Oldenburg, Staatstheater, CABARET - John Kander, IOCO
OLDENBURG: Das Fazit gleich vorweg: Man soll mit Superlativen sparsam umgehen, aber dieses Oldenburger Cabaret setzt Maßstäbe! Was hier an inszenatorischer Tiefe, sängerischer, darstellerischer, musikalischer und choreographischer Güte
CABARET - Buch Joe Masteroff, Musik von John Kander / Gesangstexte von Fred Ebb Deutsch von Robert Gilbert - reduzierte Orchester-fassung von Chris Walker
von Thomas Honickel
Oldenburger Cabaret setzt Maßstäbe!
Zum Geleit - und - Das Fazit gleich vorweg: Man soll mit Superlativen sparsam umgehen, aber dieses Oldenburger Cabaret setzt Maßstäbe! Was hier an inszenatorischer Tiefe, sängerischer, darstellerischer, musikalischer und choreographischer Güte und an mitreißender Show sowie glasklarer gesellschaftspolitischer Positionierung in angespannten Zeiten präsentiert wird, war in diesem Genre lange Jahre in der Huntestadt und weit über die Region hinaus so nicht zu erleben. Chapeau!
Und: Angesichts des sich jetzt schon abzeichnenden Saisonerfolgs von Cabaret (bis Mai 2025 ist nahezu alles ausgebucht) bleibt also vielen Interessierten oder Wiederholungstätern nur die Hoffnung auf eine Wiederaufnahme in 25/26!
Oldenburger Inszenierung
Den Paukenschlag gibt es gleich schon vor Ouvertüre und noch bei geschlossenem Vorhang: Die Vorbühne, wo üblicherweise der Orchestergraben ist, bleibt hochgefahren und ist gewissermaßen als Clubbereich mit Tischchen und Stühlen für auserlesene Gäste aus dem Auditorium vorgesehen. Glücklich, wer einen solchen Tisch ergattern konnte, denn so ist man als Amüsiergäste gleich Teil der Inszenierung und hautnah dran am Geschehen. Ein genialer Einfall!
Zur zweiten Überraschung mit Nachdruck gehört die Installation der Band in der Bühnenmitte, die somit nicht nur Grundierung liefert, sondern ebenfalls elementarer Bestandteil der Varieté-Szenerie wird. Selten hat man dazu Gelegenheit, hier wird sie optimal genutzt. Überdies hat es den Vorteil, dass die Sängerschaft durch die Nähe am Klangkörper kaum nennenswerte Koordinierungsschwierigkeiten hat. Vielleicht auch ist es für die Musiker des Ensembles mal ein ganz neuer Alltag, als Bühnenmusiker wirken zu dürfen statt im muffig dunklen und beengten Graben.
Regisseurin Katja Wolff hat eine Deutung des glamourös-opulent-kritischen Werkes geschaffen, die eine unmissverständliche Handschrift trägt und die mit großer Souveränität ein immenses Personal sehr geschickt auf der Bühne bewegt. Der aus dem Freischütz bekannte glitzernde Vorhang ist das die Bühne abschließende Element, das kaum vier Meter hinter der Bühnenkante hängt. Davor hat Julia Dohm von Rossum eine weiträumige, glitzernde, poppige Bühnentreppe installiert, auf der auf verschiedenen Ebenen getanzt und gespielt werden kann. Die Band nimmt in zwei Gruppierungen Platz: Bläser links / Rhythmusgruppe rechts. Durch schnelle Montage von Bühnenelementen im Vordergrund kann auch das Zimmer von Cliff hergestellt werden. Auch die Logen werden gekonnt bespielt. Dass das Bühnengeschehen das Publikum miteinbezieht, liegt nicht nur an der „Moulin Rouge“-Atmosphäre der Bartische auf der Vorbühne (mit Telefon à la „Ball der einsamen Herzen“) sondern auch an einem fast sechs Meter langen Laufsteg, der tief ins Parkett führt. Näher kommt man den Protagonisten sonst nie!
