Ostrava, MÄHRISCH-SCHLESISCHES NATIONAL-THEATER, ZYKLUS - MUSICA NON GRATA - TEREZIN OPERN, IOCO Kritik, 05.03.2023
ZYKLUS - MUSICA NON GRATA - TEREZIN OPERN
von Peter Michael Peters
- - Der zerbrochene Krug, Op. 36 (1942)- Victor Ullmann
- - nach dem gleichnamigen Lustspiel von Heinrich von Kleist.
- - Der Kaiser von Atlantis oder die Tod-Verweigerung, Op. 49 (1943) - Victor Ullmann
- - Libretto von Franz Peter Kien
DIE MASKE DER BARBAREI…
Der Mond geht auf den Firsten mit seinem Stelzenbein,die Knaben dürsten nach Liebe, nach Wein.Die hat er mitgenommen,sie werden nicht mehr wiederkommen,nicht mehr wiederkommen.Was wollen wir nun trinken?Blut wollen wir nun trinken.Was wollen wir nun küssen?Des Teufels Hintern.(Nr. II Lied des Harlekin / Der Kaiser von Atlantis / Auszug)
Die Welt wird auf den Kopf gestellt…
Manche Werke lassen sich nicht von den besonderen Umständen ihrer Entstehung trennen, in Bezug auf Der Kaiser von Atlantis, sind diese Umstände in doppelter Hinsicht auch durch die fragwürdigen und unmenschlichen Konditionen dieser besonderen Schöpfung hinter Stacheldraht. Obwohl sich das Werk ohne weiteres auf seine eigenen zeitlosen Kräfte verlassen kann, muss es jedoch auf jeden Fall mit der Berücksichtigung seines tristen Kontextes betrachtet werden.
Wenn wir die Reihe von Romanen, Gedichten, Opern und Zeugnissen kennen, die in Gefangenschaft entstanden sind, ist es aber wichtig sich daran zu erinnern, dass Fiktion und Inszenierung ein wesentlicher Bestandteil des überaus grauenerregenden Projekts waren, das von November 1941 bis April 1945 in Theresienstadt stattfand. In der 80 km nordöstlich von Prag gelegenen ehemaligen Festungsstadt errichteten die Nationalsozialisten ein sogenanntes „Modell-Ghetto“, ein Fassaden-Ghetto, das das wahre Schicksal jüdischer Deportierter verbergen sollte. Ein großer Teil der Lagerbevölkerung bestand aus den damaligen sogenannten Prominenten – Juden aus Böhmen-Mähren, Deutschland und Österreich, die prominenten Persönlichkeiten waren: Dekorierte Veteranen des Ersten Weltkrieges, hohe Beamte, Ärzte, Gelehrte, Politiker des vorhitlerischen Deutschlands, Intellektuelle und Künstler – alles Persönlichkeiten, die man nur schwer loswerden konnte, ohne unbequeme Fragen aufzuwerfen.
Von der NS-Propaganda als Paradies für die Juden dargestellt, war die Stadt in Wirklichkeit ein Durchgangspunkt zu den Vernichtungslagern in Polen. Ihre oft sehr alten Bewohner lebten dort oder versuchten dort unter den heute leider bekannten entsetzlichen Bedingungen zu überleben. Claude Lanzmann (1925-2018) betonte: „Theresienstadt musste und wurde der internationalen Öffentlichkeit als Musterlager gezeigt“. Die gewaltige Macht der NS-Propaganda und die unverständliche Blindheit der Außenwelt können wir in einem Dokumentarfilm von Lanzmann Un vivant qui passe (1997) mit einem Interview des Schweizer Mediziners Maurice Rossel (1916-1997) besser verstehen, der im Juni 1944 an der Spitze einer Delegation des Internationalen Roten Kreuz das Lager besuchte und der danach eine positive Meinung veröffentlichte. In einem 1979 geführten Interview drückte er seinen Standpunkt folgendermaßen aus: „Ich glaubte und glaube immer noch, dass mir ein Lager für privilegierte jüdische Honoratioren gezeigt wurde (…) Das Verhalten der Menschen war außerdem so, dass die Haltung der Israeliten in dieser Stadt sehr unsympathisch war. Ich hatte den Eindruck, dass es echte Israeliten gab – und das glaube ich noch immer -, die mit Dollar und Dollarzahlungen in Portugal ihre Situation arrangierten und sich aushalten ließen.“
Von da an verstehen wir besser, wie die gefangenen Künstler von Theresienstadt dieser makabren Farce mit allen Mitteln ihrer Kunst entgegentraten. Eine Fiktion gegen eine andere Fiktion: Die Waffe des Unterdrückers und die Waffe des Unterdrückten, der seine Rechte zurückfordert um seinerseits sowohl ein Mittel des Kampfes als auch ein Werkzeug der späteren Zeugenaussagen zu werden.
