Oldenburg, Staatstheater, PETER GRIMES - Benjamin Britten, IOCO
PETER GRIMES in Oldenburg: Roman Payers Darstellung des Peter Grimes ist eine geschundene Person, die an sich selbst und an der Gemeinschaft leidet. Unfähig zur Bindung und liebevoller Zuwendung vegetiert er nur und sucht doch den Hafen gegen die Unbilden von Natur und Menschen.
Wo ist der sichere Hafen?...
Reflexionen zu „Peter Grimes“ am Oldenburgischen Staatstheater anlässlich der Premiere am 9. März 2024
von Thomas Honickel
Avant propos
So viel vorweg: Die vorletzte Opernpremiere in der Ära von Intendant Christian Firmbach ist eine Sternstunde und darf auf keinen Fall verpasst werden! Bis zum Sommer des Abschieds gibt es noch neun Gelegenheiten, die traumhafte Produktion zu erleben.
Inszenierung, Bühne und Kostüme
Das Libretto von Montagu Slater wird punktgenau umgesetzt. Hinrich Horstkotte ist der kreative Kopf, der in Personalunion für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet. Was für eine Aufgabe! Den Oldenburgern ist er noch lebendig mit seinen Arbeiten an Rigoletto und Rusalka in Erinnerung. Das Ineinandergreifen von Ausstattung, Bühne und Regie geht denn auch vollständig auf.
Der Bühnenraum mit ausschließlich von Brettern zu einer gigantischen Halle gezimmerten Szenerie, die sich am Boden und in der Ferne (mit gelungener perspektivischer Verzerrung) fortsetzt, imaginiert im Hintergrund Dünen, Wellen oder Klippen. Sie lässt sich aber überraschend schließen, um so den Eindruck von klaustrophobischer Enge zu evozieren. Wahlweise ist sie dann Wirtshaus, Fischerhütte oder unterseeischer Raum, der zusätzlich durch Deckenelemente noch verkleinert werden kann. All das in kürzester Zeit und mit magisch erscheinenden Umbauten, die von Regina Kirsch ebenso magisch ausgeleuchtet werden. Überhaupt ist die Lichtregie einer der zentralen Träger dieser im Wortsinn fantastischen Inszenierung.
Horstkotte leitet seine ihm anvertrauten Darsteller mit traumwandlerischer Genauigkeit und dennoch mit großer Freiheit für jeden einzelnen: Eine quasi rezitativische Personenführung, die in den Momenten mit kleinen Besetzungen als Kammerspiel daherkommt, bei dem man versucht ist zu glauben, dass all dies aus dem Moment heraus erdacht sei.
Dem stehen die enorm zahlreichen Massenszenen gegenüber, die blendend organisiert sind. Pars pro Toto die beeindruckende Wirtshausszene im 1. Akt, in der die einzelnen Momente der Individuen mit dem steten Zuwachs an Dorfbewohnern, die dem Sturm zu entkommen versuchen, aufgebaut werden nach Art eines überdimensionalen Crescendos. In ihm formieren sich die individuellen Befindlichkeiten: Die von Tranquilizern auf Opiumbasis abhängige Alte, der im religiösen Wahn befindliche, selbsternannte Messias-Jüngling, der alternde Kapitän und das Wirtshausteam mit Chefin „Auntie“ und ihren beiden Nichten, die weit mehr anzubieten haben als volle Bierkrüge. Das alles ist in einen Kosmos von frustrierender Armut, derbem Humor, platten Anzüglichkeiten und großer kollektiver Resignation an einem Ort am Ende der Welt angesiedelt.
Die Kostüme sind folgerichtig in diffusen blau-braun-schwarz-Tönen gehalten. Einzig der helle Pullover, den Ellen für den neuen Lehrling gewirkt hat, ist ein winziger Blick in eine sanftere, leichtere Zukunft. Die von Horstkotte mit dem Oldenburger Team entwickelten Bilder sind von grausamer Schönheit. Vieles ist stilisiert (Sturm, Kirchgang) und erwartet vom Zuschauer das Weiterdenken in andere Räume. Das betrifft auch die albtraumhafte Ausgestaltung der Passacaglia mit einem Tanz der Seile, aus denen sich ein Galgenstrick formen lässt, oder die finale Wahnsinnsszene von Grimes, die ihn gewissermaßen schon bei den Fischen verortet.
