Paris, DIE SIEBEN TODSÜNDEN (1933) - Kurt Weill, IOCO Kritik
Gesungenes Ballett mit Texten von Bertolt Brecht
von Peter Michael Peters
Prolog *Faulheit *Stolz *Zorn *Völlerei *Unzucht *Habsucht *Neid * Epilog
EINE SCHMUTZIGE VERFÜHRUNG DES KAPITALISMUS…
Jeden Tag gehe ich auf den Markt, wo Lügen
verkauft werden. Hoffnungsvoll reihe ich
mich unter die Verkäufer.
(Auszug aus den Hollywood-Elegien, Zitat N° 3 (1942/1947) von Brecht)
Unter dem National-Sozialismus war es Kurt Weill (1900-1950) verboten, auch nur die geringste Aktivität im Zusammenhang mit Musik auszuüben und so immigrierte er nach Paris. Kurz nach seiner Ankunft bestellte Boris Kochno (1904-1990), damals Co-Direktor zusammen mit dem jungen George Balanchine (1904-1983) des Ballett 1933: Ein neues Ballett bei ihm! Das Ballett Die sieben Todsünden der Kleinbürger wurde somit am 7. Juni 1933 im Théâtre des Champs-Elysées in Paris uraufgeführt.
Heute Abend werden im gleichen Theater zusätzlich im ersten Teil Songs und Orchesterstücke von Weill, Charles Ives (1874-1954), Aaron Copland (1900-1990), Joseph Edgar Howard (1878-1961), Ida Emerson (1873-1945) und mit Texten der türkischen Dichterin und Menschenrechtlerin Asli Erdogan (*1967) interpretiert.
1. P R O G R A M M
Weill: YOUKALI aus MARIE-GALANTE (1934) von Jacques Deval (1895-1972) *** Ives: HYMN FOR STRINGS „Hymn: Largo cantabile”, S. 84/1 (1904) *** Copland: ZION’S WALLS aus OLD AMERICAN SONGS, N°2 (1952) Text von John G. McCurry (1821-1886) *** Copland: THRESHING MACHINES, N°5 aus MUSIC FOR MOVIES (1943) *** Weill: JE NE T’AIME PAS (1934) aus LES BELLES DE NUIT von Maurice Magre (1877-1941) *** Ives: THREE PLACES IN NEW ENGLAND (1911/14) 2. PUTNAM’S CAMP NEAR REDDING, CONNECTICUT *** Howard/Emerson: HELLO! MA BABY (1899) *** Copland: SIMPLE GIFTS aus APPALACHIAN SPRING (1944) *** Weill: NANNA’S LIED (1929) Text von Bertolt Brecht (1898-1956).
Ein schwerer Sündenfall des 20. Jahrhunderts…
Beide heißen Anna! Sie nennen sich Schwestern. Die eine singt, die andere tanzt. Eine denkt, die andere handelt! Sind sie eine Person oder zwei? Wir könnten nicht sagen, wer sich spaltet oder wer sich vermehrt, aber wir werden bald sehen, dass in dieser Geschichte nur die Sünden in ungerader Zahl vom Baum fallen… „Ich habe den Eindruck, dass sie glauben, dass Brecht meine Musik komponiert hat… Brecht ist ein Genie, aber in unseren gemeinsamen Werken bin ich der einzige, der für die Musik verantwortlich ist“, so sagte Weill während eines Interviews im Jahre 1934 etwas verärgert. Es ist wahr, dass die beiden Künstler gemeinsam ihren ersten Ruhm erlangten mit Werken, in denen Text und Musik gleichermaßen Skandal hervorriefen und dass aus zwei Genies ein dritter geboren wurde: Der den Namen „Brecht / Weill“ annahm.
