Oldenburg, Staatstheater, NEUJAHRSKONZERT 1.1.2024
Das Neujahrskonzert 2024 in Oldenburg: Tatsächlich gab es Küsse und Umarmungen auf und von der Bühne nach einem fulminant konzertanten Aufschlag ins Neue Jahr 2024.
„Diesen Kuss der ganzen Welt!“
Betrachtungen von Redaktionsmitglied Thomas Honickel
Tatsächlich gab es Küsse und Umarmungen auf und von der Bühne nach einem fulminant konzertanten Aufschlag ins Neue Jahr 2024. Publikum und Podium schienen sich eins in der Auswertung der ersten Begegnung im neuen Jahr, die erneut an die Stelle der drei großen „K“ unserer Zeit (Katastrophen, Krisen, Kriege) viele Wünsche, Träume und Visionen setzte. Und das Ganze unterfüttert mit einem sehr bunten, sehr vielgestaltigen musikalischen Programm. Am Ende Ovationen, Zugaben und nicht enden wollender Applaus; Bravo-Rufe und heiterste Stimmung trotz gruseligen Wetters.
Auf ein Wort
Überschattet, wenn auch nur indirekt angesprochen, wurde der insgesamt frohgestimmte Nachmittag im herrlichen Oldenburger Staatstheater vom bevorstehenden Ende der Intendanz von Christian Firmbach und dem gleichzeitigen Weggang zahlreicher Leistungsträger aus dem Opernensemble. Und so stand Firmbach selbst als charismatischer Moderator, überzeugender Anheizer und gewinnender Plauderer unerwartet im Mittelpunkt dieses finalen Neujahrskonzertes unter seiner Ägide. Und zuvorderst war es ihm ein Anliegen, den vielen Helfern aus dem Kreis der Rettungskräfte für ihren Einsatz in der Region angesichts der enormen Flutgefahren zu danken. Da hat wohl jeder im Stillen der anhaltenden Sicherheit der Dämmer im Oldenburger Land gedacht.
Die beste Stimmung, die Firmbach versprach und die sich in fast drei Stunden einlöste, brach auch dann nicht ein, als er die zentralen Herausforderungen unserer derzeit aufgeheizten und angespannten Gesellschaft mit Themen wie Genderwahn, Pisastudie, Fachkräftemangel (auch in der Politik) und vielen weiteren „woken“ Diskussionen ansprach, die derzeit den Markt der Möglichkeiten umtreiben. Man wolle in diesen Zeiten den Menschen der Region einige Stunden bester Unterhaltung und Ablenkung schenken, denn das sei auch einer der Aufträge eines öffentlich geförderten Theaters. Wie wahr, wie klar!
Nachrichten vom Pult
Christian Firmbach zur Seite stand Oldenburgs 1. Kapellmeister Vito Cristofaro, einer der Garanten für beseelte und qualitätvolle Leistungen am Pult. Selbst mit einer Opernsängerin verheiratet weiß Cristofaro sich vor allem den vokalen Protagonisten verpflichtet. Er stützt, er ordnet, er atmet mit. Aufmerksam und einfühlsam gleichermaßen kann er Klassisches und Populäres ebenso verantwortlich wie schmissig über die Rampe bringen. Ein Segen für alle Sängerinnen und Sänger, mit einem solch kollegialen Dirigenten musizieren zu dürfen!
Und dennoch glänzte Cristofaro vor allem in den für ein Neujahrskonzert ausgesprochen üppig eingestreuten rein orchestralen Stücken mit energetischer Verve und musikantischer Hingabe: Neben Gounods Faust-Ballettmusik „Danse de Phryné“, wo er sich erfolgreich ums Dämonische bemühte, im Rossini-Hit der Ouverture zu „Wilhelm Tell“, wo der Freiheitsheld mit markanten Rhythmen die Partitur belebt, einem „Galopp“ aus Kabalewskis „Komödianten“, wo das Grotesk-Bizarre herausgekitzelt wurde, und einer munteren Schlittenfahrt („Sleigh Ride“) aus der Feder von Leroy Anderson war es vor allem der Opener, die geläufige Ouverture zur Oper „Ruslan und Ljudmila“ von Glinka, die aufhorchen ließ.
Das heikle, weil vor allem in den Streichern hochvirtuose Werk war eines der ersten musikalischen Feuerwerke, die gekonnt gezündet wurden. Und hier gab der Dirigent die nötigen Impulse, um dann dem freien Spiel den Lauf zu lassen. Er kontrollierte vertrackte Einsätze, ermunterte hier zu dynamischen Anläufen und lenkte dort behutsam, wo der Fluss abgebremst werden soll. Das alles offensichtlich auswendig gemäß dem bekannten Dictum: „Ein Dirigent sollte die Partitur im Kopf und nicht den Kopf in der Partitur haben!“ So konnten Feuer und Leidenschaft entfacht werden!
