Nantes, THÉÂTRE GRASLIN, IL PICCOLO MARAT - Pietro Mascagni, IOCO
EINE DÜSTERE BLUTIGE GESCHICHTE AUS DER ZEIT DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION… Die gewaltsamen Ertränkungen in Nantes… Mitten im Vendée-Krieg, in dem die Royalisten gegen die republikanischen Truppen ....
ANGERS NANTES OPÉRA - THÉÂTRE GRASLIN, NANTES - 03.10.2024 - Pietro Mascagni: IL PICCOLO MARAT (1921) - Oper in drei Akten mit einem Libretto von Giovacchino Forzano
von Peter Michael Peters
EINE DÜSTERE BLUTIGE GESCHICHTE AUS DER ZEIT DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION…
Die gewaltsamen Ertränkungen in Nantes…
Mitten im Vendée-Krieg, in dem die Royalisten gegen die republikanischen Truppen antraten, versammelte die Stadt Nantes in ihren Gefängnissen im Bouffay-Viertel die sogenannten „Räuber“, die gegen die Revolution waren. Im Auftrag des Nationalkonvents, dieser Revolte ein Ende zu setzen, ertränkte der Prokonsul Jean-Baptiste Carrier (1756-1794) innerhalb weniger Monate Tausende von Gegnern in der Loire.
Es ist eine der blutigsten Episoden des Terrors. Im Herbst war die noch junge Republik mehrere Monate lang mit Bauernaufständen konfrontiert. In ganz Westfrankreich kämpften die royalistischen Anhänger, die Chouans aus der Bretagne und die Vendéens gegen die revolutionären Truppen. Der Bürgerkrieg tobte und das von Maximilien Robespierre (1758-1794) angeführte Komitee für öffentliche Sicherheit schickte Carrier nach Nantes, um den Aufstand mit allen Mitteln niederzuschlagen. Der neue Prokonsul, der den Terror anwenden sollte, traf am 16. Oktober 1793 in der Präfektur Loire-Atlantique ein, während die Armeen der Revolution allmählich die Oberhand über die Royalisten gewannen. Tausende von Gefangenen aus der Bretagne oder der Vendée wurden mit Gewalt nach Nantes geschleppt. Männer, Frauen und Kinder – gefangene Kombattanten mit Waffen in der Hand oder einfache Menschen, die zu Recht oder zu Unrecht als Feinde der Revolution galten – wurden in Gefängnisse eingesperrt, wo die Insassen in den düsteren Kerkern zusammengepfercht waren. Die Klöster der Kapuziner und der Karmeliter wurden wiederum in Gefängnisse umgewandelt, ebenso wie das Kaffee-Lagerhaus im Hafen von Nantes.
Schnelle brutale Gerechtigkeit…
Wenige Tage nach seiner Ankunft setzte Carrier eine revolutionäre Militärkommission ein, deren Aufgabe es war, diese „Räuber“ zu verurteilen. So wurden die Aufständischen von den Republikanern bezeichnet: „…ein Begriff, den wir heute mit Terroristen übersetzen würden“, erklärte der Historiker Bruno Hervé (*1966). Dabei handelt es sich keineswegs um eine bloße Beleidigung, sondern um eine rechtliche Qualifikation, die die Republik dazu ermächtigt, gegen sie Krieg zu führen, ohne ihren Status als Kriegsführende anzuerkennen und sie so zu „Geächteten“, sowohl durch Gesetze definierten strafrechtlichen Repressionen zu verurteilen. Verliefen die Prozesse zu Beginn noch normal („nur“ 28% der Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, im Vergleich zu 43% wurden wieder freigesprochen), wollte Carrier die rebellischen Geister markieren und wollte eine sogenannte schnelle Gerechtigkeit. Sie werden im Lagerhaus erschossen, im Gefängnis werden sie guillotiniert. Aber es geht nicht schnell genug, zumal sich der Gesundheitszustand der Gefangenen verschlechtert und die Angst vor dem Ausbruch einer Epidemie auf den Straßen von Nantes besteht! Große Übel gehen mit großen Mitteln einher! Am 16. November 1793 mitten in der Nacht, versammelte man eine Gruppe von etwa 90 widerspenstigen Priestern, die sich geweigert hatten der neuen Republik die Treue zu schwören, in einem Lastkahn, einem Boot mit flachem Boden, das zum Transport von Gütern auf dem Fluss diente. Mit gefesselten Händen, paarweise gefesselt, sind sie im Frachtraum eingesperrt. Das Boot wird in die Flussmitte gebracht, bevor es von Carriers Handlangern versenkt wird.