Brecht war von Anfang an ein berühmter Dramatiker – er war erst 24 Jahre alt, als er den prestige-trächtigen Heinrich von Kleist (1777-1811)- Preis gewann, aber der Dichter war noch nicht vollständig zum Kommunismus konvertiert, als er den Komponisten kennen lernte: Der sein Komplize in allen literarischen Verbrechen werden sollte! Als Sohn eines Synagogen-Kantors, der von Ferruccio Busoni (1866-1924) im Kontrapunkt ausgebildet wurde, begann Weill das Potenzial atonaler Musik und Dissonanzen zu erforschen, die er energisch in die konventionellsten Formen gleitete und somit zum Beispiel Tango-Musik bis zur bösartigen Panik und äußerster Verwirrung wirbeln lässt, das Tempo des Foxtrotts störend, verzerrend, reformierend bis zum Gröbsten, ja man sagen bis zum Wildesten. Die Begegnung seiner expressionistischen Musik mit der linientreuen Sicherheit eines wütenden Anarchisten, der Brecht schon im Jahre 1927 war, würde mit Sicherheit zwei gefährliche Opern-Bomben hervorbringen: Die Dreigroschenoper (1928) und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930). Die Aktion des ersten könnte durchaus in London angesiedelt sein und die des zweiten in Alabama, aber wir sprechen tatsächlich von Deutschland, das sich in Richtung Faschismus bewegt und auch niemand lässt sich täuschen. Nach dem Brand des Reichstag in Berlin werden ihre Werke verboten und dann auch verbrannt, für den Juden Weill wie auch für den extrem-politischen Brecht wird der Preis des Erfolgs nun die Verbannung sein. Brecht verlässt Berlin für Paris, dann nach Prag, dann nach Wien, bevor er in der italienischen Schweiz anhält. Weill ist in Paris, als er 1933 einen Auftrag von den Ballets Russes erhielt… Oder besser gesagt von einer Sektion der Ballets Russes: Nach dem Tod von Sergei Pawlowitsch Djagilew (1872-1929) und ohne seine einigende Aura zerfiel die legendäre Truppe in zwei Einheiten – das Ballets Russes de Monte-Carlo und das Ballets 1933 in Paris. An der Spitze der Pariser Truppe steht Kochno, ehemaliger Sekretär von Djagilew und Librettist von Igor Strawinsky (1882-1971), mit der Idee eines Balletts zum Thema der sieben Todsünden. Geben wir zu, dass wir selbst in den 1930er Jahren in Europe nicht mehr kosmopolitische Energien finden können: Auf Wunsch russischer Emigranten stellen sich deutsche Exilanten für das Pariser Kulturleben einen ungeträumten Traum von Amerika vor und zwar von Louisiana bis Hollywood… Eine teuflische Flucht-Wanderung, die an Brechts eigenen Irrwegen auf den zu dieser Zeit unsicheren Strassen von Europas und vielleicht auch an einigen seiner Dilemmas erinnerte: Sich verkaufen oder sich nicht verkaufen, nachgeben aber nicht wütend werden… Was die Anwesenheit von zwei Schwestern in der Ballett-Handlung betrifft, sie wurde von einem Förderer des Projekts, dem britischen Dichter Edward James (1907-1984) auferlegt: Er wollte unbedingt seine Frau tanzen sehen, die österreichische Tänzerin Tilly Losch (1903-1975), in der er eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Frau und Muse von Weill, der österreichischen Sängerin Lotte Lenya (1898-1981) fand. Die im Juni 1933 im Théâtre des Champs-Elyées vollständig auf Deutsch aufgeführte Uraufführung beunruhigte und empörte das Pariser Publikum sehr, verzauberte aber die deutschsprachigen Emigranten…
Die faschistische Action Française…
Für Weill wird Paris nicht mehr lange eine Zufluchts-Stätte sein! Er wird von Reynaldo Hahn (1874-1947) verspottet, der in seinem Werk eine „Bordell-Musik“ (sic) sieht und wird von Florent Schmitt (1870-1958) beleidigt, der laut „Lang lebe Adolf Hitler (1889-1945)!“ am Ende eines seiner Konzerte schrie (sic)! Dann von einem Faschisten der ersten Stunde Lucien Rebatet (1903-1972), der in der Action Française sehr bedauert, dass wir immer mehr darauf stoßen „dass an vielen Kreuzungen und Plätzen am linken Seine-Ufer sich bestimmte krumme Haken-Nasen und extrem misstrauische Gesichter zu sehen sind, die frisch aus den intellektuellen Ghettos von Frankfurt am Main und Berlin geflohen sind“ und kommt zu dem Schluss, „dass es der außergewöhnlichen kreativen Armut unserer Zeit bedarf, um in der Lage zu sein, einen ganzen Aufruhr zu machen, entweder enthusiastisch oder verunglimpfend, um einen Komponisten wie Weill. Es erfordert das schrecklichste Vergessen jeglichen kritischen oder ethischen Sinns, um in einer negativen Formel eine Zukunft erahnen zu können, die schärfer vorangetrieben zum Zerfall der Musik-Kunst führen würde.“ (sic) !!!
