Oldenburg, Staatstheater, Freischütz 2.0 - C.M. von Weber, IOCO Essay

Überarbeitung? Ergänzung? Neudeutung? FREISCHTÜTZ: Die Frage, wie man das neue, erste Opernprojekt der Intendanz Heckel etikettieren soll, fällt selbst der Kommunikationszentrale schwer. In der externen wie internen Annoncierung fallen die o.g. Begriffe

Oldenburg, Staatstheater, Freischütz 2.0 - C.M. von Weber, IOCO Essay
Oldenburgisches Staatstheater - am Abend © Stephan Walzl

Freischütz 2.0 - Gedanken zur Spielzeiteröffnung der Musiktheatersparte am Oldenburgischen Staatstheater

von Thomas Honickel

Bregenz und Eutin just im Juli im Fernduell mit opulenten und in Häusern kaum darstellbaren, bildreichen und massenbewegenden Aufgeboten zeigen, dass das romantische Werk Der Freischütz von Carl Maria von Weber noch allerhand Zündstoff besitzt. Diese deutsche Nationaloper (das Etikett erhielt sie bereits kurz nach der Uraufführung) hat offensichtlich derzeit Hochkonjunktur! Und sie bietet offenbar, wie auch Oldenburg zeigt, eine Fülle an Anknüpfungspunkten mit der Jetztzeit. Vielleicht gebietet sie es sogar?

Überarbeitung? Ergänzung? Neudeutung?

Die Frage, wie man das neue, erste Opernprojekt der Intendanz Heckel etikettieren soll, fällt selbst der Kommunikationszentrale schwer. In der externen wie internen Annoncierung fallen die o.g. Begriffe und weisen nach, dass die saisoneröffnende Premiere des romantischen Gassenhauers wohl eher ein Freischütz 2.0 ist. Man schiebt denn auch dem bekannten Werk den Untertitel „Ein Tanz mit dem Bösen“ bei.

Indes, solch kosmetische Verpackung macht es nicht besser: Der Oldenburger Freischütz bleibt in gewisser Weise ein Etikettenschwindel und lässt Teile der Premierengäste mindestens irritiert zurück. Der zwiespältige Eindruck, den wir diagnostizierten, soll hier später wiedergegeben werden.

DER FREISCHÜTZ hier Seungweon Lee als Kaspar + Statisterie 1 © Stephan Walzl

Was ist geschehen, damals und heute?

Webers epochales Opus als Opener für die neue Intendanz zu programmieren, glich einem Coup. Anlässlich des 100. Geburtstags der Oldenburger Opernsparte, die seinerzeit mit eben diesem Werk öffnete, war die Wahl nahezu perfekt. Überdies lag der letzte Freischütz über 30 Jahre zurück.

Sehr lange hatten Vorgänger einen Bogen um das Werk gemacht. Dem einen mutete es wohl als zu biedermeierlich-verstaubt an, andere wollten das heiße Eisen eines heute mehr als fragwürdigen Frauenbildes in der von Friedrich Kind verfassten Schauergeschichte nicht anfassen. Berechtigte Einwände, wenn da nicht die kolossale Musik von Weber wäre!

Webers damals und lange Zeit danach als erste deutsche Nationaloper angesehener Meilenstein hat viel zu bieten, an dem man sich auch heute noch reiben kann: Aberglaube, Gesellschaften und ihr teilweise enormer (Erwartungs)Druck auf den Einzelnen, Verführbarkeit schwacher Persönlichkeiten, Hierarchien und wie man sie durchbrechen kann, und natürlich das Leben und Erleben von Magischem und Mystischem in der Natur. Denn Webers Freischütz ist jenseits der überbordenden menschlichen Konflikte und Nöte auch eine Hommage an den deutschen Wald, dem er hymnisch mit dem Adagio der Ouverture huldigt.