Ein grausames Nationalbad…
Der 37jährige Carrier ist überzeugt, dass er die ihm anvertraute Aufgabe korrekt erfüllen muss und sich so für den Schutz der Revolution einsetzen wird. Nach dem „Erfolg dieses ersten Versuchs“ beschloss der Prokonsul als guter Techniker, das was er zynisch „vertikale Deportation“ oder „Nationalbad“ nannte, zu vervielfachen. Das Ertrinken sei eine schnelle wirksame und radikale wirtschaftliche Methode, stellt er fest und zögert nicht sie dem Konvent zu melden, der die Tatsache begrüßt, sodass die Loire in einen so genannten „revolutionären Todesfluss“ verwandelt wird. „Dies ermöglicht die schnelle Tötung einer größeren Zahl von Menschen, zwischen 300 und 400 pro Lastkahn, im Vergleich zu 50 bis 200 täglichen Hinrichtungen auf Befehl der Kommission“, analysiert Hervé. Sie ermöglichen es auch, dem Vergraben von Leichen zu entgehen, eine Aufgabe, die von den Soldaten abgelehnt wurde. Schließlich ist bei Ertränkungen nicht der Einsatz regulärer Truppen erforderlich, deren Einsatz rechtlichen Beschränkungen und Verhandlungen mit der Militärbehörde unterliegt.
Mehrere tausende von Toten…
Das Ritual ist immer das Gleiche: Die Gefangenen werden unter dem Vorwand der Überstellung aus den Gefängnissen auf die Pontons des Hafens von Nantes gebracht. Die Gefangenen wurden gezwungen, sich auszuziehen, bevor sie auf die Boote verladen wurden, die anschließend mitten im Fluss versenkt wurden. Wem die Flucht gelingt, wird mit Rudern oder Schwertern erschlagen und nur sehr wenigen gelingt die Flucht. Zwischen Anfang Dezember 1793 und Februar 1794 verschwanden zwischen 1800 und 4800 Opfer in der Loire, ohne dass es irgendeinen korrekten Prozess gab. Die Habseligkeiten der Ertrunkenen werden dann von ihren Henkern geteilt oder verkauft. Die Misshandlungen, die größtenteils mitten in der Nacht stattfanden, bleiben für die Augen der Bevölkerung von Nantes nicht unsichtbar. Die Bewohner sehen zahlreiche Leichen, die an den Ufern der Loire angespült werden und hier und da von streunenden Hunden oder Aasfresser angegriffen werden. Aus Angst vor einer Kontamination verbietet die Gemeinde den Bewohnern von Nantes sogar, Wasser aus der Loire zu trinken oder auch dort keinen geangelten Fisch zu essen. Tatsächlich verschlimmerten die Ertränkungen die Typhusepidemie, die in der Stadt ausbrach.
Il Piccolo Marat: Der Terror in Nantes aus der Sichtweite der Italiener…
Die Französische Revolution hat transalpine Künstler jeher fasziniert, seit dem Epos des italienischen Feldzugs, das in Giocomo Puccinis (1858-1924) Tosca (1900). Pietro Mascagni (1863-1945) wiederum illustrierte dreißig Jahre später ein weniger bekannte Episode, die der Ertränkten in Nantes, in einem vergessenen Werk, Il Piccolo Marat mit einem Libretto von Giovaccino Forzana (1883-1970).
Als Mascagni, der berühmte Komponist der Oper Cavalleria Rusticana, seinem schillernden Triumph von 1890, dreißig Jahre später die Komposition einer neuen Oper in Angriff nahm, war es ganz natürlich, dass er sich – weil er Inspirationen brauchte, der Französischen Revolution zuwandte. Es ist nicht das erste Mal! Viele Jahre zuvor war ihm ein Entwurf zu einer Oper über Marie Anne Charlotte de Corday d‘Armont (1768-1793) angeboten worden. Wie Puccini vor der Marie-Antoinette d’Autriche (1755-1793), für die sein Freund Luigi Illica (1857-1919) vorschlug, das Libretto einer Oper zu schreiben, schreckte der zunächst verführte Komponist schließlich zurück. Instinktiv schien es ihm, dass es nicht die beste Art sei, mit der blutigen Zeit des Terrors umzugehen, eine historische Figur in den Vordergrund zu stellen, wie es Umberto Giordano (1867-1948) im Jahre 1896 mit Andrea Chénier getan hatte. Ohne einen identifizierten Helden könnte eine Oper über die Französische Revolution die Aufmerksamkeit der Menschen besser erregen.