Ein weiteres Zeugnis für die Bedingungen der Komposition der Oper in Theresienstadt, man nutzt das heterogene Orchester und die im Lager vorhandenen Instrumente: Cembalo und Klavier, aber auch Banjo, Saxophone, Gitarre… Ein ehemaliger Schüler von Arnold Schönberg (1874-1951), der junge Komponist Victor Ullmann (1898-1944), fügte verzerrte, zerlegte und erneute zusammengesetzte Zitate in die Partitur ein: Das Thema des Todesengel aus der Symphonie Nr. 2 „Azrael“ in c-Moll, Op. 27 (1907) des tschechischen Komponisten Josef Suk (1874-1935). Die im Sommer 1944 von den Häftlingen einstudierte Oper wird aber ohne große Überraschung von der Aufführung ausgeschlossen!
Fast 144 000 Menschen wurden nach Theresienstadt deportiert. Ein Viertel von ihnen starb an Hunger oder Krankheiten, 88 000 einschließlich Ullmann und der blutjunge Maler und Dichter Franz Peter Kien (1919-1944) wurden in die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort getötet. Aber das Manuskript von Der Kaiser von Atlantis wurde von Ullmann einem Mithäftling anvertraut, einem ehemaligen Doktor der Philosophie, der zum Lagerbibliothekar geworden ist, der es seinerseits an einen anderen überlebenden weitergeben wird, der für seine Kontinuität sorgen wird. Bewahrt, verändert und sorgfältig rekonstruiert, wurde die Oper schließlich im Jahre 1975 in Amsterdam uraufgeführt. Seitdem hat sie die Bühnen der Welt nicht mehr verlassen und wurde sogar 1995 in Theresienstadt (das wieder Terezin geworden ist) aufgeführt, 55 Jahre nach ihrer Komposition. Man sollte glauben, dass es Werke gibt, vor denen sogar selbst der Tod abdankt…!
Musik trotz Horror…
Trotz der unvorstellbaren menschlichen Grausamkeiten erinnert uns Ullmann, dass Kunst überall überlebt, sogar innerhalb eines Konzentrationslagers: „An den Ufern Babylons trauerten wir keineswegs unserem eigenen Schicksal nach. Unsere Verbundenheit zur Kunst war so stark wie unserer Überlebenswille.“ Victor Ullmann (Notiz gefunden unter seinen persönlichen Notizen im Konzentrationslager Theresienstadt!)
Zum Gedenken an den menschlichen und musikalischen Holocaust hat das Mährisch-Schlesische National Theater Ostrava im Rahmen ihres TEREZIN OPERN ZYKLUS in Zusammenarbeit mit dem tschechisch-deutschen ZYKLUS MUSICA NON GRATA unter anderem eine Hommage an das Leben und die Musik des österreichisch-ungarischen Komponisten Ullmann veranstaltet. Wie bei vielen anderen Komponisten der damaligen Zeit verschwand eine grosse Anzahl der Werke von Ullmann, die vor und während des Zweiten Weltkrieges komponiert wurden. Der ZYKLUS MUSICA NON GRATA ist vom Tschechischen Kulturministerium und der Deutschen Botschaft in Prag ins Leben gerufen worden, um eine Hommage an die sogenannte „Entartete Musik“ zu präsentieren. Also lassen sie uns die Erinnerung in einem positiven Sinne feiern mit den musikalischen Werken, Kulturen, Identitäten und den vielen unschuldigen Menschenleben, die während dieser verheerenden und grausamen Periode in der Geschichte der Menschheit verloren gingen.