Librettist und Komponist waren aber auch, so spiegeln es die Briefwechsel der Zeit wider, vor allem fasziniert von den Geistergeschichten, die damals frisch auf den Markt kamen. „Der Schlaf der Vernunft“ vom zeitgleichen Francisco Goya, Goethes „Erlkönig“, manch wenig kindgerechtes Märchen und Zaubersprüche aus der Deutschen Mythologie der Grimms sowie die parallel in Amerika entstandenen bizarren Novellen und Gedichte eines Edgar Allan Poe (The Raven) deuten darauf hin, dass mit dem zentralen Thema der Nacht in der Früh- und Hochromantik fast alle Genres der darstellenden und bildenden Künste befasst waren. Geschichten, die das Gruseln lehren, begeisterten damals und sie begeistern ungebrochen bis heute: von der Wolfsschlucht über den Ilsenstein (Hänsel und Gretel) bis zum Landsitz Bly in The turn of the screw (in Oldenburg 2025 zu erleben). Friedrich Kind und Carl Maria von Weber fanden ihre Storyline in den Novellen des Gespensterbuches von August Apel und Friedrich Laun (1810-1816).

Über viele dieser Aspekte, inklusive eines erhellenden Interviews mit dem Regisseur, gibt das eloquente und lesenswerte Programmheft kenntnisreich Aufschluss (Dramaturgie: Anna Neudert).

Der Boden war also mehr als bereit, als Der Freischütz 1821 in Berlin (trefflich am Datum der sechs Jahre zuvor erfolgten Schlacht von Waterloo) das Licht der Welt erblickte. Das Werk ist von seiner geschichtlichen Bestimmung (im Vormärz) nicht zu trennen; der nach dem Wiener Kongress so sehnlichst erhoffte deutsche Nationalstaat ließ noch auf sich warten, und die seinerzeit herrschenden Vorstellungen von Moral, Untertanengeist, Herrschertum, ein biedermeierlich, reaktionäres Frauenbild, Männerbünde und Waffenfetischismus sowie eine unangefochtene Rolle der Kirche prägten die Gesellschaften der zersplitterten Fürstentümer in deutschen Landen und somit auch das Skript, das Weber mit genialer Musik unterlegte. Weber selbst streifte den Ballast der Wiener Klassik ab, auch wenn er ihr in Teilen noch folgen mochte; und er eröffnete den Weg in die romantische Oper, die auch der junge Richard Wagner schätze.

DER FREICHÜTZ hier Jason Kim, Stephen K. Foster, Elizabeth Llewellyn + Ensemble © Stephan Walzl

Der Freischütz - im Spiegel der Zeit

Eklats zu Bühne, Inszenierung und Ausstattung gab es beim Freischütz häufig. Ich erinnere eine Premiere Anfang der 90er Jahre von Holk Freytag am Opernhaus Wuppertal, meiner Heimatstadt, in der ein überdimensioniertes Wildschwein die Bühne dauerhaft für sich einnahm. Das führte reflexartig im „Muckertal“ zu ABO-Kündigungen und Sonderbeilagen für Leserbriefattacken. Darüber kann man heute nur schmunzeln. Im Regietheater der folgenden Jahrzehnte konnte man da weitaus Schlimmeres erleben. Aber Wuppertal setzte indes noch eins drauf, als man 2012 Dialogtexte, dramaturgische Linien und Stimmungen einem „zeitgemäßen Relaunch“ unterwarf, das deutlich fataler war.

All das zeigt aber, wie enorm präzise sich gerade bei diesem Werk die Erwartungshaltungen einstellen. Keiner will die Wolfsschlucht in einem prekären Hartz4-Haushalt erleben, keiner die gockelnde, schießwütige Männerwelt des Freischütz in einer E-Sport-Location anschauen müssen. Und dennoch oder gleichzeitig möchte das Publikum dieser Tage einen neuen, aktuellen Blick auf das Werk und seine immanenten Themen. Ein Drahtseilakt, ein Spagat, gewiss!

Regieansätze in jüngerer Zeit

Tatsächlich liegen ja jenseits der Gruselelemente und der abergläubischen Einsprengsel in der Storyline von Kind/Weber auch (sehr frühe) Ansätze von Traumdeutung und Psychoanalyse. Indes: Sigmund Freud ist noch knapp 100 Jahre entfernt. Und Goethes Faust lag damals gerade 13 Jahre zurück.