Ein Thema im Zeitgeist…
Es muss daran erinnert werden, dass die Atmosphäre in Italien drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gelinde gesagt explosiv war. Besonders eloquent ist die Schilderung der Fakten rund um die Uraufführung von Il Piccolo Marat am 2. Mai 1921 im Teatro Costanzi in Rom. Im Januar kam es während eines Kongresses in Livorno, Mascagnis Heimatstadt, wie in Frankreich einen Monat zuvor, zu einer Spaltung zwischen sozialistischen und kommunistischen Parteien. Die Linke war überaus destabilisiert und Benito Mussolinis (1883-1945) Anhänger sollten bald das ganze politische Leben Italiens übernehmen. Bei den Wahlen vom 15. Mai gewannen sie mit den Rechten. Im September wurde die Nationale Faschistische Partei gegründet, bevor am 27. Oktober 1922 der Marsch auf Rom begann, der Mussolini drei Tage später an die Macht brachte. Sowohl Mascagni als auch Puccini, der sich mit der Komposition seiner letzten Oper Turandot (1926) beschäftigte, verfolgen alle diese politischen und gesellschaftlichen Unruhen sehr aufmerksam. Seine Sensibilität ist daher auch eher linksgerichtet. Später, im Jahr 1929 schloss er sich unverständlicherweise vollständig Mussolini an.
Die Sicht der Italiener auf die Ertränkungen in Nantes…
Die Ursprünge des zeitgenössischen Frankreichs, eine bedeutende Studie des Philosophen Hippolyte Taine (1828-1893), war ab Mitte der 1870er Jahre in mehreren Bänden erschienen. Sie wurde auf der anderen Seite der Alpen von Taines italienischen Biographen weitergegeben. In den vier Bänden dieser beeindruckenden Sammlung zur Französischen Revolution fanden wir zahlreiche Details darüber, wie sich die Republik und dann der Terror den Provinzstädten aufgedrängt hatte. Mascagni konnte diese Schrift nicht ignorieren, aber wir wissen, dass sein Librettist Forzano und er selbst zwei weitere Werke in ihren Händen hatten: Les Noyades de Nantes (1912) von Gaston Lenôtre (1855-1935), eine veröffentliche Zusammenstellung der früheren Schriften von Alfred François Lallié (1832-1913) über das Thema und auch Sous la Terreur, Souvenirs d’un vieux Nantais von Victor Martin (1886-1945), veröffentlicht im Jahr 1906. Alle Details, die wir in Il Piccolo Marat finden, stammen aus diesen perfekt informierten Büchern über die „Marats“, eine Polizei-Gruppe, speziell gegründet von Jean-Paul Marat (1743-1793) die mehr Polizisten als Soldaten waren und beauftragt waren in der Stadt Nantes alle überfüllten Gefängnisse radikal zu säubern von allen Verdächtigen, vor allem religiösen Ordens-Mitglieder und Adligen. Diese Gefangenen wurden brutal zu Tausenden in der Loire auf Lastkähnen oder holländischen Galioten ertränkt.