Ullmann wurde im Januar 1898 in Tesin geboren, damals gehörte diese Stadt zu einer Region der österreichisch-ungarischen Monarchie, die heute geteilt zwischen Polen und der Tschechischen Republik liegt. Seine beiden Eltern waren jüdischer Abstammung, konvertierten aber vor Ullmanns Geburt zum Katholizismus. Kurz darauf zogen sie nach Wien, wo sich das grosse Talent ihres Sohns schnell manifestierte.
In Wien lernte Ullmann bei Schönberg dessen innovativen dodekaphonischen Techniken und die auch seine späteren Werke stark beeinflussten. Ullmann brach sein Studium vorübergehend ab, um sich während des Ersten Weltkriegs an die italienische Front zu melden. Im Jahre 1919 zog er nach Prag, um Dirigent am Neuen Deutschen Theater (heute Staatsoper Prag!) zu werden. Dort blieb er 8 Jahre, bevor er 1927 eine neue Stelle als Dirigent am Opernhaus Zürich antrat.
Aber Mitte 1933 musste er Aufgrund der Veröffentlichungen antijüdischer Gesetze die Stadt verlassen. Inzwischen wird jedoch vermutet, dass die wahren Gründe für den Weggang nicht seine jüdischen Herkunft war, sondern das es an den sehr hohen Schulden lag, die er in Zürich angehäuft hatte. Zurück in Prag arbeitete er als Musiklehrer, Journalist und Kritik, bevor er am Prager Konservatorium studierte. In dieser Phase seines Lebens begann sein Musikstil persönlicher zu werden und um auch deutlich die Methoden von Schönberg abzustreifen, wie seine Sonate für Klavier Nr. 1, Op. 10 (1936) belegt.
In dieser Zeit entwickelte er ein besonderes Interesse an Ethik und menschlicher Spiritualität. Er schloss sich 1933 der Freimaurer-Bewegung an und manifestierte ein sehr großes intensives Suchen zu der Thematik Gut und Böse in einer Oper mit dem Titel: Der Sturz des Antichrist (1935). Zwei Jahre später zwangen ihn seine existenziellen und familiären Schwierigkeiten zu einem zeitweiligen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Inzwischen hatten sich aber auch die politischen Umstände sehr verschlechtert. Im Jahre 1938 kam Tschechien unter deutscher Okkupation-Macht: Die Nürnberger Rassen-Gesetze, die seit 1935 Juden diskriminierten, galten nun auch auf tschechischem Boden. Zunächst komponierte Ullmann weiter, insbesondere seine Slawische Rhapsodie für Saxophone und Klavier, Op. 23 (1940) und seine Oper Der zerbrochene Krug, Op. 36 nach dem gleichnamigen Lustspiel (1806) von Heinrich von Kleist (1777-1811). Aber Aufgrund des äußerst angespannten politischen Klimas wurden jedoch nur wenige seiner Kompositionen aufgeführt.
Gerechtigkeit und Nürnberger Gesetze…?
