Sohn Bougrelas ins Exil gezwungen wurden. Ubu wird seine Macht mit der Feinheit eines Angriffs-Panzers ausüben, tyrannisch, plündernd und mörderisch gegen den Adel, der Richter und der Finanziers. Als freudiger Archetyp menschlicher Niedrigkeit schwingt Ubu furchterregend die Gehirn-Zerstückelungs-Maschine und den verschissenen Scheiß-Haken und natürlich den verpissten Adels-Haken… Aber wenn er daran dachte, seine Gegner zu eliminieren, um über dieses unwahrscheinliche Polen zu herrschen, „… das heißt nirgendwo“ (A. Jarry), versäumte Ubu jedoch seine Versprechen zu respektieren. Der einzige Ausweg ist daher die Flucht nach vorne: Den „Zaren“ und Russland anzugreifen! Nachdem er eine Schlacht gesund und munter überstanden hatte und ebenso unglaublich entblößt wurde unter anderem mit einem völlig nackten Arsch: Beschloss er schließlich wieder nach Frankreich zu kommen und dort zu leben!

UBU ROI - Szenenphoto mit Elisabeth de Ereno (Bougrelas), Sol Espeche (Mère Ubu) und Paul Jeanson (Ubu Roi) und Les Frivolités Parisiennes © Christophe Raynaud de Lage

Ubu wurde im Hof des Gymnasiums von Rennes geboren, wo Jarry und seine Freunde, die Brüder Morin ihren Physiklehrer Monsieur Hébert karikierten. Dies geschah in Form eines Stücks für Marionetten: Les Polonais (1885). Jarry übernahm und modifizierte den Charakter und den Namen Hébert. Ubu nahm einen zentralen Platz in der schillernden dramatischen Karriere des Autors ein. Nach Haldernablon (1894) und César-Antechrist (1895), gewissermaßen die Ankündiger von Ubu Roi führt uns der Ubu-Zyklus weit weg vom Naturalismus und dem theatralischen Realismus der Zeit. Ubu Roi, Ubu cocu (veröffentlich posthum im Jahre 1944), Ubu enchainé (1899), Ubu sur la Butte (1901), schaffen durch die Verflechtung von Archaismen und Neologismen einen innovativen mythischen Charakter: Ubu Roi parodiert die Tragödie: Deren berühmteste Referenz hier Shakespeare ist. Als Reaktion auf die Ausbuhungen des Publikums bei der Uraufführung veröffentlichte Jarry seine Auffassung von Theater in dem Artikel De l’inutilité du théâtre au théâtre (1896). Eugène Ionesco (1909-1994), Boris Vian (1920-1959) et Antonin Artaud (1896-1948) unter anderem  werden sich diese Prinzipien und die französiche Sprache namens Ubu Roi zunutze machen, um das Vokabular des Absurden zu bereichern.

Der Lauf der Zeit nimmt nichts von der Wut…

Ubuesk! Nur wenige Charaktere in unserem Repertoire haben noch Anspruch auf ein gemeinsames und weit verbreitetes qualifizierendes Adjektiv. Verbunden mit Lässigkeit, Wahnsinn, Extravaganz der Ewigkeit eines Namens, Ubu und seine naive mörderische Macht ist es nach mehr als hundert Jahren zum Symbol eines gewissen brutalen Anarchismus geworden.

Es gibt tausend Möglichkeiten, Ubu Roi aufzubauen. Les Frivolités Parisiennes  haben beschlossen, sich ein Fenster zu schaffen, das den Lauf der Zeit überblickt und dass das verrottet, was durch Wut und menschliche Dummheit sich zu bewahren versuchte. Ubu Roi ist ein Plagiat unserer Realität und unserer Modernität: Das Streben nach absoluter, unbegründeter individueller Macht, von der nichts übrig bleiben wird außer den Spuren von Kämpfen, die es zu bewahren gilt. Alle mit einem gewissen Lachen: Wir behalten im Hinterkopf, das Ubu Roi ein Werk ist, das geschaffen wurde, um zu amüsieren und eine Reaktion hervorzurufen. Was sind die komischen und tragischen Quellen, die angesichts seiner Entstehung schockierend waren und ihm heute immer mehr Aktualität verleihen? Weil die Realität das Werk einholt hat. Wir leben in Zeiten, in denen die Macht und die gerechte Ordnung in Frage gestellt werden und die Geschichten, aus denen die Gesellschaft besteht. Wenn die extreme Rechte an den Toren der Macht steht, sei es in Frankreich, Deutschland, Holland, Italien, in den Vereinigten Staaten von Amerika oder im nationalistischen Russland, stehen autoritäre Figuren an vorderster Front und wir müssen die komplexen Funktionsweisen ihrer Herstellung, Gewalt, Einsamkeit, Isolation, Exil in Frage stellen.