Eine Rettungs-Oper…
Doch der Komponist will sich entschieden von der Geschichte befreien! Der Name Nantes wird nirgends wo erwähnt. Das Gleiche gilt für Carrier! Der finstere Organisator der Ertränkungen, der vom Konvent nach Nantes delegiert wurde, wird mit dem Präsidenten des Revolutionskomitees verglichen, der im Libretto von Forzano den Spitznamen L’Orco trägt. Tatsächlich hat hier keine Figur einen Nachnamen, ausser der der Princess de Fleury, La Mama der Person, die wir nur Il Piccolo Marat nennen wollen. Wir werden nacheinander Il Soldato, La Spia, Il Ladro, La Tigre und natürlich Il Carpentiere treffen, der Konstrukteur der Boote, der mit einer großen Ladung von Gefangenen auf die Loire fährt und sie dort versenken wird. Denn Mascagni, der seit seinen Anfängen als Verismus-Künstler beschrieben wird, wollte diesmal eine Oper schaffen, die eher symbolisch als realistisch ist. Vielleicht, damit seine Zeitgenossen darin implizit ein Echo der revolutionären Unruhen lesen konnten, die sein Land damals erschütterten. Und auf jeden Fall wollte er diese Tragödie, die gut endet, in den Rang eines Dramas in eine zeitlose Dimension zu heben. Wir können nicht anders, als Il Piccolo Marat mit einer anderen Rettungs-Oper zu vergleichen: Les Deux Jours ou le Porteur d’eau, die 1800 von Luigi Cherubini (1760-1842) nach einem Stück von Jean-Nicolas Boilly (1763-1842) komponiert wurde. Letzterer ließ sich ebenfalls von einer Episode des Terrors inspirieren, so wie er es bereits bei Leonore ou l’Amour conjugal (1798) getan hatte, die unter der Feder von Ludwig van Beethoven (1770-1827) zu der Oper Fidelio (1805) werden sollte, einer weiteren Oper mit rettendem Ende. Cherubini und Boilly wurden für Les Deux Jours ou le Porteur d‘eau von der Zensur gezwungen, ihre lyrische Komödie in die Zeit der Fronde zu verlegen, aber die Erinnerung an den Terror war bei ihren Zuschauern noch sehr präsent, stärker als bei denen von Il Piccolo Marat im Jahr 1921.
Melodische Erfindung und Expressionismus…
Mascagnis Partitur für seine Oper – Nerone aus dem Jahr 1935 war größtenteils bereits zuvor komponiert worden – erscheint in mehr als einer Hinsicht originell. Wir haben das Gefühl, dass der Komponist dieses Etikett, das seiner Musik dreißig Jahre anhaftete, loswerden möchte. Seine melodische Inspiration scheint unerschöpflich und wir können nur an die seines Freundes Puccini denken, dem Kritiker während ihrer parallelen Karrieren immer wieder Widerstand entgegenbrachten. Die Modernisten und insbesondere die Unterzeichner der Futurismus-Bewegung im Jahr 1910, zu deren Mitgliedern Franscisco Balilla Pratella (1880-1955) auch gehörte, ein Schüler von Mascagni, konnten durchaus gegen die Exzesse der Melodie in der Oper rebellieren und sie bevorzugten Kraft, Geschwindigkeit und die Hektik der modernen Welt. Dennoch befand sich die Kunst des Komponisten von Il Piccolo Marat auf ihrem Höhepunkt. Die Partitur ist von ruheloser und düsterer Eloquenz und vermittelt eine zurückhaltende, aber stets explodierenden Gewalt, die durch die ihr zugrunde liegende Energie an Expressionismus erinnert, der eher germanisch als italienisch ist. Ein voller Erfolg, der uns ermutigt, nicht bei vorgefassten Meinungen über die Musik von Mascagni stehen zu bleiben…
IL PICCOLO MARAT - halbszenische Aufführung - Théâtre Graslin, Nantes - 3. Oktober 2024
Ein Drama inmitten des Terrors…
Die Direktion der Anger Nantes Opéra hat mit viel Erfolg bewiesen, dass es immer noch hervorragende konstruierte Opern-Partituren zu entdecken gibt, die dazu noch zum Nachdenken und Analysieren anregen, da die Genauigkeit dessen, was wir hören und sehen, weiterhin relevant bleibt. Sogar sehr erschreckend und äußerst aktuell!
Als Bewunderer seiner ersten, ebenso extravaganten wie mitreißenden Oper Cavalleria Rusticana, eine der überzeugendsten Säulen des Verismus, dürften wir verblüfft sein über die Härte, Brutalität und auch Gewalt, die Mascagnis in Il Piccolo Marat ausstrahlt. Es liegt natürlich daran, dass das Subjekt es praktisch befiehlt! Hiermit wollen wir auch dem französischen Direktor der Angers Nantes Opéra, Alain Surrans, der den Bewohnern an der Loire ermöglicht, einen noch wenig bekannten Abschnitt ihrer eigenen Geschichte zu entdecken, in dem die an der Loire organisierten grausamen Verbrechen ihren Höhepunkt mit völliger Unmenschlichkeit erreichten haben. Was auch perfekt die psychische Erregung des Charakters von Il Carpentiere ausdrückt, der vom berüchtigten L’Orco für eine monströse Aufgabe requiriert wird. Die Boote und ihre kontrollierten Böden ermöglichten so ein zynisches Massaker auszuführen mit einer genauesten technischen Planung , die andere unaussprechliche Genozide vorwegnimmt in unserer so abscheulichen Menschheitsgeschichte von barbarischen und politischen Taten.