Und auch das Sexuelle spielt eine gewichtige Rolle: Max als Schlappschwanz (in Eutin ließ man ihn mit diesem Prädikat auftreten) im durchaus doppelten Wortsinn prägt das Bild des Bemitleidenswerten. Kuno selbst sagt die heute doppeldeutigen Worte: „Leid oder Wonne, beides ruht in deinem Rohr.“

Kaspar und Agathe, das Ex-Paar, bleiben sich ganz offensichtlich immer noch zugetan. Vielleicht auch das eine der Triebfedern für die Verführungskünste des dunklen Kaspar am naiven Jüngling Max?

Die Bühne wird seit geraumen Zeiten mit Anzüglichkeiten und den tiefgründigen Vergleichen zwischen Jagd und Liebe, Gewalt und Sex dominiert. Und tatsächlich ist ja die Tötung bei der Jagd als eines der wenigen konventionalisierten Unternehmungen mit einem Lustgewinn verbunden, der auch ins Sexuelle spielt.

In Gießen gab es folgerichtig 2012 einen überdimensionierten Phallus. In Wuppertal zeitgleich eine Massenexekution von Mädchenklassen während der Wolfsschluchtszene. Untote bevölkern aktuell in Eutin und Bregenz die herbstlich oder winterlich unwirtlichen Landschaften nach einem Krieg; posttraumatisch wahlweise der 30jährige oder aktuelle Konfliktherde. Ja, und hier wie dort wird allerorten die Figur des Samiel stark aufgewertet.

In Oldenburg interessiert sich der andorranische Spielleiter Joan Anton Rechi, wenn man den Vorankündigungen Glauben schenken will, für die „Dynamiken von in sich sehr geschlossenen Gesellschaften und die Frage: Wieviel Böses schlummert in allen von uns?“. Insofern kommt auch hier dem Samiel eine Schlüsselrolle zu.

Eingriffe am offenen Herzen

Libretto

Das Ereignis dieses Oldenburger Freischütz, der manch einen etwas ratlos zurückgelassen haben mag, ist die oben beschriebene Überarbeitung, Ergänzung, Neudeutung aus der Feder von Susanne Wolf (Libretto) und Elena Kats-Chernin (Komposition); ein eingespieltes Team ganz offensichtlich.

Dabei ist der Ansatz, zentrale Dialogelemente aus Webers Original (die tatsächlich zum Teil elend lang und ziemlich überholt sind, dazu noch angereichert mit heute kaum mehr verständlichen Vokabeln), also eben diese nur im Gesprochenen berichteten Episoden in Musik zu setzen, kein grundsätzlich abwegiger. Zu diesen gehören für das Duo Wolf/Kats-Chernin Kunos Erzählung zur Geschichte des Probeschusses, die Begegnung von Agathe mit dem Eremiten und weitere Episoden, die für das Verständnis der Oper durchaus von Wichtigkeit sind.

Zwar beteuert man im Programmheft einen „respektvollen Umgang mit Webers Musik und dem Libretto von Friedrich Kind und verspricht, dass man Webers Musik Raum lässt“. Doch dem erwartungsfrohen Premierenbesucher erschloss sich dies jedoch nicht immer.

Die Figur des Samiel wird enorm aufgewertet, ist eigentlich nahezu pausenlos auf der Bühne (stumm, mit Texten oder singend). Ihm zur Seite, gewissermaßen als Diener des Fürsts der Unterwelt, sechs Damen aus der Pariser Unterhaltungs-branche des frühen 20. Jahrhunderts, die in bunteste Farben gehüllt seine Aufträge umsetzen, als Bühnenarbeiterinnen fungieren und überhaupt in den unmöglichsten Momenten unaufgefordert in die Weberschen Stimmungen eindringen. Dabei straucheln sie fast im Abgang auf hohen Stöckelschuhen. Die gesamte Personnage (zuzüglich Glitzervorhängen), die hier teilweise dazu addiert wurde, scheint knapp sechs Wochen zu früh auf der Bühne zu stehen: Denn Cabaret erscheint erst Ende Oktober…

Nun denn: Was gibt es denn an Texten und Musik im Neuerfundenen zu hören?