Apropos:
Glinkas zweites Opernopus, gleichzeitig durch seinen frühen Tod in Berlin auch sein letztes nach „Ein Leben für den Zaren“, hat weit mehr als diese häufig zu hörende Ouverture zu bieten. Es wäre schön, dieses zaubrische Werk, eine Märchenoper mit spannender Handlung und herrlicher Musik, einmal wieder inszeniert zu erleben. Vielleicht eine schöne Ergänzung zum Kanon der oft rezipierten „Rusalka“, diverser „Aschenputtel“-Vertonungen oder der vorweihnachtlichen „Hänsel und Gretel“-Show? Und Pate stand für das Libretto, quasi als Nachweis für die Güte der Storyline, kein Geringerer als Alexander Puschkin!
Immerhin hört man in „Ruslan und Ljudmila“ nicht viel Russisches, was ja in diesen Zeiten vermeintlicher political correctness bisweilen von Spielplänen verschwindet. Und: Das Werk spielt weitgehend in der Ukraine. In den beiden letzten Akten, die sich dem Happyend nähern, wird ausdrücklich Kiew als Spielort erwähnt. In Glinkas Musik hat man den überraschenden Eindruck, dass hier auch Mendelssohn, Meyerbeer, Donizetti oder Berlioz Pate standen, Kollegen, die Glinka während seiner westeuropäischen Studienreisen traf und die ihn nachhaltig beeinflussten. Keine schlechte Partnerschaft! Sie alle erklingen im Idiom Glinkas als Rückschau und gekonnte Adaption.
Vokale Perlen
Doch zurück zur Programmierung des Oldenburger Neujahrskonzertes.
Paola Leoci, blutjunge italienische Sopranistin, eröffnete gekonnt und setzte sich, um mit Mozart zu sprechen, mit „geläufiger Gurgel“ für Donizettis spätes, selten zu hörendes „O luce di quest´anima“ (O Licht dieser Seele) aus „Linda di Chamonix“ ein. Die Native-Speaker traf, trotz annoncierter Erkältung, von der nichts zu hören war, die Spitzentöne sanft und warm. Ein bestechend schönes Legato ist ihrer Stimme eigen, das dem Belcanto Donizettis nachgerade zu optimaler Wirkung verhilft. Wenn diese Stimme im Volumen noch zulegt, könnten Partien wie „Lucia“ oder entsprechende Rollen aus Rossini-Opern irgendwann in erreichbare Nähe rücken.
Tenorale Ergänzung bei den jungen Stimmen des Konzertes war Johannes Leander Maas, der mit jugendlichem Charme und unbeschwertem Zugriff Nino Rotas „Parla piu piano“ (bekannt auch als Titelmusik aus Rotas Filmmusik zu „Der Pate“) und Lehars Gassenhauer „Freunde, das Leben ist lebenswert“ sang. Sein kraftvoller Tenor ist ein Kapital, das der junge Sänger noch mit Energieeinsatz verschleudert. Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich sein Gesang entwickelt. In der zugegebenermaßen wenig tenoralen Tiefe des Rota-Liedes kämpfte er um vokale Präsenz; bei der „Giuditta“-Arie lag die Tessitura günstiger. Spannend wäre, ihn mit Mozart zu hören, wo stimmliche Differenzierung und Rücknahme prägend wären. Eine Erschöpfung im operettenhaften oder populären Genre sind für dieses stimmliche Potential bedauerlich. Im Duett punkteten Leoci und Maas mit stimmungsvollem Gesang bei Leoncavallos „Mattinata“.
Vokaler Höhepunkt im ersten Teil des Programms war der Koreaner Kihun Yoon, dessen Bariton schon einige Male in der Vergangenheit in Bann zog. Hier war er beredter Anwalt für Umberto Giordanos „Andrea Chenier“, das tragische Revolutionsdrama, mit dem sich der Komponist nachhaltig in die Musikgeschichtsbücher eintrug. Das dem Verismo zugeschriebene Werk erklingt nicht mehr so oft wie etwa der Mascagni / Leoncavallo-Doppelabend; hat aber sowohl hinsichtlich der Geschichte wie auch der fast schon puccinihaften Musik allerhand Hörenswertes zu bieten. Yoon sang die Läuterungsarie des Widersachers Gérard „Nemico della Patria“ (Feind des Vaterlandes) aus dem dritten Akt, der Gerichtsszene, wo er selbstkritisch seine Position überdenkt, selbstanklagend seine Entscheidungen vorträgt und die Revolution, die ihre eigenen Kinder frisst, beklagt. Faszinierend, über welches Klangpotential Yoon verfügt, welche Farbenvielfalt seine Stimme aufweist. Selbst im sotto voce ist sein Organ von großer Reichweite und klanglicher Noblesse. Die widerstreitenden Gefühle des Verräters, der seine Schuld erkennt und eingesteht, rühren unbedingt an. Bravo!