Was also die Stärke des Werkes hier ausmacht, ist weniger der sentimentale Schwindel, den ein italienischer Komponist mit Post-Verismus im sogenannten Realismus anbietet will, sondern vielmehr eine quasi-philosophische und sogar sehr wichtige politische Reflexionen eines hoch aktuellen Themas. Mascagni, der beim Verfassen des Libretto von Forzana sehr engagiert war und bei Bedarf selbst eingriff! Die starke Herausforderung einer Handlung, die unter dem Regime des französischen revolutionären Terrors stattfindet, mit seinen irren Wahnvorstellungen und mit vielen Exzessen, auch allen möglichen Kollateralschäden perfekt abgeschätzt. Oftmals zum Nachteil des Volkes, trotz der Nachkommen der Machthaber, die oft in ihrem Namen verkünden: Dass sie zu ihrem Besten zu handeln! Mascagni folgt nicht dem vorherigen Beispiel von Giordanos Oper Andrea Chénier. Er zieht vor, den Tumult kollektiver und blutiger Aktionen auszudrücken. Eine Oper, die einer Historienmalerei würdig ist und nicht die Feier eines identifizierten glorreichen Helden.
Das erste Bild ist eindeutig: Jegliche Sentimentalität ist völlig verbannt und der Betrachter taucht ein in den Tumult einer von Hunger hysterischen Menschenmenge, die bereit ist bis zum Äußersten zu gehen, um hier die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Das Ausmaß und sogar die Wildheit des Refrains unterstreichen die Offenheit eines hochdramatischen Mascagni, der vor allem der melodischen Verführung, der Ausdruckskraft und der Wahrheit einer Szene des kollektiven Wahnsinns dient.
Was für ein Kontrast zum ersten Eröffnungschor, der den Schutz der Heiligen Maria für einen friedlichen Tod anfleht… In Wahrheit nichts dergleichen für die ertrunkenen Menschen in der Loire, denen die schlimmste aller tödlichen Folterungen vorbehalten sind: Eine kollektive Ermordung durch Ertränken! Nach einer kurzen Erinnerung an diese markante Vorgeschichte kann die Handlung daher ihren unüberwindlichen Schrecken entfalten.
Diese Halbszenische Aufführung ist eine völlig ausreichende Inszenierung von der italienischen Regisseurin Sarah Schinasi entwickelt worden nach ihrer Original-Szenografie am Teatro Goldoni Livorno, die sich insbesondere auch mit der allgemeinen Neugestaltung des Werks beschäftigte. Ihre Regie verstärkt sowohl den stumpfen und diffusen tödlichen Ausdruck einer fortschreitenden Angst, während die Szenen aufeinander folgen, als auch die direkte rohe wiederholte Grausamkeit, die auf der Bühne ausgeübt wird. Das absolute Böse, das die Figur von L’Orco verkörpert, drängt sich jedem der Protagonisten auf. Der italienische Bass Andrea Silvestrelli hat die stimmliche Tiefe und körperliche Präsenz für einer der dämonischsten Rollen der Opern-Geschichte: Sogar noch übler als Scarpia aus der Oper Tosca von Puccini. Jeder steht vor diesem ewig betrunkenen, manipulativen Tyrannen, der nur süchtig nach Diebstahl und Folter aus ist. Mascagni baute das Drama auf, indem er nach und nach die romantische Beziehung zwischen der Nichte Mariella, interpretiert von der italienischen Sopranistin Rachele Barchi als eine fast wehrlose Quasi-Märtyrerin von L’Orco und Il Piccolo Marat, einzigartig gesungen von dem italienischen Tenor Samuele Simoncini. Einem Komplizen-Duo von Anfang an für die Affäre um den Korb und seine angeblichen Lebensmittel, das dann aber immer mehr fusioniert wurde bis zu dem Moment, in dem die beiden verschweißten Herzen den Dämonen L’Orco an weiteren scheußlichen Taten zu behindern. Bevor Il Carpentiere, interpretiert mit dem ausgezeichneten griechischen Bass Stavros Mantis, dem Tyrannen den letzten tollkühnen tödlichen Schlag versetzt.