Weill wanderte 1935 in die Vereinigten Staaten aus, wo er bald vom Broadway bis nach Los Angeles ein großer amerikanischer Komponist wurde und Deutschland für immer den Rücken kehrte. Das Amerika von Brecht wird hingegen viel härter für den kommunistischen Dichter werden! Er wird schnell die monströse Doppel-Natur des amerikanischen Film-Mekka Hollywood erkennen:
Das Dorf Hollywood ist entworfen nach den Vorstellungen
Die man hierorts vom Himmel hat. Hierorts
Hat man ausgerechnet, dass Gott
Himmel und Hölle benötigend, nicht zwei
Etablissements zu entwerfen brauchte, sondern
Nur ein einziges, nämlich den Himmel.
Dieser Dient für die Unbemittelten, Erfolglosen
Als Hölle.
(Brecht: Hollywood Elegies (1942/1947) Auszug)
Brecht wurde wegen seiner kommunistischen Sympathien auf die schwarze Liste gesetzt und musste 1947 Amerika verlassen. Er kehrte nach Deutschland – oder genauer gesagt nach Ost-Deutschland – zurück. Alles war gespalten, warum also nicht auch Deutschland! Als Brecht zurückkam: Wurden sie natürlich zwei Länder!
Und auch immer noch teuflisch aktuell..
In Die sieben Todsünden der Kleinbürger, macht sich Anna, ein junges Mädchen aus dem Süden der USA auf den Weg, um sich ihren amerikanischen Traum zu verwirklichen. Wird es ihr gelingen? Verdient sie genug Geld, um ein kleines Haus in Louisiana zu bauen? In jeder Phase in der sie mit der großen Gewalt eines totalitären, patriarchalischen Systems konfrontiert wird, opfert sie einen großen Teil ihrer Menschlichkeit auf dem Altar des Erfolgs! Die Reise ist ein Erfolg! Das Haus ist gebaut! Aber zu welchem Preis?
Fast neunzig Jahre später ist Brechts Libretto immer noch ein schrecklicher Aufschluss über die Mechanismen unserer heutigen Gesellschaft. Diese Realität ist die der kleinen faulen Einkäufe, der glanzlosen Kompromisse, die jeder sich selbst und dem anderen auferlegt: Um etwas zu erreichen! Den Rang derer zu erreichen, denen es gelungen ist, derer die sich am meisten an das System halten und respektvoll gegenüber diesem sind, was die Gemeinschaft als gut, moralisch und möglich beschreibt. In diesem Spiel gewinnen die meisten Heuchler, alle kleinen Schmutzigkeiten sind erlaubt, solange sie die kollektive Apathie in keiner Weise behindern. Die sieben Todsünden werden somit von der Moral der Massen abgelenkt! Der Lust zu entgehen bedeutet, lieber mit der Person zu schlafen, die man liebt und das zum Nachteil der gut zahlenden Kunden. Aus Stolz zu sündigen bedeutet, Kunst machen zu wollen, wenn die Leute Sex haben wollen. Aus Zorn zu sündigen bedeutet über Ungerechtigkeiten empört zu sein!
Schockiert! Warum! Wer findet dort nicht einen Teil seiner persönlichen Geschichte wieder? Wir sind gegen globale Klima-Erwärmung, kaufen aber ein Flugticket für 30 Euros, um ein Wochenende auf Mallorca zu entspannen. Wir sind für die Gleichstellung von Frauen und Männern, aber wir erlauben uns sexistische Witze zum Spaß mit unseren Freunden zu haben. Wir sind gegen die Armut, aber wir schauen weg von dem Obdachlosen, der in der U-Bahn um Brot bettelt… Bei Brecht kaufen kleine Leute mit kleiner Feigheit und mit kleinen Kompromissen alles klein ein. Es ist leider nur das System, das der Vernichtung der Armut entgegentreibt! Auch heute noch gibt es ganz in unserer Nähe Orte: An denen das Erheben einer Stimme zum Protest schwerwiegende Folgen haben kann!