Die Kostüme von Alexander Djurkov-Hotter tun alles, um die lasziv-erotische und regenbogenbunte Stimmung zu unterstreichen; besonders sinnfällig im androgyn erscheinenden schwarzen Glitzerfummel von Bradys zweitem Conférencier-Outfit. Aber auch die übrigen Charaktere jenseits des Clubs sind in ihrer Bestimmtheit klar und wiedererkennbar gezeichnet: Als Concierge, als anschaffende Untermieterin, Nazirüpel mit Schlips oder als Grandseigneur im Obsthandel.
Eine punktgenaue und mit der Musik synchrone Lichtregie (Arne Waldl) unterstreicht die Show in der Show; sie schafft durch ruhige Ausleuchtung Kammerspielmomente, aber auch interessante, raumgreifende Illumination des gesamten Theaters bei den Szenen, die uns alle mit ins Geschehen nehmen (sollen).
Alle genannten Elemente dienen natürlich zunächst der authentischen Herstellung der Club-Atmosphäre. Und hier lässt Wolff alle Puppen tanzen und gibt dem erwartbaren Affen enorm Zucker. Dass das Ganze nicht überzuckert wird, liegt maßgeblich an den scharfen Schnitten, wo Szenisches ins Intime geschoben wird (Cliff und Sally, Herr Schulz und Fräulein Schneider). Das sind retardierende Momente von großer Eindringlichkeit. Mit zunehmender Dauer werden die so entwickelten Handlungsstränge zusammengeführt (im Club und später bei der Verlobungsfeier). Ein Rad greift hier ins andere, eine Stimmung in die nächste. Nie hat man das Wort „kurzweilig“ besser erleben können als hier!
Wolff lässt die Protagonisten an der langen Leine. Fast hat man den Eindruck, dass hier extemporiert wird. Bei kleineren Versprechern vor allem meint man, dass das genauso gewollt ist. Die ruhigen Gesangsnummern lässt sie atmen, die fetzigen Songs, vor allem mit großem Ensemble, lässt sie ordentlich und angemessen krachen. Die Publikumsreaktion gibt ihr recht. Die Zeichnung des älteren Liebespaares gelingt ihr mit großer und tiefer Nachdrücklichkeit. Da ist die Generation „Theatersilber“ dankbar und freut sich mit dem späten Glück („Ich sehe keine alten Leute!“).
Anders als bei viel konventionellem Musiktheater wird hier „echt“ geküsst, überzeugend umarmt, lasziv an Geschlechtsteile gegriffen, ironisierend kopuliert und bewegend geliebt. Nie überschreiten Wolff und ihr Ensemble dabei Grenzen, die ins Peinliche gleiten oder überzogen als Selbstzweck oder Provokation erscheinen (selbst beim Song „Two Ladies“!). Ihre Liebe gilt der gesellschaftlichen Vielfalt, der Offenheit, der Freiheit, der Kunst, dem leichten Lebensgefühl und der Lebenslust (auch und gerade in den zarten Liebesszenen von Schulz und Schneider).
Aber sie sieht auch die abschüssige Bahn der gesellschaftlichen Straße in die Katastrophe, die sich anbahnt in Konspiration (Schmuggel von Reparationsgeldern), Agitation (Parteiversammlungen), Ausgrenzung (Torpedierung der halbjüdischen Verlobung) und Gewaltexzessen (Cliff wird von Schlägertrupps zusammengeschlagen). Dass Wolff auf deutlichere Aktualisierungen wie Hakenkreuze, Springerstiefel oder Symbole aktueller neonazistischer Parteien verzichtet, ist ein Zeichen großer Gelassenheit und Vertrauen in den Stoff selbst. Jedem im Saal sind die Bezüge auch ohnedies und vollständig klar. Die frühen braunen Jungs, die bei Fräulein Kost ihren sexuellen Dampf ablassen, sind schon als die Schläger von morgen gezeichnet. Das Abdriften ins faschistische Lager beginnt mit kleinen Schritten („Für Deutschland!“), die Trittbrettfahrer beider Geschlechter bringen sich schon in Position. Den Transfer in die Jetztzeit mit ihren extremen politischen Parteiangeboten deutet sie an, wenn sie von „den neuen Rechten“ spricht. Hier weiß jede und jeder im Sall, von wem die Rede ist.