UBU ROI - Szenenphoto mit Paul Jeanson (Ubu Roi) und Les Frivolités Parisiennes © Christophe Raynaud de Lage

Aber Ubu Roi ist kein geopolitisches Pamphlet über unsere Gesellschaft. Seine Befragungen gehen über rein aktuelle Angelegenheiten hinaus. Wir sind immer noch Ubu: Ubu ist hier und da immer noch präsent, er ist die Rache unserer eigenen unterdrückten Instinkte. Und es liegt am Theater, die Verbindung herzustellen! In Ubu Roi gibt es die Geschichte eines Puppen-Theaters, eines Kasperl-Theaters, aus dem es stammt, es gibt aber auch eine Geschichte des experimentellen Theaters, eine Geschichte des französischen Theaters vom Ende des 19. Jahrhunderts, die von André Antoine (1858-1943) und Aurélien Lugné-Poe (1869-1940), die Geschichte von einer Faszination für Shakespeare und für Macbeth. Konzentrieren wir uns auf Letzteres, denn Shakespeare steht im Mittelpunkt unserer Lesart. In Ubu Roi muss man „mit der Geschichte jonglieren“, sage Antoine Vitez (1930-1990). Wir zeichnen für die „Ubs eine tragikomische Reise in die Einsamkeit und vielleicht sogar in ihren Tod, indem wir sie an den Ufern der Nordsee und Ostsee, den übernatürlichen Ufern, im Nebel und Miasma von der Welt isolieren.

Ubu Roi mit Orchester! Les Frivolités Parisiennes setzen ihre Arbeit fort, indem sie sich mit den Schauspielern in einem Kollektiv engagierten und unter der Leitung von Neyron auf der Bühne zusammen einfach nur Theater machten. Sie hatten eine große Chance, die verschollene Orchester-Musik von Terrasse wiederzuentdecken. Ein Musik-Theater schlechthin: Mit dieser Musik teilen sich die Schauspieler und Instrumentalisten die Bühne und sind gemeinsam die Konstrukteure der Geschichte.

Es ist immer derselbe Versuch der Transversalität der uns antreibt, in der Überzeugung, dass wir gemeinsam mehr beitragen können als einzeln. Elf Musiker, sechs Schauspieler und Schauspielerinnen:

Siebzehn Darsteller, die die Raserei und Dekadenz eines Textes und seiner Figur in die Höhe treiben, die  heute nichts weiter sind als eins.

UBU ROI - Szenenphoto - Manu Lasker (Capitaine Bordure), Paul Jeanson (Ubu Roi) Mitglied Les Frivolités Parisiennes © Christophe Raynaud de Lage

Mit dem französischen Bühnenbildner Camille Duchemin wird uns ein Bühnenraum vorgestellt, der in erster Linie organisch ist und weil Ubu Roi ein Stück ist, das vom Bauch und vom fetten Fleisch spricht. So wird es verhältnismäßig einfach die spielerischen Elemente bequem zu integrieren, die uns in die primitivste Niedrigkeit zurückführen. Diese großen wie eine Ziehharmonika beweglichen silbrigen Schlauchrohre sind auch gleichzeitig neoklassizistische Kolonaden und wurden auch bald zu Eingeweiden, Innereien, Gedärmen und Schließmuskeln. Ein seltsamer unterhaltsamer Ort für die Schauspieler und natürlich auch für den Zuschauer!

Dieser Raum ist theatralisch: Manipulation, dynamisches Dekor, die Bühne steht im Dienst der großen politischen und sozialen Maskerade des Narren und gleichzeitig auch Königs. Er ist eine Zerstörer im Dienste seiner Launen, die Szenografie spiegelt diesen zerstörerischen und endlosen Appetit wider, der sich gegen alles wendet, was Ubu Roi umgibt: Paläste, Adlige, Völker, Länder, alles was ihm in den Weg kommt. Die räumliche Dramaturgie bietet ständig neue Elemente, die dann einfach verschwinden.

UBU ROI - Szenenphoto mit Jean-Louis Coulloc'h (Le Roi) und Nathalie Bigorre (La Reine) © Christophe Raynaud de Lage

Das Dekor zerbricht, die Gewalt siegt über das Denken und die Vernunft, bis zur großen Überfahrt, der letzten Shakespeare-Reise auf bemalter Leinwand, ein Gedanke und eine Hommage an den Globe, das schon mythische Theater von Shakespeare an der Themse in London, an dieses reine edle und reiche Theater…

Ubu Roi est un plagiat de notre réalité et de notre modernité, et un hommage à Macbeth de Shakespeare : La quête d’un pouvoir absolu, sans fondement, individuel, dont il ne restera rien si ce n’est les traces de luttes pour le conserver ». (Alfred Jarry)

UBU ROI - Szenenphoto - Manu Lasker (Capitaine Bordure), Sol Espeche (Mère Ubu), Paul Jeanson (Ubu Roi) und Les Frivolités Parisiennes © Christophe Raynaud de Lage)

UBU ROI - Premiere im Théâtre de l’Athénée - 10.10.2024

 Ein aufgeladener und zerstörender Ubu Roi…

Ubu Roi hat sich ebenso fest im Repertoire etabliert, wie Père Ubu Polen eroberte! Obwohl Jarrys Text überall gespielt wird, die sogar Krzysztof Penderecki (1933-2020) zu seiner 1991 entstandenen Oper Ubu Rex inspiriert hatte, wissen wir weniger über die Musik , die ihn ursprünglich begleitete und die der Dramatiker bei Terrasse angefordert hatte. Ja, derselbe, dem wir so viele verrückte Operetten verdanken, die wir immer wieder neu entdecken, wie z. B.: La Botte secrète ou Les Travaux d’Hercule (1903), die das Ensemble Musicatreize in dieser Saison anbieten wird… Aber die Musik von Ubu Roi, wer spielt sie noch? Als der französische Regisseur Jean-Christophe Averty (1928-2017) der das Stück für das Fernsehen inszenierte, indem er die Partitur von Terrasse für diesen Anlass sehr unglücklich „arrangiert“ hatte und auch das Chanson du décervelage blieb leider nur noch in vager Erinnerungen.