Die türkische Schriftstellerin Erdogan musste dies bitter erleben. Die Journalistin und Menschen-Rechts-Aktivistin wurde 2016 für vier Monate inhaftiert, weil sie das Regime ihres brutalem Namensvetters stark kritisiert hatte. Seitdem lebt sie im deutschen Exil. Erdogans Schriften – manchmal poetisch, manchmal engagiert – stimmen mit dem Libretto von Die sieben Todsünden überein: Wie in einem doppelten Spiegelbild! Als Ausdruck eines Wiederstands-Geistes und den daraus resultierenden Konsequenzen: Einsamkeit, Exil und Nostalgie unterstreichen somit die erschreckende Aktualität von Brechts Text! Andere musikalische Werke, die mit Die sieben Todsünden verbunden sind – Lieder von Weill, Old American Songs von Copland, die um-komponierte Präsidenten-Hymne von Ives – vervollständigen dieses Fresko: Das Bilder der Vergangenheit und Gegenwart vermischt.
Das Werk ist eine unversöhnliche Anklage gegen eine im Niedergang begriffene Gesellschaft und ist in sieben Sequenzen wie die Sünden unterteilt: In denen Walzer, Foxtrott, Marsch, Tarantella und ein Männer-Gesangs-Quartett zusammen kommen. Die Parabel einer gesellschaftlichen Dualität mit Autoritarismus und Anarchie wird durch die zwei weibliche Figuren Anna I und ihr Tanz-Double Anna II verkörpert. Zwischen halb gesprochenem Geplänkel, halb gesungenem Gesang und einem Chor in reinster lutherischer Choral-Tradition erkundet Weill das gesamte Spektrum eines Musikstücks in ständiger Instabilität wie die Gesellschaft selbst: Die es darstellt und versinnlicht! Dann beginnt ein schiefer zynischer Ball aus kleinlicher Feigheit, unappetitlichen Kompromissen und zweifelhaften Vereinbarungen. Wird die Herrschaft der Heuchelei über die kollektive Apathie siegen?
DIE SIEBEN TODSÜNDEN - Konzert - Théâtre des Champs-Elysées Paris - 10. Januar 2024
Ein abschreckender kalter Zynismus…
Das Théâtre des Champs-Elysées bot uns einen originellen und gelungenen Abend rund um das Werk von Weill: Die sieben Todsünden, das 1933 vor Ort entstand und den kritischen brutalen Elan der Texte von Brecht beibehielt. Im ersten Teil komplettierte eine abwechslungsreiche Auswahl an Werken aus verschiedenen Epochen die tief-beißende Cabarett-Show serviert von den großen Talenten der französischen Schauspielerin und Sängerin Judith Chemla und der Mezzo-Sopranisten Marina Viotti aus der französischen Schweiz.
Eine komplette Show im Kabarett-Stil…
Die sieben Todsünden wurden am 7. Juni 1933 im Théâtre des Champs-Elysées uraufgeführt und ist im Prinzip ein gesungenes Ballett für fünf Stimmen: Eine Sopranistin und vier Männerstimmen, ein Tenor, zwei Baritone und ein Bass. Durch die Gestaltung einer kompletten Show in einer Kabarett-Atmosphäre - die Weill sehr am Herzen lag - gelingt es der Gemeinschafts-Produktion in Paris und Genf den Zuschauer mit einem so kann man wohl sagen: Schachbrett aus kleinen Miniatur-Bildern zu fesseln! Darunter natürlich Songs von Weill, poetische und politische Texte von Erdogan und kurze Instrumental-Stücke von Ives, Copland, Howard, usw. Dieses geschickt zusammengestellte Patchwork ergibt eine sehr interessante künstlerische Vision, die sich aus einem Hin und Her zwischen dem Beginn des vorigen Jahrhunderts und diesem zusammensetzt und sich mit dem Thema Dekadenz, Korruption und dem Schicksal der Frauen in einer kapitalistischen und patriarchalischen Gesellschaft beschäftigte. So werden abwechselnd verschiedene Aspekte des Lebens in amerikanischen Städten und Regionen, die Schmerzen enttäuschter Liebe und die Gewalt in Beziehungen zwischen Männern und Frauen thematisiert. Der erste Teil heißt auch Anna, benannt nach der Doppel-Heldin aus Die sieben Todsünden und des zweiten Teils.