Ein einziges Mal bringt sie mit dem Reizwort „Remigration“ den Spielball in unsere aktuelle Gegenwart. Und das politisch naive oder opportunistische Fräulein Schneider antwortet wie beiläufig: „Naja, da muss jeder tun, was er tun muss.“ Da bleibt einem die Luft weg!
Als die Hobby-Hure Fräulein Kost das inhaltsschwangere Lied „Und fern geht ein Stern auf“ anstimmt, lässt Wolff erkennen, dass nun das Unheil seinen Lauf nimmt. Diese äußerst starke Szene vor der Pause, in der das zarte „Volks“liedchen vom Kollektiv geschreddert wird, bleibt im Kopf.
Die Knobelbecher der vorwärtsschreitenden braunen neuen Machthaber zerschmettern die viel zu schöne Melodie mit bizarrem Text und zerschreien und zertreten sie am Ende vollständig. Die Kunst liegt am Boden. Man sieht vor dem geistigen Auge die Marschkolonnen in Springerstiefeln, riecht die Bücherverbrennungen auf Scheiterhaufen und atmet bereits das Gas der Vernichtung. Betretenes anhaltendes Schweigen im weiten Rund. Selten zuvor ist man derart erschüttert in die Pause entlassen worden. Unweigerlich kommt einem der Vers „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ aus Paul Celans „Todesfuge“ in den Sinn.
Dieser Moment mit größter Eindringlichkeit wird nur noch vom Finale des Abends übertroffen, wo der sich öffnende Vorhang den Blick freigibt auf eine verwaiste Bühne, eine verstummte Band, den zerstörten Glitzervorhang im Cabaret und dem Ende aller Hoffnungen. Ein gebrochener Conférencier schickt uns in die dunkle Nacht mit den Worten: „Es war uns eine Ehre!“ Und man möchte antworten: „Auch uns!“
Sängerensemble
Eine (Welt)klasse für sich ist die Sally Bowles von Sophia Euskirchen, die als Energiebündel (bis in den Schlussapplaus) mit nahezu dauerhafter Bühnenpräsenz für sich einzunehmen weiß. In allerkürzester Zeit blendet man jede Erinnerung an Liza Minelli aus; auch wenn man in manchen Momenten eine Ähnlichkeit im Äußeren zu erkennen glaubt.
Was für ein Vulkan, was für eine hinreißende (gerade mal 32jährige) rheinische Darstellerin, und vor allem: Was für eine Stimme! Vom allerersten Auftritt im Kitkat-Club als verdorbenes Schulmädchen über ihre Ballade „You must know“ (mit Marlene Dietrich-Reminiszenz) bis zum erschütternden Finale mit tränenerstickter-trotziger Attitüde ist sie der unbestrittene Mittelpunkt des Stücks und der Inszenierung, ohne den Mitspielern Raum zu nehmen, ohne zu chargieren, stets sich als Teil des Teams, als „prima inter pares“ zu sehen; und das, obwohl sie wohl die mit Abstand Kleinste an Statue im Ensemble ist. Die Dialoge gestaltet sie mit einer gehörigen Portion Humor, Situationskomik und Mutterwitz; alles klingt wie just erfunden, wenn sie zum Beispiel die Musiker im Orchester schroff auffordert, sich abzuwenden, wenn sie in der Szene uriniert.
Das Erlebnis schlechthin ist aber Euskirchens einnehmender Gesang, der von rotzfrech und verrucht bis samtweich und gebrochen alle Farben besitzt, die man sich wünscht. Ein bei längeren Phrasen zartes aber stilechtes Vibrato, eine unzweifelhaft klare Intonation und eben eine im Gesang emotionale Beteiligung, der man (etwa im anrührenden, balladesken „Maybe this time“) jede Regung abnimmt. Sie spielt und tanzt während ihres Gesangs, als sei das wie selbstverständlich; jeder Schritt sitzt, jede Pose, jede Grimasse, jeder Augenaufschlag. Anrührend und gleichermaßen verstörend für alle im Saal, wenn sie nach Schwangerschaftsabbruch, Ende der Beziehung zu Cliff und trauriger Erkenntnis des Endes ihrer Karriere das titelgebende „Life is a Cabaret“ erinnert: Nurmehr schluchzend mit verschmiertem Makeup und dem Alkohol als neuem Seelentröster, durch die Reihen der Bartische und auf ihnen in größter Verlorenheit. Bravi!
