OBHUT - Wiegenlieder - INCIPIT NOVUM RECORDS, IOCO CD-Rezension, 12.06.2023
OBHUT - CD © INCIPIT NOVUM RECORDS
OBHUT - Wiegenlieder zum Wachwerden
CD Rezension von A. Schneider
Eine außergewöhnliche CD liegt hier vor. Außergewöhnlich ihrer Intention, ihrer Gestaltung, ihres Namen, ihres Erscheinungsbildes wegen. OBHUT steht auf dem Cover, in feiner Schreibschrift über gleich fein gezeichneten Händen, die sich schützend über einer Menge zierlicher Köpfe legen oder sie in Obhut genommen haben.
Dreht sich die Scheibe im Spieler, erschließt sich alsbald der Sinn der Namensgebung. Es sind Wiegenlieder, vielfach jüdischer, indessen auch anderer Provenienz. Ihrer angenommen hat sich ein Ensemble, das den etwas kryptischen Namen "echo_von _ nichts" trägt, und sich hier aus einem Sopran, einer Quarzschalenspielerin, einer Pianistin, einem Kontrabassisten und einem Sprecher zusammensetzt.
Sofern Wiegenlieder die Vorstellung von zärtlichen Worten wecken, auf sanften, “einlullenden“ Melodien von einer Mutter zu ihrem Kind gesungen, so bietet die außergewöhnliche Klangformation vielfach Weisen, die nicht unbedingt dieses trauliche Bild bestätigen.
Obhut ist kein gängiger Begriff. Allmählich verschwindet er anscheinend aus dem Sprachgebrauch und ist vorwiegend eben in dem Topos “in Obhut nehmen oder geben“ noch auffindbar. Dabei spiegelt sich in dem Wort mit seinen beiden Silben, des >Ob<, als das darüber Wachen, und >hut<, als das Behüten, – siehe obige Grafik – genau die innige Beziehung, jene dauernde Einheit von Mutter und Kind.
Der allen süßen Singsangs bare vibratoarme luzide Sopran mitsamt dem ihn umhüllenden Klangnebel der mit einem weichen Stab geriebenen Quarzschalen schaffen die Abenddämmerung für das schlof mayn feigele, (schlaf mein Vögelchen), und Gleiches geschieht in dem ani ma’amin (ich glaube aus tiefstem Herzen, der Messias wird kommen). Die beiden Musikerinnen wissen um die melancholische Tönung jenes auf Jiddisch gesungenen einfache Schlaflieds wie der hebräischen Lyrik eines Glaubensbekenntnisses. Zugleich meint man einen Subtext herauszuhören, in dem die Mutter die drohend armselige Existenz eines ostjüdischen Kindes zu bannen sucht oder ihre Hoffnung auf den Messias richtet.
Gröber, grimmiger gebärden sich Bertold Brechts Vier Wiegenlieder einer Arbeiterfrau, gestützt auf die Pfeiler der harten Klavierakkorde des Komponisten Hans Eisler. Auch hier kein Eiapopeia, eher eine von der Mutter aggressiv gestimmter wie angestimmter Aufruf an ihr Kind zum Kampf heraus aus der Schatten- und hin auf die sonnigere Seite des Daseins. Das Lied einer deutschen Mutter von 1942 ist der triste leidvolle Abgesang einer klassenbewussten (Bert Brecht!) Arbeiterfrau auf ihren Sohn, der zum Hitlergetreuen wurde und in dessen barbarischem Krieg demzufolge zugrunde geht. Ingala Fortagne gibt dieser Mutter zwar eine ob ihrer Verzweiflung fahle Stimme, gleichwohl bleibt deren ungebrochener Widerstand gegen das Regime vernehmbar. Eine eindrückliche Erzählung. Was im Grunde ebenso für die weiteren erwähnten und nicht erwähnten Stücke gilt, je unterschiedlicher auch deren Intentionen sein mögen,
Das sind nur ein paar aus den 25 Tracks der CD. Aus Norwegen, Ukraine, Katalonien stammen andere Lieder. Unerwartet lieblich klingt Arvo Pärt in seinem Weihnachtlichen Wiegenlied, Giacinto Scelsi hat für seine Pater Noster und Ave Maria die erwartet herben Töne gefunden, und von Franz Schubert wurde Vom Mitleiden Mariä D632, ein recht gefühlsattes Gedicht Friedrich Schlegels, in recht nüchterne Musik gesetzt,.
Alle Lieder werden von dem Ensemble wahrlich in Obhut genommen, und wennschon unter dem Begriff Wiegenlied subsumiert, bieten sie zunächst wenig davon, was man sich gemeinhin von ihnen erwartet. Weit fern von Süße und Sentimentalität bilden sie ob ihrer Kunstgestalt genauso wie mittels des Ensembles Kunst gleichermaßen Liebe und Fürsorge der Mütter ab wie Sorge und Schmerz um ihr Kind.
Conclusio: keine CD, die beim Anhören in den Sekunden- oder einen längeren Schlaf wiegt. Für diejenigen, die offenen Sinnes für Neues sind, gilt: Zugreifen!
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Ein Manko indessen ist zu erwähnen, kein interpretatorisches, sondern ein philologisches. Es bedeutete einen Gewinn, wären manche Texte des Booklets im Original abgedruckt; Jiddisch ist auf den ersten Blick hin gewiss nicht leicht verständlich, liest man es sich aber laut vor, gewinnt man einen Eindruck von diese durchaus poetischen Sprache. Auch die Lyrik Brechts hätte das verdient und die dazwischengeschobene und gesprochene Prosa einiger Songs des seligen Beatle John Lennon nicht minder. Doch gültig bleibt nach wie vor obiges Postulat: Zugreifen!