Oldenburg, Oldenburgisches Staatstheater, HÄNSEL UND GRETEL - E. Humperdinck

Wenn nach acht Jahren und 50 Vorstellungen das Feuer einer Inszenierung auch nach mehrfachen Wechseln im Solistenensemble, im Orchester und im Dirigat noch ungebremst lodert, dann spricht das für die Qualität der Regiearbeit und für die Verve und Leidenschaft aller Interpreten.

Oldenburg, Oldenburgisches Staatstheater, HÄNSEL UND GRETEL - E.  Humperdinck
Oldenburgisches Staatstheater @ Stephan Walzl

Ab in den Ofen! - Gedanken zur Erfolgsgeschichte von Humperdincks Märchenoper am Oldenburgischen Staatstheater

 von Thomas Honickel

Wenn nach acht Jahren und 50 Vorstellungen das Feuer einer Inszenierung auch nach mehrfachen Wechseln im Solistenensemble, im Orchester und im Dirigat noch ungebremst lodert, dann spricht das für die Qualität der Regiearbeit und für die Verve und Leidenschaft aller Interpreten, die sich dieser Idee immer wieder aufs Neue aussetzen und sich mit allen Kräften für das Werk einsetzen. So auch in der jetzt besuchten finalen Jubelvorstellung am 26.12.2023 im Oldenburgischen Staatstheater, die vom scheidenden Intendanten Christian Firmbach 2015 initiierte wurde.

HÄNSEL UND GRETEL - youtube Oldenburgisches Staatstheater

Die Oper in Oldenburg

In der Vorgängerintendanz hatte man mit einer experimentellen Deutung des romantischen Opus Magnum Hänsel und Gretel von Humperdinck noch dazu in einer Ausweichspielstätte einigermaßen Schiffbruch erlitten, weil man meinte, das Werk auf links drehen zu müssen.

Vor neun Jahren ziemlich zu Beginn der Ära Firmbach entschied man sich in Oldenburg 2015 für eine Deutung, die dem Märchenhaften des Stoffes den Vorrang zuweist, der ihm gebührt; und ehrlich gesagt, den der weitaus überwiegende Teil des generationsübergreifenden Publikums auch erwartet. Der Brite Michael Moxham schuf mit seinem Team eine Deutung, die viel Erwartbares bedient, gleichzeitig aber an zentralen Stellen eigene Sichtweisen in Bilder setzt. Dabei kommt der britische Humor nicht zu kurz. Im Tenor jedoch bleibt das Märchen ein Märchen; wer mehr sehen oder ahnen möchte, dem bleibt an einigen Stellen dazu durchaus die Möglichkeit. Insofern schuf Moxham hier tatsächlich eine generationsübergreifende Inszenierung, die nicht ohne Grund ihre neunte Wiederaufnahme erfährt. Karten sind da nur schwer zu erhaschen!

Die fast neunminütige Ouverture mit allen relevanten musikalischen Themen ist eine Art kleine sinfonische Dichtung, die Moxham für ein Schattenspiel nutzt, in dem nun wiederum der Vater gar nicht gut wegkommt. Denn er schließt mangels pekuniärer Masse einen Pakt mit der Hexe. Und, wie wir später erfahren, setzt er davon gleich einen Teil in Hochprozentiges um.

Hänsel und Gretel - Oldenburg @ Stephan Walzl

Heim und Hof als Projektionsflächen

Wenn der Vorhang sich hebt, erleben wir die beiden Rangen, wie sie alles Mögliche machen, nur keine „Hausaufgaben“. Schulpflicht war zu Humperdincks Zeiten trotz wohlfeiler regionaler Bemühungen noch nicht flächendeckend eingeführt. Endgültig wurde es deutschlandweit erst in der Weimarer Regierungszeit 1919 verabschiedet.

Die Mutter kommt nach Hause, Riesen-“theater“, weil die Kinder keine ihnen aufgetragenen Arbeiten erledigt, sondern nur gespielt (!) haben. Die pure Verzweiflung der Mutter, die der Komponist trefflich in Töne fasst, führt dazu, dass die Kinder in den Wald gejagt werden zum Erdbeerpflücken. Der Kontrast zur stark alkoholisierten Arie des Vaters direkt anschließend könnte danach nicht größer sein. Plötzlich und unerwartet ist der Vater ernüchtert, als er vernimmt, dass die Kinder auf dem Weg zum hexenumwitterten Ilsenstein sind, um Erdbeeren zu suchen. Die Eltern setzen den Kindern nach.

Diese Eröffnungsszene ist vielleicht der schwierigere Teil einer Inszenierung, weil über Minuten hinweg kaum Handlungsenergie entsteht: Tanzen, Schimpfen, Trauern, Torkeln, entsetzte Flucht. Das Ganze dauert gut 40 Minuten und bedeutet stimmlichen und körperlichen Einsatz und viel musikalischen Schwung. Den bringen alle vier Protagonisten uneingeschränkt auf die Bühne, weshalb einem die Zeit wie im Nu vergeht. Selbst der Milchkrug fällt punktgenau zur Musik!

Der aufmerksame Zuschauer merkt sich hier schon einmal einige der Bühnenelemente, Requisiten und Stimmungsanteile, die im zweiten Wald-Bild zitiert, kopiert oder ironisiert werden. Hier schlägt die Stunde des Ausstatters Jason Southgate: Die Übernahme des Küchenschrankes, der überdimensioniert als Felsen zu Ilsenstein erscheint (und von ferne an einen alten Grabstein erinnert), ein Koffer auf dem Küchenschrank, der im folgenden Bild überraschend zum Erdbeerkörbchen mutiert, Küchenutensilien, Ofenrohr und Herd, die in ähnlicher Weise im Hexenbild erscheinen, und die Sandmännchen-Puppe von Gretel, mit der sie anfangs versonnen spielt und die letztlich beschützend und beruhigend, dreidimensional und singend lebendig wird: „Tranquilizer“ für möglicherweise beunruhigte Kinder im Auditorium.

Hänsel und Gretel - Oldenburg @ Stephan Walzl

Eine kluge szenische Anlage, die solche Details vor allem auch für reifere Hörer bereithält, die sich darob Gedankenspielen aussetzen können, die vielfältigste Assoziationen auslösen mögen: Entwicklungsphasen junger Menschen, Fernweh und Heimweh, Erinnerung und Endlichkeit.

Auch die recht unselige Rolle der Eltern, die am Ende der Oper ihren Kindern möglicherweise belastende Dinge/Attribute an die Hand geben, schwingt hier nach, wenn Hänsel das Schwert als maskulines Machtattribut erhält und Gretel aus der Hand der Mutter (Hexe?) eine geheimnisvolle Glasphiole aus dem Arsenal der verbrannten Zauberin. Da kann man sich fragen, welche Fußstapfen hier vorgezeichnet werden und ob hier wahlweise eine neue Marie Curie oder eine Hexe 2.0 geformt wird. Epigenetik im Gewand des Märchens, die man gedankenvoll als Erwachsener mit nach Hause trägt!

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