Die komödiantische Oper Der zerbrochene Krug war Ullmanns letzte Komposition, bevor er nach Theresienstadt deportiert wurde. Das 40-minütige Werk ist eine scheinbar einfache Geschichte, das Standard-Liebesdreieck der Commedia Dell‘ arte. Die Oper von Ullmann kann jedoch auf wörtlicher, sexueller und politischer Ebene gelesen werden. Es ist eine Farce mit einer Botschaft, in gewisser Weise nicht anders als in dem Werk von Dario Fo (1926-2016). Die Geschichte spielt in einem Dorf in den Vereinigten Provinzen der Niederlande zur Zeit des Achtzigjährigen Krieges. Der Dorfrichter wacht auf, offensichtlich verprügelt und stellt fest, dass ihm eine Inspektion durch den Distrikt-Richter bevorsteht. Der Fall betrifft einen wertvollen Krug, der nach Angaben einer Bäuerin von dem Verlobten ihrer Tochter zerbrochen wurde. Der Verlobte aber behauptet, er habe einen anderen Mann bei ihr gefunden und diesen mit einer Türklinke stark geschlagen und dass dieser auf der Flucht den Krug zerbrochen habe. Alle Beweise stützen die Geschichte des jungen Mannes und es ist ziemlich offensichtlich, wer der andere Mann war. Trotzdem stellt der Amtsrichter mit der Unterstützung des Bezirksrichter gegen den jungen Mann eine Klage ein. Die Würde der Justiz ist wichtiger als die Gerechtigkeit! Das Stück endet mit einem ironischen Chor-Refrain: „…lasst Gerechtigkeit sein!“ Aber es gab keine! Besonders für Ullmann gab es keine! Kurz nachdem er die Komödie Der zerbrochene Krug schrieb, wurde er im Konzentrationslager Theresienstadt inhaftiert, wo er seine letzte Oper Der Kaiser von Atlantis komponierte.
Die Musik ist überaus interessant! Ullmann strebte nach einem modernen Idiom, das den Formalismus des Serialismus ablehnte. Was wir bekommen, ist eine Mischung aus sehr üppiger Romantik, einigen Jazz-Elementen, vorsichtigen Experimenten mit der Atonalität und stacheligen Rhythmen à la Kurt Weill (1900-1950). Es ist definitiv individuell und sehr hörenswert.
Ullmann verbrachte immer mehr Zeit damit, die wichtigen Visa für seine Familie zu bekommen, anstatt an seinen Kompositionen au arbeiten und scheiterte trotz vieler verzweifelter Bemühungen daran. Er ließ sich von seiner Frau scheiden und seine beiden ältesten Kinder verließen dank des British Committee for the Children of Prague das Land für Großbritannien.
Nachdem er unverheiratet und staatenlos ist, wird Ullmann zunehmend verletzlicher und anfälliger für eventuelle Deportationen. Im Jahre 1941 erhielt er einen Ausreisebefehl für das Ghetto Lodz in Polen, konnte aber sehr schnell wieder heiraten und somit in Prag bleiben. Ein Jahr später, diesmal aber ohne Fluchtmöglichkeiten, wurden er und seine Frau in das Konzentrations- und Durchgangslager Theresienstadt nördlich von Prag deportiert.
Eine maskierte Hölle auf Erden…
Überfüllung, Unterernährung und Krankheit waren an der Tagesordnung! Für viele alte Juden war dieser Ort der Platz ihres Grabes! Kinder und Erwachsene hingegen verbrachten auch nur wenige Zeit in Theresienstadt, bevor sie in andere Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden.
Theresienstadt hielt eine sehr große Anzahl von jungen Musikern sowie Intellektuellen inhaftiert. Dass es innerhalb des Lagers eine Form von kulturellen Leben gab, steht außer Frage, denn die NS-Zensur sowie die Religionsverbote waren nicht rigoros angewandt. Ullmann fungierte nicht nur als offizieller Musikkritiker des Lagers, sondern komponierte auch mehr als zwanzig Werke in Theresienstadt, darunter Der Kaiser von Atlantis.
Das Libretto zu diesem Operneinakter stammt von Ullmanns Mithäftling Kien. Mit dem Tod im Vordergrund zeigt diese Oper mit dunklem, nachdrücklichem Humor und einem kabarettartigen musikalischen Thema die Uneinigkeit und den Zwiespalt zwischen dem Kaiser der Welt (der Kaiser von Atlantis) und dem personifizierten Tod. Wenn der Kaiser der Welt den totalen Krieg erklärt, erwartet er, dass der Tod sein Komplize ist! Aber der Tod selbst ist entsetzt und weigert sich jemanden zu töten! Wenn alle sterben, was würde ihm nach dem Krieg noch übrig bleiben? Der Tod ist im Streik! Chaos bricht herein: Die Verwundeten und die Männer mit einer tödlichen Krankheit sehen kein Ende ihres Leidens. Dann revoltieren sie alle gegen den Kaiser! Nach langen Verhandlungen willigt der Tod ein, den Dienst wieder aufzunehmen, aber nur unter einer Bedingung: Das er als erste Person den Kaiser mitnimmt!