Tatsächlich versucht sich Susanne Wolf im Stile von Knittelversen an Gereimtem, das oft nur mäßig funktioniert, häufig eher ins Gereimte übertragene Elemente aus Kinds Feder bedeuten, und in einigen Fällen sogar unfreiwillig komisch daherkommen. Kostproben:

„Wer mich ruft, dem bin ich zugetan, egal wer´s ist, Frau oder Mann,

Wer Freikugeln gießt, unterliegt meinem Bann. Eine Freikugel! Hört ihr diesen Klang?“

oder

„Sieben Kugeln werden nun gegossen, sieben Kugeln werden früh verschossen.

Der Pakt ist geschlossen, das Zaudern verflossen…“

DER FREICHÜTZ hier Martin Bermoser als Samiel + Ensemble © Stephan Walzl

Elemente, die bei Kind nur am Rand gestreift werden, walzt Wolf über Gebühr aus und setzt damit gänzlich andere Schwerpunkte. Dabei gerät vor allem die Figur des Ännchen bisweilen unter die Räder. Dafür erfahren wir allerhand Redundantes über den Eremiten und viel Dogmatisches vom reichlich redefreudigen Samiel. All überall spürt man den erhobenen Zeigefinger.

Mit dem Eremiten und Samiel, zwei Gestalten aus Webers Werk, die aus gutem Grund im Original nur sehr homöopathisch und an zentralen Stellen eingesetzt werden, geraten die Stellvertreter des Guten und Bösen unvermittelt in den Mittelpunkt. Samiel wird darüber hinaus auch noch zu einer Sängerpartie, wo ihm, dem „schwarzen Jäger“ im Original, nur Gesprochenes zuteilwurde.

Damit wird der Mephisto von Weber zu einer tragenden Figur stilisiert, die dem Auditorium bis zum Schluss einigermaßen moralisierend den Spiegel vorhalten soll. Der Eremit wurde von Weber, kurz vor Beendigung der Oper, an deren Ende platziert, um seine Wirkmächtigkeit zu erhöhen. Bei Wolf/Kats-Chernin darf er mit Agathe vorab schon plaudern, was den Plot einigermaßen verdirbt. Damit ist seine Funktion als Deus ex machina perdu.

Und allgemein gilt, dass nichts im neuen Skript berichtet wird, was nicht auch in der Oper bereits offen, subtil oder subkutan schon von Kind/Weber geschildert wurde. Es ist also viel neu Geschaffenes obsolet für das Verständnis des Bühnenwerkes. Gängeln muss man den mündigen wie offenen Geist des Publikums nicht durch tendenzielles Philosophieren; eher spricht man ihm ab, unter die Oberfläche des Librettos mit eigenem Blick schauen zu können bzw. sich von dem Sog der Musik zu einer eigenen Sicht auf die dieser Oper innewohnenden Themen treiben zu lassen.

Musik

Die Musik, die Elena Kats-Chernin erfunden hat, hält an kaum einer Stelle mit der psychologisierenden Musik des Weberschen Originals Schritt, was Güte, Tiefe und Instrumentationsgeschick betrifft. Der im Übermaß eingesetzte Tritonus bei Samiel (soll wohl von Ferne an den Diabolus in musica erinnern), die immer wieder repetierten verminderten und übermäßigen Dreiklänge in allen möglichen Varianten, sich wiederholende Passagen bei grundverschiedenen Inhalten, all das sind Elemente ihrer Musiksprache und damit Einlassungen, die es irgendwann nahezu unmöglich machen, sich auf eine der musikalischen Sprachen schlüssig einzulassen.

Die Idee, das Neue mit anderer Tonsprache auch klangfarblich abzusetzen, ist im Grundsatz bedenkenswert. Aber wie weit sich Kats-Chernin von Webers Musik innerlich entfernt hat, wird in ihren Anteilen bei der Wahl von Harfe, Klavier und Vibraphon deutlich. Das vorhandene (durchaus für die Zeit reichliche) Instrumentarium von Webers Partitur reichte wohl nicht. Den im Heft proklamierten „charismatischen Stil“ der Komponistin und ihre „berührende, kristalline Tonsprache“ konnten wir jedenfalls so nicht nachvollziehen.