An ihrer Seite der ebenfalls blendend agierende Cliff Bradshaw von Moritz Carl Winklmayer, der die Rolle des amerikanischen Schriftstellers schlüssig, mit Herz und viel Tempo spielt. Als schreibende und eben nicht singende Figur im Stück hat er wenig vokal zu leisten. Das Wenige aber ist mit guter Höhe und klarer Stimme (auch im Falsett) ein Gewinn für die Produktion. Der zarte Schmelz bei „Wer will schon“ mit sich selbst begleitendem Gitarrenspiel ist ein berührender Moment.
Bis auf ganz wenige Mitglieder des Musiktheater-Ensembles verzichtet das Haus auf deren Einsatz. Zu den Aktiva mit Erfahrung auch in angrenzenden Genres zur Oper gehört das Oldenburger Urgestein KS Paul Brady als Conférencier, der ja als Native Speaker und jazzaffiner Sänger die nötige Expertise und das schauspielerische Talent für die Rolle quasi genetisch in sich trägt. Der Conférencier ist in mehrfacher Hinsicht eine Paraderolle für Brady, die er in den schillerndsten und prächtigsten Kostümen phänomenal bedient und ausleuchtet. Seine im Lyrischen weiche Stimme ist hier ebenso hervorzuheben wie die stimmliche Anpassung an die Charleston- und Quickstep-Nummern. Hinreißend sein „Should old acquaintance be forgot“ und vor allem sein erschütternd resigniertes „I don´t care“, wo auch bei ihm, dem bis dato Kapitän auf dem Cabaret-Schiff, die Gesichtszüge endgültig entgleiten, die Perücke fällt, die Kunst ist perdu. Sein Spiel auch und gerade in Frauenkleidern ist ein Plädoyer für Vielfalt und Offenheit. Er ist der Anwalt des kleinen, des leichten Vergnügens, der grenzenlosen Liebe zur Kunst, zur Bühne und zum Publikum („Willkommen, bienvenue, welcome…“). Nie ist bei ihm etwas überzeichnet (was wohl auch kaum geht bei diesem Werk), nie wird das Frivole zotig, das Schlüpfrige obszön (was für die gesamte Inszenierung gilt). Eine ganze große Leistung!
Das durchaus reife „Fräulein“ Schneider (erst ab 1972 wurde per Gesetz die „Frau“ zur zwingenden Anrede des weiblichen Geschlechts!), das von Heike Jonca hinreißend und mit feinen Nuancen gespielt wird, ist eine Figur ohne Rückgrat, weil sie es sich nicht leisten kann. Die Untermiete der Hobby-Hure Fräulein Kost nimmt sie achselzuckend zur Kenntnis, obwohl ihr moralischer Impetus ihr etwas anderes zu diktieren scheint. Ihre Trennung von Herrn Schulz am Ende, der Mann, der sie wahrhaft liebt und verehrt, begründet sie mit den derzeit herrschenden Verhältnissen (Gewerbescheinverlust „Wie geht´s weiter?“), in denen die Verlobung mit einem Juden ihre Existenz gefährden würde. Sie ist merkantil, energisch, opportunistisch, aber auch dem Leben zugewandt. Ihre späte Verlobung mit Herrn Schulz könnte in anderen Zeiten wohl eine ebenso späte Adelung für sie sein.
In den zarten und intimen Momenten mit dem verliebten Obsthändler Schulz fährt sie zur Hochform auf. Auch hier bricht sich oftmals die spannungsgeladene Luft mit heiterer Situationskomik Bahn („Ananas“-Song). Trotz ihres Alters kann die Jonca mit feiner, klarer Stimme überzeugen; auch mit ihrer gekonnten Berliner Schnauze. Mehr aber noch als mit ihrem Gesang punktet sie mit der Darstellung dieser facettenreichen Figur, die uns allen den Spiegel vorhält, was fehlenden Nonkonformismus und ausbleibende Zivilcourage betrifft.