Diese lebhafte faszinierende Oper mit großem irrsinnigem schwarzem Humor unterstreicht dennoch Ullmanns phänomenale Fähigkeiten, in diesen äußerst schwierigen und hoffnungslosen Zeiten zu komponieren. Die Proben begannen im Frühjahr 1944, aber das Werk wurde nie im Lager vollständig aufgeführt. Zweifellos hielten die Nazi-Offiziere die Figur des Kaisers für eine unpassende satirische Darstellung: Die Adolf Hitler (1889-1945) zu ähnlich waren!
Victor Ullmann wurde im Oktober 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er kurz nach seiner Ankunft in einer Gaskammer ermordet wurde. Sein Freund Franz Peter Kien wurde im selben Monat nach Auschwitz deportiert, wo er kurz nach seiner Ankunft an einer Krankheit verstarb.
Zusammen mit anderen talentierten Musikern, die in Theresienstadt interniert waren, wie z.B. Karel Ancerl (1908-1973), Rafael Schächter (1905-1944), Rudolf Karel (1880-1945), Hans Krasa (1899-1944), Pavel Haas (1899-1944) und Gideon Klein (1919-1945), war Ullmann immer fest entschlossen, seine Liebe zur Musik nicht aufzugeben. Wenn wir über die Grausamkeiten nachdenken, die diese Menschen und Millionen andere erlitten haben, ist es unsere Pflicht ihre Fähigkeiten zu bewundern, ihren Leidenschaften nachzugehen selbst unter den unmenschlichsten Bedingungen!
Aufführung - 23. Februar 2023 - Mährisch-Schlesisches National Theater, Ostrava
Ein Werk mit großer symbolischer Bedeutungs-Kraft…
Das Werk erzählt die Geschichte des paranoiden totalitären Kaiser Overall, der den totalen Krieg mit solcher Leidenschaft führt, dass der Tod selbst gegen ihn Stellung bezieht. Da das Volk die massive und stille Akzeptanz verweigert, verliert das auf Ungerechtigkeit basierende imperiale System seine Macht, da der Tod von seinem Amt zurücktritt. Diese Form der Todes-Immunität muss in Theresienstadt, wo fast 140 000 Menschen starben, grausam sarkastisch geklungen haben.
Konfrontiert mit einem „mechanisierten“ Tod im industriellen Maßstab, dem Der Kaiser von Atlantis vorsteht. Harlekin: „das Leben, das nicht mehr lachen kann“ und der Tod: „der nicht mehr weinen kann“; werden auf die Beobachtung einer Welt reduziert, „die nicht mehr weiß, wie man das Leben genießt und wie man den Tod stirbt“. Als der Kaiser Overall einen Krieg „alle gegen alle“ erklärt, fühlt sich der Tod aller Würde beraubt und weigert sich, dem Kaiser länger zu dienen! Wenn der Tod seinen Schrecken verliert, verliert alles seinen Sinn: Welche Macht hat ein mörderischer Despot, wenn in seinem Reich niemand mehr sterben kann? Die Hinrichtungen können nicht stattfinden, die Soldaten erweisen sich als unfähig, sich gegenseitig zu töten: Bald wird das ganze Reich von erbitterten Protesten der „Untoten“ gegen die ihnen auferlegte Unsterblichkeit. Der Tod bietet dann an, seinen Streik zu beenden, wenn der Kaiser zustimmt, sich „als erster Mann zu opfern, der diesen neuen Tod erleidet“. Vom Kaiser, der sich schließlich bereit erklärt, dem Tod zu folgen, kommt dann die endgültige Erlösung!