Folgerichtig ist dann eben auch, dass die Oper Der Freischütz nicht mit Weber sondern mit diesen neu erfundenen Klängen beginnt. Damit wird die fahle Anfangsoktav der Ouverture um ihre Wirkung gebracht. Und noch unmittelbar vor dem Finalchor der Oper darf Samiel, eingetaucht in laszives Rot, erneut die Szene an sich reißen, um sein Credo (abgedruckt auf dem Rücken des Programmheftes) zu verkünden: „Ich werke beständig, ich weiß, was ich will. Ich wirke in allem. Ich bin ewig unauslöschlich, vom Anbeginn der Zeiten; Samiel.

Mit Goethes Tasso möchte man meinen: „Man merkt die Absicht und man ist verstimmt.“

Bühne

Das spannungsreiche Bühnenbild von Markus Meyer ist in atmosphärisch dichte Lichtstimmungen (Licht: Steff Flächsenhaar) getaucht, die das Atmosphärische der jeweiligen Szenen überzeugend spiegeln. Zu Bäumen konnte man sich erst im Probeprozess durchringen. Nun aber ist doch ein wenig Grün auf die im Wesentlichen dunkle Bühne eingezogen. Zunächst weite Zweige aus der Höhe, die sich während der Wolfsschluchtszene durch magische Unterbühnenelemente zu stattlicher Naturkulisse weiten; die verfremdenden Projektionen verstärken den surrealen, soghaften Eindruck der Szene gekonnt.

Schwarz und Weiß dominieren die Bühne. Die Kostüme von Solisten und Chor, ebenfalls von Markus Meyer konzipiert, sind durchaus mit historisierenden Anleihen versehen. Tradierte Geschlechterrollen werden durch Hüte, Hosenträger und Westen bei den Männern sowie Hochsteckfrisuren, weiten Kleidern und weißen Schürzen bei den Frauen unterstrichen.

Samiel als „Zeremonienmeister“ (Programmheft) trägt einem Conférencier gleich Glitzerfrack, Zylinder und einen Gehstock, den er facettenreich einzusetzen weiß (als stilisierte Schusswaffe, Zauberstab und Golfschläger). Max, der ambitionierte Jüngling, hat sich eine braune Lederjacke übergeworfen; ein wenig der Look eines Halbstarken der 50er Jahre. Agathe zunächst hochgeschlossen in einem Outfit, das fast einem Habit gleicht; später dann in wallendes Weiß gehüllt, was ihre künftige Rolle als Braut andeutet. Einzig das muntere Ännchen darf ein mädchenhafteres Kleid tragen, aber auch das in schwarz.

Es wird viel geschossen und ebenso viel getrunken in Oldenburg. Zahlreiche geleerte Flaschen bevölkern die Bühne, und fast jeder männliche Darsteller hat sein Gewehr geschultert. Indizien für machohaft-männliche Attitüde und Potenzgebaren.

Regie

Joan Anton Rechi führt die ihm anvertrauten Darstellerinnen und Darsteller souverän durch die Geschichte. Auch die Massenaufläufe gelingen überzeugend (facettenreich die stummen Szenen des Chores mit freeze, slowmotion und spontanen Umgruppierungen, die allesamt sehr fließend und schlüssig realisiert werden). Dem andorranischen, international agierenden Regisseur liegt an der Darstellung von Tag und Nacht, Bewusstem und Unbewusstem, an der Zeichnung des Waldes als magischem Ort, der bedrohlich und verführerisch sein mag. Ähnlich dem Sommernachtstraum geht es um Selbstfindung in Gesellschaften, wobei ihm eher am Höllisch-Dämonischen gelegen ist als am Fantastisch-Märchenhaften. Folgerichtig wird die Figur des Samiel ins Zentrum gerückt. Die Faszination des Bösen in dieser Personifizierung überspringt die Bühnenkante und landet unversehens im Auditorium.