Die Figur des Herrn Schulz durch den ebenfalls reifen Gesangsdarsteller Thomas Marx geben zu lassen, ist ein Volltreffer für diese Produktion. Sein freundlich-charmantes, zurückhaltend-edles, fast aristokratisches Auftreten in der Rolle des jüdischen Gentlemans entlockt nicht wenigen im Auditorium ein Lächeln und erinnert überzeugend uns alle, dass Liebe zu allen Zeiten und in allen Lebensaltern möglich sein kann. Marx´ Stimme atmet (etwa beim Song „Miesnick“) manch zarte Nuance von unterschwelliger Ironie und eben grenzenloser Verliebtheit mit einer Zartheit, die man bei seiner reifen Stimme kaum erwartet.
Sein klarer Blick auf seine Liebe zu Fräulein Schneider und seine subtile Zielstrebigkeit sind Ermunterung und optimistische Haltung, sein unklarer Blick auf die heraufdämmernde braune Zeit mit Verfolgung, Ausgrenzung und Diffamierung (alles jüdischen Lebens in Deutschland) ist leider auch enorm: „Ich kenne die Deutschen! Ich bin ja selber einer!“ Wie fatal!
Ansonsten besetzt man weiteste Teile der umfangreichen Personnage mit Gästen aus dem Musical-Fach. Das tut der sängerischen Seite der Unternehmung spürbar gut und verhilft ihr zu seltener Homogenität. Allerdings trägt auch eine gut ausbalancierte Tontechnik das Übrige zu diesem Eindruck bei.
Von dem rotzfrechen Fräulein Kost von Kira Primke bekommt man vor allem mit, wie man sich trefflich durchs Leben schlägt und seinen Körper gewinnbringend zu Markte trägt; vor allem bei den Einheimischen („Für Deutschland!“). Ihr einziger gesanglicher Beitrag kurz vor der Pause („Der morgige Tag ist mein“) zeigt eindrücklich, dass sie über eine sehr schöne, feine Stimme verfügt. Dieses Lied, das von Ferne an Silchers „Loreley“ oder das zu Nazizeiten bekannte „In einem kühlen Grunde“ (Film „Comedien harmonists“) erinnert, singt sie mit glasklarer und poetischer Stimme. So zart indes wie das „Volks“lied begann wird es nicht fortgesetzt.
Hagen Bähr als nazihöriger Drahtzieher Ernst Ludwig, der Cliff gehörig unter Druck setzt und zum Schmuggel von Geheimpapieren verführt, ist als langgewachsener, blonder Arier-Typ die Idealbesetzung. Er gibt den schmierigen und im weiteren Verlauf der Geschichte zunehmend radikalisierten und gewaltbereiten Handlanger des neuen Regimes, der als braves Parteimitglied alle Befehle befolgt, alles nicht Kompatible, Andersartige, vermeintlich Entartete schon im Keim zu ersticken versucht. Seine Aufmischung und Zerstörung der heiteren Atmosphäre bei der Verlobung von Schulz und Schneider ist da pars pro toto Sinnbild für eine korrumpierte Persönlichkeit. Sein falsches Englisch, was er gar nicht zu verbergen sucht, entlarvt ihn als Dümmling, seine teuflischen Verführungen des etwas naiven Cliff mit „Freundschaftsdiensten“ sind berechnend und durchsichtig. Eine gelungene Darstellung eines Mephisto in Nadelstreifen! (Gustav Gründgens und sein alter Ego Karl Maria Brandauer lassen grüßen).
Kitkat-Ensemble/Choreographie & Band/Leitung
Tänzerische und musikalische Treiber des Abends waren die hinreißende Kitkat-Group und eine blendend aufgelegte Band rund um ihren musikalischen Leiter, den neuen 2. Kapellmeister Eric Staiger.
Die schillernde Welt des Cabaret-Clubs wurde von sechs körperlich blendend und absolut synchron agierenden Damen und Herren nicht nur getanzt, sondern mit Hingabe gelebt. Die Choreographie von Kati Farkas passte sich den wechselnden Facetten der Story chamäleonartig an.