Ein Mahnmal für Mut und Willen…
Man ist versucht das Werk: Der Kaiser von Atlantis, als eine seltene Oper zu sehen, die bekanntlich in den Entbehrungen und Schrecken eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers komponiert wurde und auch angesichts von Unterdrückung und Vernichtung in den Rang eines großen einmaligen Mahnmals zu erheben: Ein leuchtendes Beispiel für Mut und Schaffenswillen trotz erschreckender Umstände! Aber wenn es aufgrund dieses ganz besonderen Platzes im lyrischen Repertoire Anerkennung verdient, sollten auch seine Besonderheit und sein künstlerischer Eigenwert nicht übersehen werden. Sein dramatisches und musikalisches Interesse übersteigt in der Tat die Bedingungen seiner Entstehung.
Ullmann und Kien konnten in die Welt der Kunst dass transponieren, was ihnen im realen Leben verwehrt geblieben war, ihr künstlerischer Ausdruck war ein außerordentliches Mittel des Widerstands und auch zur Bekräftigung ihrer Menschenwürde und ihres Lebenswillen. Damit demonstrierten sie ihre Zugehörigkeit zu der zentral-europäischen Kulturtradition, von der sie so brutal durch die Nazis entrissen worden waren: Ullmann bezieht sich in diesem nur einstündigen Werk nicht nur auf die Einflüsse seiner Zeitgenossen, von Schönberg bis zu den Modetänzen jener 20er und 30er Jahre, aber auch an kryptische Musikzitate wie der protestantische Choral von Johann Sebastian Bach (1685-1750): Ein‘ feste Burg ist unser Gott, BWV 80 (1529) mit einem Text von Martin Luther (1483-1546) oder sogar auch die Deutsche National-Hymne: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt…“ nach einem Gedicht (nur die dritte Strophe / 1841) von August Heinrich von Fallersleben (1798-1874) und der Musik (1796/97) von Joseph Haydn (1732-1809). Diesen populären Themen stehen atonale Passagen und Reminiszenzen von Gustav Mahler (1860-1911) gegenüber.
Die tschechischen Dirigenten Jakub Klecker und Maros Potokar und Mitglieder des Orchester und Chor der Mährisch-Schlesischen Oper Ostrava bieten eine klare Lektüre und verleihen einem fragmentarischen Werk, das keine endgültige Version kennt, Leben und Tiefe. Das Streben nach Macht und der Missbrauch gesellschaftlicher Systeme ist das gemeinsame Thema beider Opern. Während Der zerbrochene Krug ein Beispiel für korrupte, dekadente Justiz ist, das groteske im Der Kaiser von Atlantis handelt vom Missbrauch politischer Machtverhältnisse, die zu absurden und gefährlichen Kriegen führen können.
Ein weiteres verbindendes Element ist die verschobene tschechische Erstaufführung der beiden Opern, die lange nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1990er Jahren stattfand. Überraschenderweise hat sich Der Kaiser von Atlantis seit seiner Premiere 1975 in Amsterdam zu einer der meistgespielten tschechischen Opern der Welt entwickelt. Der zerbrochene Krug wurde 1996 in Dresden uraufgeführt und wird im MSNT seine tschechische Erstaufführung erleben.
Im Gegensatz zu den vorherigen Produktionen, ob in Tschechien oder im Ausland, werden beide Werke neu im Programm des MSNT im Rahmen ihres Terezin Opern Zyklus in der tschechischen Übersetzung von dem tschechischen Librettisten Jaromir Nohavica aufgeführt.
Die beiden Einakter wurden vom slowenischen Regisseur und Bühnenbildner Rocc inszeniert und gestaltet. Die Kulissen beider Opern sind meist sparsam und schlicht gehalten und werden durch markante Elemente oder Video-Projektionen ergänzt, die die Handlungsstränge angemessen unterstreichen. Trotz des schwierigen Themas und Schicksals glaubte der Komponist an die Hoffnung, an die Menschlichkeit! Beide Opern sind somit nicht nur ein Spiegel der menschlichen Gesellschaft, sondern geben auch Hoffnung auf eine bessere und strahlendere Zukunft. Unsere Frage: War diese humanistische aufopfernde Geste der Hoffnung von Ullmann berechtigt? Hat sich die Menschheit wirklich geändert? Nach letzten Nachrichten aus der Ukraine scheint ein neuer Kaiser Overall in der Inkarnation von Wladimir Poutine (*1952) auferstanden zu sein! Die slowenische Kostümbildnerin Belinda Radulovic sorgte für zeitlose Bühnenkostüme mit markanten Zusätzen wie z. B. die Amtsperücke des Dorfrichter Adam oder die Krone des Kaiser Overall.