Die Handlungselemente der Musik überzeugen mit starken Momenten und kluger Dramaturgie, wo nichts dem Zufall überlassen bleibt. In den ariosen, statuarischen Situationen allerdings bleiben die Sängerdarsteller oft sich selbst überlassen. Besonders auffällig ist das in den beiden großen Arien von Agathe, in denen sie ihren Gesang quasi in Marmor gegossen an der Rampe abliefert.

Solisten/Chor/Orchester/Dirigat

Der Oldenburger Freischütz ist ein Fest für die Ohren. Eine homogene und leuchtstarke Riege an Protagonisten, die allesamt auch Sängerdarsteller sind, nimmt das Publikum unbedingt für sich ein. Allerdings wäre zu wünschen, dass die nicht des Deutschen mächtigen Akteure künftig ein intensiveres Sprachcoaching bei den Sprechtexten erhalten.

Neben den zahlreichen Neuzugängen am Haus, die das Publikum nun kennenlernen darf und möchte, ist Jason Kim nach einer kurzen Episode in Wien ans Haus zurückgekehrt. Wie wunderbar!

Die Partie des Max mit lyrischen wie dramatischen Anteilen ist eine der Rollen auf dem Weg hin zu gewichtigen Partien der Hochromantik im Fach des jugendlichen Helden. Die schwierigen Registerwechsel und die enormen Stimmungswechsel von zart über ungestüm bis zu dramatischen Ausbrüchen muss ein Sänger über die knapp drei Stunden weise einteilen.

Das gelingt Jason Kim ein ums andere Mal mit Bravour. Sein hohes A in seiner ersten Arie bei „Lebt kein Gott?“ ist klar, ohne forciert zu sein, und von großer Eindringlichkeit. Aber er gestaltet auch, vor allem in den Terzetten und in den großen Ensembles, und ist als Figur glaubwürdig und präsent. Bravo!

Eine besondere Erwähnung verdient der profunde Bassbariton von Seungweon Lee, der seinem Kaspar jede erdenkliche stimmliche Nuance abringt; irgendwo angesiedelt zwischen Intriganz, Schmeichelei und eigener tiefsitzender Angst. Sein voluminöser Bass hat auch die erforderliche Höhe, die er sicher meistert, vor allem in seiner „Rache“-Arie. Ein Erlebnis aber sind seine rabenschwarzen tiefen Töne, die einiges an Grusel vermitteln.

Weber schrieb gewissermaßen als Pendant mit gleichem Ambitus dem Eremiten ebenfalls eine wunderbare Partie auf den Leib. Hier aber sind es die warmen, versöhnlichen, zugewandten Farben, die die Rolle auszeichnen. Daniel Eggert meistert diese Farben mit größter Innigkeit und ist damit das Alter Ego von Kaspar. Gleiche Töne bedeuten eben nicht gleiche Haltung. Seine dem Sarastro nicht unähnliche stimmliche Anlage mit ruhiger besonnener Darstellung ist anrührend.

Der Ottokar von Arthur Bruce ist ein wohlklingender Bariton, der dem Landesfürsten die nötige Autorität verleiht, der aber auch zum Einlenken und zum Überdenken überkommener Strukturen bereit ist. Und auch der spiel- und stimmfreudige Seumas Begg haucht seinem Kilian in den (viel zu wenigen) Auftritten charmant Leben ein. Der Kuno von Stephen K. Foster ist optisch nicht ganz der kommende Schwiegervater von Max, da er (trotz graumelierter Haare durch die Maske) altersmäßig nicht aus der älteren Generation kommend wirkt. Indes sein Spiel als Anwalt von Max und sein trefflicher Gesang machen das unbedingt wett.

DER FREICHÜTZ hier Martin Bermoser als Samiel + Ensemble © Stephan Walzl

Der (nun singende) Samiel von Martin Bermoser ist ein Conférencier, der die Fäden spinnt und gleich einer Spinne in seinem Netz die Opfer einfängt. Er setzt die in ihn gesetzten Erwartungen als bösartiger Puppenspieler um; mit hämischer Diktion in der Sprache und mit leider nur mäßigem Erfolg im Gesang. Seine Bühnenerscheinung indes könnte im Musicalfach durchaus von großem Gewinn sein. 