Entgegen aller Erwartungen erhält eine Figur eine dramatische und psychologische Tiefe von großer Bedeutung Il Soldato. Es ist wahr, dass der solide, leuchtende und geradlinige Gesang des tadellosen Italienischen Bass-Bariton Matteo Lorenzo Pietrapiana, der auch maßgeblich zur beeindruckenden Glaubwürdigkeit dieser zentralen Rolle beiträgt, eine sogenannte Stimme der Wahrheit, ideale Präsenz und gleichzeitig zerbrechlich und fest geißelt er jegliche Manipulation und Missbrauch wie Lügenregen ab. Als prächtiges Schwert der Gerechtigkeit und Billigkeit beschuldigt er direkt den Attentäter von Arras Robespierre und durch ihn die ungerechten Forderungen von L’Orco. Er prangert, enthüllt die Schmach der missbrauchten Macht! Er ist die Stimme der Freiheit und der bewundernswertesten humanistischen Werte, ein Erzengel: Der Liebe und Brüderlichkeit feiert! Aber die manipulierbare Menge verhält sich gegenüber seinen tugendhaften Ermahnungen taub und folgt lieber blind den üblen Worten des Tyrannen, der ein Experte in der Kunst ist, die Menge zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Il Soldato wird daher kurzerhand auf einem Tisch massakriert!
Allerdings wird sein Tod nicht umsonst gewesen sein, denn die Werte, die er verkörpert, kommen erst im 3. Akt voll zum Ausdruck – am erschreckendsten in dem Kampf der beiden Liebenden Mariella und Il Piccolo Marat gegen L’Orco. In diesen beiden Rollen mangelt es Barchi und Simoncini weder an Dezibel noch an Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Dämon…
In Bezug auf das Thema fungiert Mascagni gewissermaßen wie eine aktualisierte Wiederaufnahme von Fidelio: Il Piccolo Marat, ein eifriger Revolutionär, der sich für die republikanischen Partisanen einsetzte und kürzlich bei L’Orco rekrutiert wurde, ist in Wirklichkeit der Sohn der Princess de Fleury, d. H. der Prince Jean-Charles de Fleury, dessen einziges Ziel darin besteht, sie aus den Fängen des Despoten zu befreien, seine Mamma, wie sie in der Oper heißt, wurde zusammen mit anderen Adligen eingesperrt und wie diese gedemütigt, entkleidet und zum Ertrinken in der Loire verurteilt. Il Piccolo Marat wie Fidelio, ein Agent der Rache und auch eine bewundernswerte Figur des Mutes, der sich dem Dämon so nahe wie möglich nähert, um ihn besser zu täuschen und die beschlagnahmte Person zu befreien, die dem Tod versprochen wurde.
Im 3. Akt ist ein höllisches Rennen, ein Albtraum, in dem Terror mit aktiver Barbarei konkurriert, dominiert von der teuflischen Figur des L’Orco, dessen Bestialität sich in die schwärzesten Nächte verstecken will. Abscheuliche Szenen in einem Drama der barbarischen Brutalität und einer ebenso autoritären wie verlogenen Macht. Der Schauplatz des Terrors und der Belästigung! Der Schauplatz des kollektiven Wahnsinns! Alles verschwimmt gewissermaßen vor unseren Augen, um bis zur letzten befreienden Szene nach und nach endlich ein angsteinflößendes und erstickendes Klima unter Kontrolle zu haben.
Das Orchestre National des Pays de la Loire bringt die Partitur unter der rasenden und tollen Leitung des italienischen Dirigenten Mario Menicagli zum Glühen in ihrer schwarzen Perversität und besonders zu Beginn der Handlung in den wilden Chorszenen. Denn er versteht es auch, beim ersten Erscheinen von Il Soldato eine umhüllende und subtil melodiösere Seide zu spannen… Ein heller und plötzlicher Strahl in einem dunklen und düsteren Tunnel erhellt die düstere Nacht. Der Chor der Angers Nantes Opéra ist mehr als engagiert: Er ist einfach wirkungsvoll und professionell!
Wir würdigen die Angers Nantes Opéra für diese spektakuläre Entdeckung, die eines von Mascagnis letzten Werken enthüllt, dessen Intelligenz und dramatische Kraft auch ein wenig Licht auf einen erschreckenden Teil der Geschichte von Nantes wirft. Denn über die historische Episode hinaus hat der Komponist eine Hymne der Liebe und Brüderlichkeit gegen Tyrannei und Despotismus geschaffen.(PMP/11.10.2024)
Eine Kollaboration mit la Fondazione Teatro Goldoni / Livorno.