Die jeweils zur Hälfte aus Mitgliedern des Oldenburgischen Staatsorchesters sowie versierten Freelancern bestehende Band wurde von Staiger am Flügel subtil und unaufdringlich, aber äußerst effektiv geleitet. Man fühlt sich in die Unterhaltungsszene des Berlins der 20er Jahre zurückversetzt: Charleston, Swing, Ragtime und Jazz kamen höchst stilecht daher, auch in der reduzierten Orchesterfassung. Hier leistete vor allem die Rhythmusgruppe eine prachtvolle, groovige Folie, auf der die gegenübersitzenden Bläser sich schmissig entfalten konnten. Allein dieser Soundtrack, inklusive Barsongs vor Stückbeginn und Zugaben im Abspann und beim Verlassen des Saals rechtfertigt einen Besuch dieser Show!
Der an wenigen Stellen, vor allem im erschütternden Song vor der Pause (auch) im Auditorium eingesetzte Opernchor des Hauses unterstreicht die hohe Güte der Massenszenen (Thomas Bönisch).
Fazit
Am Vorabend des 2. Weltkrieges darf man sich noch einmal in das goldene vorangegangene Jahrzehnt hinwegträumen. Doch die Zeit ist vorbei, der Glanz verblasst, das Unheil zieht auf. Mit Macht und mit Gewalt, aber ohne den mitzudenkenden Deutschen Gruß und die Hakenkreuzbinde wird die lebensfroh-sinnliche, lasziv-bunte und liberal-weltoffene Gesellschaft umgebogen.
Diese enorme Fallhöhe zwischen musikalisch-szenischer Droge und düsterem Blick in die Fratze des Nazihorrors vermittelt die Inszenierung brillant. Dabei ist das überschäumende Ensemble singend, tanzend und spielend ein allerbester Sachwalter der Partitur und des politischen Untergrundes, der das gesamte Stück subversiv unterwandert und diese glanzvolle Fassade des Varieté- und Clublebens wie ein Virus zerfrisst. Am Ende bleiben alle bis auf Cliff ver- und zerstört zurück, am stärksten die orientierungslose Sally, um schon jetzt in einen furchtbaren 15jährigen Abgrund zu schauen.
Minutenlange stehende Ovationen und nicht enden wollende „Bravi!“ für ein Ensemble und einen möglicherweise aufgehenden neuen Stern am Musicalhimmel in Gestalt von Sophia Euskirchen.
Epilog
„Ich glaube, dass sich all dieses Grau hier in Blau verwandeln wird!“ sagt Herr Schulz zu Fräulein Schneider auf dem Höhepunkt ihres gemeinsamen Glücks.
Hier sollte man seine Farb-Wahl ruhig etwas wörtlich nehmen! In der Story von Ebb und der Musik von Kander wird das schon erkennbare Desaster die braune Farbe tragen. Die Braunen von heute aber sind eben blau (AfD) und tarnen sich wie ehedem erneut als völkisch und vaterländisch. Trefflich fällt in diesem Zusammenhang ein- und erstmalig das Wort „Remigration“ als deutlicher Bezug zur Jetztzeit der „neuen Rechten“ (s.o.).
Wehret den Anfängen! Oder mit Bertold Brechts „Arturo Ui“: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“
Wenn man die derzeitigen gesellschaftlichen Brüche beobachtet, die zunehmende Fragmentierung unserer Gemeinschaft erlebt, die ausufernden woken Diskussionen um vielfältigste Themen, die immer weiter zunehmende Radikalisierung von Interessengruppen, dann darf man nicht lockerlassen, in den Dialog zu gehen, tragfähige Lösungen im Konsens und mit Respekt zu erzielen, den Kompromiss zu suchen.
Dass die Gefahren nicht ausnahmslos von rechten Gruppierungen zu erwarten sind, deuten neue Anbieter auf dem politischen Markt an. Aber auch das linke Lager ist nicht untätig, zu spalten, zu polarisieren, zu verunglimpfen: Auf dem Weg nach Hause fanden sich massiv plakatierte Aufrufe zu Oldenburger Straßenblockaden im großen Stil, und auf eine der Außenwände am so herrlichen klassizistischen Bau des Oldenburgischen Staatstheaters fanden sich die aufgesprühten politischen Botschaften inklusive des Absenders „Letzte Generation“. Wehret jeden Anfangs!