Unter den Neuzugängen sind zwingend zu erwähnen die Darstellerinnen der beiden einzigen Frauenfiguren Agathe und Ännchen, die mit Spiel, Gesang und Leidenschaft beim Publikum punkten konnten.

Agathes enorm anspruchsvolle Partie liegt bei Elizabeth Llewellyn in den allerbesten Händen. Ihre Stimme hat die nötige Tragfähigkeit und in der Höhe eine fast überirdische Klarheit. Da ist kein Spitzenton je forciert. Die Registerübergänge sind bruchlos, geschmeidig und von großer Innigkeit. Das beweist sie im Solo („Wie nahte mir der Schlummer“ und „Und ob die Wolke sie verhüllte“) ebenso wie im Ensemble. Ihre Darstellung rührt und gleitet nie ins Kitschige. Bravissimo!

Ihr zur Seite als Freundin und Vertraute die Sopranistin Penelope Kendros, die mit ihrem heiteren, unverstellten Spiel die Herzen des Publikums erobert. Ihr leichter Sopran kann sich in den Terzetten („Wie? Was? Entsetzen!“) leider nicht durchsetzen, da die Tessitura dort, eingezwängt zwischen Agathe und Max, einfach zu tief für ihre Stimme ist. Überdies lässt der Regisseur (oft) von ziemlich weit hinten singen. Da zahlen die Sänger den Tücken des großen Hauses leider Tribut. Hinreißend indes ihre beiden großen Arien „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“ und „Einst träumte meiner sel´gen Base“. Hier kann sie nicht nur ihr großes stimmliches Vermögen, sondern auch ihr komödiantisches Talent voll ausspielen. Von Kendros warmem und glitzerndem Sopran möchte man Mozart und Belcanto hören.

Die farbenreiche Partitur liegt bei GMD Hendrik Vestmann, der seine letzte Saison am Oldenburger Haus bestreitet, in den besten Händen. Geschmeidig-federnd kommen die schmissig-bewegten Teile der Partitur daher, und in den poetischen Teilen, den magischen Episoden weiß er die nötigen Charaktere dem Oldenburgischen Staatsorchester zu entlocken. Nur selten ist der volle Klang überbordend und deckt dann etwas zu. Da sollte vor allem auf diejenigen Akteure Rücksicht genommen werden, die weit im Off ihre Partien abliefern müssen. Ein Highlight wie stets ist die packend gestaltete Wolfsschluchtszene und das mit zahlreichen Stimmungswechseln bedachte Finale der Oper.

Kompakt und bestens koordiniert bleiben Bühne und Graben in bester Übereinstimmung; das schließt die zahlreichen prachtvollen Chöre mit ein. Hier hat Thomas Bönisch gründlich und mit Hingabe an die dankbaren Choraufgaben mit dem Oldenburger Opernchor vorgearbeitet. In Erinnerung bleiben vor allem die sehr voluminösen und prachtvollen Männerchöre (pianissimo-Wiederholung im „Was gleicht wohl auf Erden?“). Chorkultur auf hohem Niveau!

Und auch die Damen stehen in nichts nach: Klare Intonation, kein Schleppen und plastische Sprache auch und vor allem in zarten Passagen („Unsre Herzen beben“). Der gesamte Chor kann sich stets auch im Forte gut gegen das volle Orchester durchsetzen, ohne dass der Klang hart und unbiegsam wird. Und auch die solistischen Aufgaben der Brautjungfern werden präzise und klangvoll realisiert.

Das Oldenburgische Staatsorchester glänzt mit einer homogenen und gleichermaßen frischen Gesamtleistung, die ihren Weber irgendwo zwischen später Klassik und frühem Wagner verortet. Das Geheimnisvolle bleibt bei ihnen im Misterioso, das Heitere im Sonnenglanz, das Idyllische wird mit zarten Pinselstrichen ebenso gezeichnet wie das Dämonische.