Youkali und andere kleine Wunder…
Chemla, Theater- und Filmschauspielerin, Autorin und überaus talentierte Gelegenheits-Sängerin, eröffnet den Ball mit dem bewegenden Youkali von Weill. Sie singt es schmachtend im Torch-Singer-Stil der 30er und 40er Jahre, diese vom Leben verbrannten Sängerinnen, die ihren Schmerz auf der Bühne mit Musik austreiben wollen. Es ist ein Lied aus Devals Stück Marie-Galante, das er 1934 vertonte, als er gerade aus Nazi-Deutschland geflohen war und vorübergehend in Paris Zuflucht gesucht hatte, bevor auch Frankreich wiederum von einer Welle des Antisemitismus überschwemmt wurde. „Youkali, es ist das Land unserer Wünsche“ klingt dann wie der herzzerreißende Abschied der Exilanten, der Emigranten der 1930er Jahre, eine Art trauriger und melancholischer Tango. Chemla ist in der Mitte des Orchestre de Chambre de Genève installiert und liefert uns eine zarte aber vor Nostalgie triefende Interpretation mit einer überaus leisen Stimme, aber perfekt an den Stil des Liedes angepasst. Gleichzeitig spiegelt sich ihr Bild wiederum hinter einem sehr dünnen Vorhang, unregelmäßig zerkleinert mit dunklen Dominanten wider. Diese gedämpften, verträumten und frech wirkenden Atmosphären eines Kabarett-Abends im öden und verlassenen Berlin im Jahre 1933: Das seine besten Künstler verjagte! Und wir werden sie wieder bei Weill finden in dem paradoxen Lied Je ne t’aime pas, dass sie mit ihrem Talent als Schauspielerin mehr spricht als singt, um mit dem nostalgischen: „Nein! Halt lieber die Klappe… Ich bin auf den Knien… Das Feuer ist aus, die Tür ist geschlossen… Frag nichts, ich werde weinen… Das ist alles! Ich liebe dich nicht mehr, oh mein Geliebter!“
Das erste reine Orchester-Stück ist Hymn for strings, es erinnert uns daran, dass der amerikanische Komponist Ives in seiner frühesten Jugend von der Fanfare seines Vaters eingelullt wurde: Somit war er an etwas donnernder und äußerer Musik sehr fasziniert! Es genügt zu sagen, dass die betreffende Hymne trotz ihres Titels den Blechbläsern den Vorrang einräumt und der Szene ein jazzigeres Aussehen verleiht, immer noch im Hell-Dunkel-Licht: Aber ohne die obskure Verschleierung! Das Orchestre de Chambre de Genève wird uns auch den zweiten Satz seiner Three Places in New England präsentieren, das Allegro mit dem Titel Putnam’s Camp, Redding, Connecticut ist ein hinreißendes Werk mit aus aneinandergereihten Themen im schnellen Rhythmus. Das uns auch sehr an beliebte aber auch unschöne patriotische Songs erinnert, sowie auch an den nationalen Über-Eifer einer amerikanischen Gesellschaft in der sogenannten Pionier-Zeit. Der in einem modernen Stil gespielte Standort: New England (sic), ist wohl auch der Platz wo sich das Orchester endlich vollkommen wohlfühlt und uns mit einem fast poppigen musikalischen Klang verheizen will. Von Copland erhalten wir den interessanten und spannenden fünften Satz Threshing Machines aus seiner Music for Movies, die 1943 komponiert und Darius Milhaud (1892-1974) gewidmet wurde.
Eine reine Orchester-Version des Songs Hello! Ma Baby der Komponisten Howard und Emerson aus dem Jahr 1899 schildert die romantischen aber problematischen Beziehungen eines Mannes zu einer Frau: Die er nur durch das neu erfundene Telefon kannte… Hello! Ma Baby!
