Musik ist der Atem der Welt - Essay von Magdalena Weingut, ioco-art, 04.11.2020
„Musik ist der Atem der Welt“
Essay von Magdalena Weingut.
Magdalena Weingut war vielbeschäftigte freischaffende Regisseurin und gibt ihrer kreativen Energie jetzt, solange das Kulturleben stillsteht, anders Ausdruck...nämlich im Schreiben, Festivals gründen, Initiativen ins Leben rufen, um dem, was im Moment nicht mehr existiert, nämlich "Kultur" irgendwie verbunden zu bleiben, und v.a. nicht zu ersticken, weil uns allen fast der Atem ausgeht. "Der Atem der Welt".
L’invisible/ die unsichtbare Energie:
Der Vorhang gefallen, der letzte Akkord verklungen- und dann dieser wunderbare Moment, wenn alles den Atem anhält. Keiner wagt eine Bewegung. Der Dirigent senkt noch nicht die Hände, die Musiker noch nicht die Instrumente, das Publikum hebt noch nicht die Hände zum Applaus. Die Sänger auf der Bühne verharren noch in konzentrierter Spannung.
Diese Millisekunden, bevor dann der Applaus einsetzt, die Premiere geschafft ist, all die Anspannung, Nervosität, Konzentration von einem abfällt - ein Gefühl, das man niemandem beschreiben kann, ein Gefühl, das man gespürt haben muss. Das Gefühl - dass dieser Wahnsinnsapparat, den wir mit dem fast banalen Wort “Oper” beschreiben, wieder einmal etwas so noch nie Dagewesenes auf die Beine gestellt hat! Ein Apparat, in dem alle noch so kleinen Zahnrädchen ineinandergreifen müssen, damit an Tag X um Punkt X für die 500-2000 Auserwählten das “bestellte” Hör- und Seherlebnis stattfindet. Denn, Sie, wertgeschätztes Publikum, haben die unglaubliche Chance- jeden einzelnen Abend, den Sie im Theater sehen, etwas vollkommen Einzigartiges zu erleben! Etwas nie Dagewesenes, etwas das so nie wieder stattfinden wird!
Jeder Abend ist anders!
Spüren Sie die Energien, die fließen?! Zwischen Dirigent und Orchester, zwischen Orchester und Bühne, zwischen den Darstellern auf der Bühne, zwischen den Darstellern und dem Publikum, zwischen den Menschen auf und denen hinter der Bühne. Zwischen denen in den Garderoben, in den Aufenthaltsräumen, den Energien eines Theaterbaus. Dieses unsichtbare Band, das alles zusammenhält und alles fließen lässt, das man aber auch nicht konservieren, festhalten kann. Das jedes Mal neu entsteht, sobald der Zuschauerraum dunkel wird und das Licht im Graben und auf der Bühne hell wird. Und das für sie – unser Publikum- zu ihrem Fokus wird, zu ihrer Katharsis führt, sie für ein paar Stunden alles vergessen lässt… Doch es ist nicht nur die unsichtbare, magische Energie von Musik, Mensch und Text, die die Oper zu etwas Einzigartigem macht- es sind auch ihre unsichtbaren Geister!
Wussten Sie, dass ein*e Hutmacher*in in der Kostümabteilung für die Federn zuständig ist, die die Sopranistin an ihrem Haarband trägt. Kennen Sie den Rüstmeister, der sich um die Waffen oder den Schmuck kümmert, die Requisite, die Kollegen der Deko-Abteilung, die Maskenbildner? Wissen Sie was ein Schnürmeister ist, wer der Untermaschinist, der/die Garderobier*e, wer oder was der/die Inspizient*in, der/die Souffleur*se? Was macht genau eine Abendspielleitung und wer betreut eigentlich die Statisten, den Kinder- und den Extrachor, wer coacht die Sänger, wer hat sie musikalisch einstudiert? Wer hat das Programmheft gemacht und das Layout designt, die Fotos geschossen und ausgesucht, die sie als Erinnerung mit nach Hause nehmen können?
Ob sie es glauben oder nicht, ja selbst die Putzfrau, die 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn nochmal schnell feucht über die Bühne wischt, hat entscheidenden Anteil am Gelingen eines Abends! Denn wer singt schon gerne im Staub oder wälzt sich auf dem Bühnenboden, an dem Vormittags vielleicht noch Bühnenbildteile gesägt oder gestrichen wurden.
All das wollen Sie vielleicht gar nicht wissen oder kennen, sie wollen die Faszination “Theaterabend”- dieses mythische, zauberhafte Ereignis als etwas Geheimnisbehaftetes behalten.
Das ist ihr gutes Recht, dafür bezahlen Sie den Eintrittspreis. Behalten Sie bitte einfach nur immer im Hinterkopf- das was SIE von UNS sehen, ist nur die Spitze des Eisbergs. Und wenn Sie beglückt und gereinigt nach Hause gehen, denken Sie bitte immer daran, dass sie “nur” das Endprodukt sehen und bezahlen. Das Produkt eines hochkomplexen Prozesses, aber auch der mitunter faszinierendsten Arbeit, die eine menschliche Maschine zusammen leisten kann, bis auch endlich die Spätschicht der Technik und Beleuchtung, der Pförtner und der Kantinenwirt weit nach Mitternacht, wenn Sie schon selig in ihren Betten schlummern, den eisernen Vorhang nach unten fahren, das Licht und die Fritteuse ausmachen.
Während in ihren Hotelzimmern, der Dirigent, die Sänger und das Gast-Regieteam vor Adrenalin noch lange nicht einschlafen können, obwohl um 6Uhr morgens das Taxi zum Flughafen wartet, das ihn oder sie nach 6 intensiven Arbeitswochen endlich nach Hause bringt, vollbepackt mit neuen Ideen, Inspiration und dem Flow, einer Welle der Energie, weiter Töne, Bilder und Klänge atmen zu wollen, denn: Musik ist der Atem der Welt!“
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