Webers erklärte Lieblingsinstrumente waren oft die Hörner und die Klarinette (der er auch zwei hinreißende Konzerte auf den Leib schrieb). Der makellose und schlackenlose Klang der Horngruppe in der Ouverture als Sinnbild des deutschen Waldes lässt aufhorchen und spricht zu uns: „Es war einmal…“. Kai Bröckerhoffs Klarinettenspiel blendet sich an vielen zentralen Stellen der Oper mit traumhaft schönem, geschmackvoll phrasiertem und blitzsauberem Ton ein, flankiert so die Sängerdarsteller kollegial, allen voran den Max.

In zwei höchst einprägsamen Momenten der Oper gesellen sich zwei Streichinstrumente zu den Stimmen. Unmittelbar hintereinander erhält Agathe in „Und ob die Wolke sie verhüllte“ das Solo-Violoncello als Seelenverwandten an die Seite gestellt (André Saad) und Ännchen anschließend in „Einst träumte meiner sel´gen Base“ die Solo-Viola (Marie-Teresa Nawara). Beide Instrumentalisten bestechen durch höchste Präsenz, seelenvollen Ton (Cello) und virtuoses Spiel (Viola).

Die von der Komponistin Elena Kats-Chernin vorgesehenen Neukompositionen werden von Anorthe Eckert (Klavier), Annika Wirth (Harfe) und Phillipp Arndt (Vibraphon) aus der Seitenloge zuverlässig verwaltet und gestaltet.

Oldenburg kann sich glücklich schätzen, in den Reihen seines Orchesters solch eine Fülle an solistischen Kräften zu haben, die ihre Partien mit Hingabe und Leidenschaft gestalten!

Publikum und Nachlese

Der ersten Inszenierung der neuen Intendanz billigt man reichen, in Teilen enthusiastischen Jubel zu. Vor allem die neue Sängerriege wird mit großer Zustimmung aufgenommen, der Opernchor mit Bravi bedacht. Auch die Gestalter von Regie und Bühne werden zurecht gefeiert. Solisten und Ensemble des Oldenburgischen Staatsorchesters sind die heimlichen Stars des Abends. Der Applaus wird indes hörbar schmaler, als die Kreativen der Neufassung auf die Bühne kommen.

Bei der anschließenden Premierenfeier konnte man dem neuen Intendanten Georg Heckel die Erleichterung über den grundsätzlich erfolgreichen ersten Schritt in die neue Intendanz anmerken. Wer will ihm das verdenken? Die anwesende lokale, regionale und überregionale Politprominenz versprach dauerhafte weitere Unterstützung, Anerkennung und Wertschätzung. Was will man mehr?

Fazit

Gewiss, man wollte mit einem Knaller aufmachen. Ein etabliertes Werk entstauben und neue Sichtweisen herstellen. Das ist lobenswert und zwingend, vielleicht gerade bei diesem Opus. Das Vorgelegte konnte uns indes nicht erreichen. Vielleicht funktioniert diese Fassung aber bei Newcomern, die diesen Freischütz unverstellter inhalieren können, als das bereits konditionierten Operngängern gelingt?

Weit mehr als eine Entschädigung ist die vorzügliche Sängerriege und ein hochmotiviertes Orchester. Auch die Chöre bleiben an Schlagkraft und Spielfreude nichts schuldig. Eine schlüssige Regie und eine atmosphärische Bühne lassen die zusätzlich erfundenen Anteile etwas in den Hintergrund rücken. Wir sind gespannt auf Kommendes!

Epilog

Am Ende ein Wort aus einer Besprechung vom Kollegen Charles Ritterband, der vor kurzem ebenfalls facettenreich über Bregenz berichtete:

„Die Story des „Freischütz“ mag eine echte Kuriosität aus der Opern-Rumpelkammer sein – doch wir lieben immer noch den Grusel in unheimlichen Schluchten bei Unwetter, Donner, Blitz und Wolfsgeheul, wir lieben den zynisch-selbstverliebten Mephisto mit seinen simplen Reimsprüchen und vielleicht gar die nach Jägerburschen schmachtenden Jungfrauen.

Vor allem aber ist Webers herrliche Musik unsterblich – und wird es bleiben…“