Hommage an Asli Erdogan…
Und das ist zweifellos eine wirkliche Entdeckung für viele Zuschauer, denn im Programm dieses ersten Teils hat die türkische Schriftstellerin Erdogan wirklich einen gebührenden Platz erhalten um ihre Stimme zu erheben. Die wegen ihrer sogenannten militanten Aktivitäten für Menschenrechte einige Monate im Gefängnis in ihrem eigenen Landes verbrachte. Und die auch ständig die große Unterdrückung der Frauen anprangert! Nachdem sie wegen ihrer Kritik an der diktatorischen Politik der türkischen Regierung wegen Terrorismus angeklagt worden war, verdankte sie ihre Freilassung nur der internationalen Solidarität, die ihr zugutekam und die es ihr ermöglichte nach Deutschland ins Exil zu gehen. Sie war beim Salutieren anwesend und erhielt sehr großen Applaus. Die ausgezeichnete Chemla las mehrere sehr relevante und auch teilweise unverschämte Auszüge aus ihrem Roman Requiem für eine verlorene Stadt (2020): „Die Stille selbst gehört nicht mehr dir“ und „Der wunderbare Mandarin“. Als engagierte Feministin prangert Erdogan unermüdlich diese von Männern dominierte und auch für sie alleine geschaffene Gesellschaft an!
Viotti tritt in diesem ersten Teil nur einmal auf und spielt und singt mit viel Leidenschaft und Kraft Zion’s Wall von Copland aus der 1952 komponierten Sammlung Old American Songs II. Ihre kraftvolle runde und warme Stimme bestätigt das Talent und die unvergleichliche Bühnenpräsenz der Mezzo-Sopranisten. Hervorzuheben ist neben der hervorragenden Aussprache auch, dass sich die beiden Künstlerinnen im Französischen genau so gut auskennen wie im Englischen und auch im… Deutschen, wie das Folgende wohl beweisen wird:
Und die sieben Todsünden…
Der zweite teil akzentuiert die von dem französischen Regisseur Laurent Delvert, dem künstlerischen Mitarbeiter der Sünden-Tour, entworfene räumliche Anordnung weiter. Eine Plattform unterhalb der Bühne ermöglicht größere Bewegungen der sechs Künstler, die im Sketch-Stil die kleinen Texte des Prologs, der sieben Todsünden und des Epilogs aufführen werden, um dem Ganzen eine Erleichterung und mehr Leben zu verleihen: Obwohl das Ballett im Original grundsätzlich getanzt wurde von einer der beiden Anna‘s.
Die beiden Schwestern, die im von Weill und Brecht geschaffene Universum eins sind, werden daher von Chemla und Viotti interpretiert, die ihre Interventionen abwechseln, wobei die erste die meisten Bewegungen einschließlich die Tanz-Skizzen liefert und die zweite den musikalischen Teil singt mit ihrem vollmundigen Timbre. Das Duo der beiden Künstlerinnen ist fesselnd und fängt den Kontrast zwischen den beiden „Schwestern“ äußerst gut ein, der einen: Die alles wagt und der anderen: Die versucht sie zurückzuhalten: Um sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen!
Von Bühne zu Bühne, von Stadt zu Stadt, von Jahr zu Jahr entfaltet sich ihre Reise, während im lutherischen Kontrapunkt die vier Jungen, die die Familie repräsentieren treten im allgemeinen gemeinsam im Hintergrund auf. Dann aber auch am Giebel ausgerichtet oder im Gleichschritt bewegend in einer sehr gelungenen Choreografie für diese höchst parodistische Behandlung der Familie. Auf der Gesangs-Seite sind ihre Ensembles perfekt eingestimmt und ihre Darbietungen sind energisch und kraftvoll. Wir werden die wunderschöne Bass-Stimme des Franzosen Jerome Varnier, der die Mutter der Anna singt und das leuchtende leicht trompetende Timbre des französischen Tenors Yoan Le Lann, der den ersten Bruder singt, hervorheben. Aber auch die beiden anderen französischen Baritone Alban Legos als Vater und Victor Sicard als zweiter Bruder kommen nicht zu kurz bei uns!
Das Orchestre de Chambre de Genève unter der energischen und effizienten Leitung des schweizerische Dirigenten Marc Leroy-Catalayud, der auch für die musikalische Konzeption des Ensembles verantwortlich ist, begleitet dieses Werk: Eine nicht sehr schöne aber doch messerscharfe Kapitalismus- und Religions-Kritik, die mit einer rasanten Verve das ganze großartig bereichert von Weills außerordentlichen reichhaltigen Partitur. (PMP/14.01.2024)