Ein unsichtbarer Handlungsfaden zieht sich durch beide Werke: Justiz-Korruption, Verlogenheit, Grausamkeit, Unmenschlichkeit aber auch zynischer schwarzer Humor und wie schon gesagt Hoffnung…, viel Hoffnung! Die Solisten waren sowohl vom sängerischen als auch vom schauspielerischen auf internationalem Niveau. Der slowakische Bass Martin Gurbal als Adam und desgleichen als Tod mit seiner tiefschwarzen sonoren Stimme hatte alle erdenklichen Qualitäten um diese beiden komplexen Rollen zu bewältigen. Desgleichen sein ausgezeichneter Kollege, der tschechische Bassbariton Boris Prygl in den Rollen von Walter und Overall. Sein Timbre hatte die nötigen Höhen für sein Stimmfach und von der szenischen Interpretation war er besonders beeindruckend als Kaiser Overall, wenn er in zuckenden elliptischen Bewegungen in seinem Rollstuhl den lebendig-toten Herrscher spielt. Ein Extra-Lob für die schelmische und tiefschwarze humoristische Darbietung des mexikanischen Tenor Jorge Garza in den Rollen von Licht und Harlekin. Sein strahlendes Timbre erzeugte wahre Wunder besonders als Harlekin, der das Symbol des Lebens darstellt.
Bei den Damen fiel uns besonders die tschechische Mezzo-Sopranistin Anna Nitrova in den Rollen der Frau Marthe Rull und dem Trommler auf mit ihrem überaus warmen Timbre und auch dazu in allen Registern eine äußerst klare Diktion sowie in den Tiefen die nötige Kraft. Auch hatte sie in ihrer szenischen Interpretation eine einmalige und auftrumpfende Bühnenpräsenz. Auch die tschechische Sopranistin Marketa Klaudova als Eva und Bubikopf zeigt mit ihrem natürlichen Talent und einem kristallklaren schönem Timbre eine sehr interessante Annäherung an ihre Rolleninterpretation, um in die jeweiligen Rollen nur so reinzuschlüpfen und das ohne Anstrengung und jeglichem Kompromiss. Eine ausgezeichnete interpretatorische Leistung bot der tschechische Künstler Vaclav Morys in der stummen Rolle der Frau Brigit. Die mimischen Talente des Künstlers zeigten eine männliche Person im Straßenanzug und „Ohrringen“, außerdem mit einer sehr dekadenten weiblichen Manie. Eine homoerotische Allüre vom Standpunkt der 30er Jahre? Vielleicht eine Warnung? Wir wissen es nicht! Wir können es nur ahnen!
Leider können wir aus Platzmangel nicht alle Interpreten im Detail erwähnen: Roman Vlkovic, Luciano Mastro, Lhor Maryshkin, Nikola Novotna, Urszula Kulesza. Das gesamte Ensemble zeigte ein erstaunliches hohes Niveau! Wir würden sagen ein internationales Niveau!
Leider wurde diesmal an der Staatsoper Prag die vorgesehene 2. Premiere der Oper Kleider machen Leute (1910/1922) von Alexander von Zemlinsky (1871-1942) im Rahmen des ZYKLUS MUSICA NON GRATA abgesagt wegen Erkrankung des Hauptdarstellers, der amerikanische Tenor Joseph Dennis. Aber natürlich sind wir im März 2024 bei der Wiederaufnahme dabei!
Außerdem werden der ZYKLUS MUSICA NON GRATA und desgleichen der TEREZIN OPERA ZYKLUS weiter fortgesetzt bis zum Jahre 2025. Im August 2023 werden wir von den Akademie-Tagen in Terezin (Theresienstadt) berichten… (MPM/02.03.2023)