Die mit vergleichsweise einfachen Mitteln entwickelten Bilderfluten brennen sich ein und wirken nach. Die Aufläufe an Personal und die kammerspielartigen Momente der Protagonisten bleiben nachhaltig im Gedächtnis. Was will gelingendes Musiktheater mehr?
Personnage
Erneut nach Korngolds Tote Stadt vertraut man in Oldenburg bei der Besetzung herausragender (Titel)partien auf die Kompetenz der Gäste. Verständlich beim Schwierigkeitsgrad und bei der Exotik der Rollen von Peter und Ellen.
Die Partie des Grimes hat Ansprüche wie die großer Wagner-Partien: strapaziös, klanggewaltig, herausfordernd in Tessitura, Kondition und Darstellung. Britten hatte sie seinerzeit seinem Lebenspartner Peter Pears auf den Leib geschrieben. In Oldenburg ist mit Roman Payer ein Tenor der jüngeren Generation, der vom lyrischen ins jugendliche Heldenfach wechselte, ein neues, unverbrauchtes Gesicht und eine tragfähige Stimme zu erleben, die gewiss noch weiter von sich wird hören lassen.
Ihm zur Seite als Ellen singt die deutlich ältere, aus Südafrika stammende Sally du Randt mit opulentem Sopran. Die seit langen Jahren am Stadttheater Augsburg engagierte Sängerin hat das Repertoire im Laufe ihrer langen Laufbahn durchschritten und erweitert von der Konstanze aus der Entführung“ hin zu den großen Frauenpartien bei Wagner, Puccini und Verdi. Auch eine Marie im Wozzeck und eine Marietta in Korngolds Die tote Stadt hat sie im Repertoire. Vielleicht wäre sie in der laufenden Spielzeit die glücklichere Wahl gewesen, als Marietta kurzfristig umbesetzt werden musste. In Oldenburg jedenfalls gibt sie eine denkbar gute Visitenkarte als Ellen ab!
Roman Payers Darstellung des Peter Grimes ist eine geschundene Person, die an sich selbst und an der Gemeinschaft leidet. Unfähig zur Bindung, zu Liebe und liebevoller Zuwendung vegetiert er nur und sucht doch den sicheren Hafen gegen die Unbilden von Natur und Menschen; Molières „Menschenfeind“ nicht unähnlich. Die Fragen des ersten Aktes wiederholt er im Finale erneut: "Wo ist der sichere Hafen gegen alle Grausamkeiten?" Und erkennt schon früh: "Moral wird vom Menschen gemacht. Die Gezeiten kennen keine..." Da deutet schon Manches auf das spätere, selbst gewählte Schicksal hin.
Roman Payers Tenor ist tragfähig in den eruptiven Passagen, gegen die Übermacht des Ensembles weiß er sich indes nicht nur mit Kraft durchzusetzen, sondern häufig mit fast überirdisch wirkendem Lyrismus, der selbst im mezza voce nicht nur trägt, sondern mitreißend gestaltet. Herausragend etwa die träumerische Szene mit dem Lehrjungen, wo das einzige Mal in der Oper eine Vision von einem möglichen Glück mit leichteren Farben geschildert wird. In der finalen Szene, in der er alleine auf der Bühne dem Wahnsinn verfällt, läuft er gestalterisch und sängerisch zur Höchstform auf. Gefangen in seinem Temperament, seinen Netzen und seiner Ohnmacht sieht er für sich als letzte Heimstatt nur die Tiefen des Meeres. Ein moderner "Holländer" ohne rettende Senta, dem bei den Menschen kein Ort zugestanden wird. Ein Sängerdarsteller, wie er selten zu erleben ist!
An seiner Seite Sally du Randt, die alle Facetten einer am Schicksal des fernen Geliebten leidenden Frau einbringt. Als Anwältin in der Kneipe ("Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein") über die liebende Mutter, die sie nie sein durfte - etwa als sie in der "Ankerarie" den Knaben mit Selbstgestricktem verwöhnt und ankleidet, während sie akrobatische Melismen zu singen hat - bis zur berühmten „Embroidery Scene“, als bereits alles vergebens ist. Hier ist ihr Gesang engelsgleich und doch von tiefster, verzweifelter Anteilnahme.