Doch dieses Mal lag die Sache in den Händen der Musikwissenschaft und es handelt sich um eine Rückkehr zur Version, wenn auch nicht zum Original, da Terrasse es offenbar erstmals 1895 für Klavier komponiert hatte, sondern zur ältesten verfügbaren vom Komponisten orchestrierten Version, die von Les Frivolités Parisiennes angeboten wird. Der französische künstlerische Berater Christophe Mirambeau, der immer noch für diese Art von Auferstehung zuständig ist, sagt, er habe in einem Archiv das von Terrasse entworfene Orchestermaterial für eine einzige Aufführung im Jahr 1908 gefunden, das Stück wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg von Lugné-Poe im Théâtre de l‘Oeuvre wiederbelebt: Der Komponist dirigierte im Orchestergraben. Und um die Gesamtheit dieser Bühnenmusik bereitzustellen, wurde der französische Pianist und Komponist Jean-Yves Aizic gebeten, um das einzige fehlende Stück zu orchestrieren, da es in der Klavierfassung bekannt war, aber bei den Aufführungen von 1922 gestrichen wurde.

UBU ROI - Szenenphoto © Christophe Raynaud de Lage

Wenn wir hören, was die Instrumentalisten von Les Frivolités Parisiennes im Hintergrund der Bühne spielen und die regelmäßig auch kurze gesprochene Rollen interpretieren, haben wir das Gefühl, dass Terrasse der Absurdität dieses burlesken Macbeth so weit wie möglich nachkommen wollte. Wir hören sie als zusammengesetzte Musik, die absichtlich unzusammenhängend ist und mitunter Bruchstücke von Ballsaal-Schnörkeln und militärischen Fanfaren gegenüberstellt. Wir denken an Erik Saties‘ (1866-1925) Parade (1917) oder Relâche (1924), aber ohne die obsessive Seite bestimmter Wiederholungen: Wir denken auch an Francis Poulencs (1899-1963) Les Mariés de la Tour Eiffel (1921) und seine köstliche Parodie auf Musikpavillons: Discours du général (1921). Man könnte fast sogar an L’Histoire du soldat (1918)  von Igor Strawinsky (1882-1971) denken. Aber vor allem denken wir, dass wir uns in einem Zeichentrickfilm befinden und es würde uns nicht wundern, wenn Tom and Jerry (1940), Zeichentrickfilm von William Hanna (1910-2001 ) et Joseph Barbera (1911-2006) mit der Musik von Scott Bradley (1891-1975) uns  einander verfolgen würden.

Die Inszenierung von Neyron, der gewissermaßen den Stammgästen vom Théâtre de l’Athénée durch seine Regie der Operetten wie Gosse de riche (1924) von Maurice Yvain (1891-1965) oder Le Testament de la tante Caroline (1936/37) von Albert Roussel (1869-1937) bekannt ist. Er übernimmt Ubu Roi, indem er seinen Schauspielern die Freiheit lässt, den Text ständig mit geflüsterten Ergänzungen in einer Sprache anzureichern, die weniger literarisch schmutzig ist als die von Jarry. Duchemins Szenografie besteht aus einer Art Vorhang aus großen schwarzen Rohren, die bald zusammenfallen und auf dem Boden riesige Schlangen oder Trauben bilden, die die von Ubu Roi verurteilten Charaktere ersticken, währen Mère Ubu in ein Rohr schlüpft. Die Kostüme der deutschen Kostümbildnerin Sabine Schlemmer schwanken zwischen heute mit Ubus Daunenjacke und einen schmutzigem Tankhelm (!) und dem verrückten Mythos mit dem endlosen Zug des Zaren… Wir lachen viel und die Sache ist in knapp anderthalb Stunden erledigt. Die elf tapferen Musiker arbeiten um sechs Schauspieler, die alle Rollen teilen und alle einen Namen verdienen: Elisabeth de Ereno als Bougrelas, Emmanuel Lasker als Capitain Bordure, Nathalie Bigorre als Königin / Zarin, Jean-Louis Coulloc’h als König / Zar  und vor allem natürlich Sol Espeche als Mère Ubu und Paul Jeansons als ein vor Feigheit triefender Ubu Roi

Die Aufführungen sind bis zum 20. Oktober im Théâtre de l’Athénée zu sehen und dann wird im November an zwei Terminen in der Opéra de Reims wiederholt. (PMP/16.1O.2024)