Von Handwerkerinnen und geigendem Maestro
Der zweite Teil wurde dann zu einem (auch interaktiven) Feuerwerk mit großen Schwerpunkten bei der leichten Muse. Schon vor der Pause „beklagte“ sich Dirigent Cristofaro beim Intendanten, dass das Geländer des Dirigentenpodiums ihn doch sehr einenge. Firmbach versprach Abhilfe in der Pause, was nicht gelang. Doch dann kamen überraschend zwei tapfere und beflissene Helferinnen (Paola Leoci und Melanie Lang) aus dem Ensemble, die dem Dirigenten beizuspringen wussten! Im Duett „We are women!“ aus Bernsteins „Candide“ betraten sie die Bühne mit Akku-Schraubern, um während (!) des Duettes das lästige Metall zu entfernen; zur Belustigung des Auditoriums mussten die beiden männlichen Kollegen, offensichtlich frisch aus der Kantine kommend (mit Zigarette im Mund), das nun überflüssige Requisit lautstark entfernen. Ein szenischer Einfall, der sich in großer Heiterkeit und massivem Zuspruch durch das Publikum entlud.
Derlei halbszenische Spielereien und Beteiligungen des Publikums setzten sich fort, sodass die Barriere zwischen Bühne und Saal immer weniger zu verorten war. Im spanischen Volkslied „El Vito“ (!) wurde dieses Spiel mit der Partitur enorm ausgereizt, indem Maestro Vito (!) Cristofaro den Taktstock gegen die Geige austauschte, um mit dem Konzertmeister (bravourös: Maximilian Hörmeyer) ein Violinduett zu Ehren des heiligen Vito, Schutzheiliger der Theaterleute, hinzulegen; flankiert vom Solistenensemble. Pure Freude, die in den Augen der Ausführenden blitzte und die sich auf das Auditorium übertrug. Als dann noch die britische „Night of the Proms“ mit der wippenden und trötenden „Hornpipe“ karikierend von den Gästen im Haus nachgestellt wurde, hatte man dem Affen längst genug Zucker gegeben und war das Eis längst gebrochen. Melanie Lang, Mezzo mit größter Vielseitigkeit und Publikumsliebling am Haus, forderte dann als Mary Poppins noch das unaussprechliche Zauberwort „Supercalifragilistic…“, bei dem Publikum und Solistenkollegen punktgenau das „Um diddle-diddle-diddle-um-diddle-aye“ ablieferten.
Kurz vor dem Finale nahm Firmbach noch einmal etwas die Luft aus dem Kessel, in dem er alle beschwor, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren, dem Haus die Treue zu halten und mit Optimismus und Zuversicht ins neue Jahr zu starten. Gute Worte, die ihre Adressaten erreichten. Ob der Werbeblock zu den finalen „Walküre“-Vorstellungen seine Wirkung zeitigt, bleibt zu hoffen, zu wünschen.
Zum Finale dann Cannios unverwüstliches „O surdato ´nnamurato“ (Vereinshymne des SSC Neapel), zu der Cristofaro als Kalabreser naturgemäß keine innige Freundschaft hegt, dessen Musik er aber mit allen Beteiligten stimmungsvoll als roten Teppich für 2024 auslegte. Beim zugegebenen ABBA-Song „Happy New Year“ sah man viele informierte Gäste, die lautstark mitsangen. Anhaltende, stehende Ovationen!
Last but not least:
Das Oldenburgische Staatsorchester! Der Klangkörper, ergänzt durch viele Gäste, wusste in allen Genres zu überzeugen. Besonders im Gedächtnis bleiben die äußerst beweglichen und energiegeladenen Musikerinnen und Musiker der 1. Violinen, allen voran der neue Konzertmeister Maximilian Hörmeyer, der mit zahlreichen kleinen und großen Soli (Lehar, „Schwarze Augen“, „El Vito“) für sich einzunehmen wusste. Und ein herausragendes Lob für alle Mitglieder der Schlagzeuggruppe vom stets präsenten Solopauker (Mike Asche) bis zum virtuosen Malet-Spieler (Philipp Arndt). Gerade deren „drive“ bei den Werken im zweiten Teil war Grundlage für einen nachhaltigen Eindruck. Sehr schön auch, dass die Mitglieder der neu installierten Orchesterakademie in solchen Konzerten mit vertreten sind.
Epilog
„Wir möchten die ganze Stadtgesellschaft und Region im Nordwesten umarmen!“ So konnte man es zu Amtsantritt von Christian Firmbach hören und lesen. Seither sind 10 (in Worten: zehn) lange und wahrhaft künstlerisch ausgefüllte Jahre ins Land gegangen, und man muss konstatieren: Er hat Wort gehalten! „Seid umschlungen, Millionen!“