Münster, Theater Münster, NACHKOMMEN. EIN LAUTES SCHWEIGEN - Uraufführung, IOCO Kritik, 27.01.2023
NACHKOMMEN - EIN LAUTES SCHWEIGEN - Uraufführung
- Vier Blinde im Metaversum -
von Hanns Butterhof
Die neue Intendanz am Theater Münster hat die ganze Spielzeit 2022/23 unter das Thema Verhältnis der Generationen zu einander gestellt. Der inhaltliche, wenig optimistische Schwerpunkt liegt dabei auf dem altgriechischen Mythos der Atriden. Bei dieser Familie bedeutete der Morgengruß des einen schon das Todesurteil für den anderen, Untat und Rache setzten sich in schier unendlichen Spiralen fort. Jetzt verspricht der Titel des Auftragswerks Nachkommen - Ein lautes Schweigen des Münchner Autors Emre Akal einen erneuten Blick auf das Generationen-Thema, den vier Blinde in einem digitalen Zukunftsraum auf unsere Gegenwart werfen.
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Wie dem Programmheft zu Nachkommen. Ein lautes Schweigen entnommen werden kann, spielt das Stück zu einer Zeit, in der sich die Menschheit in ein Metaversum fortgebeamt hat. In dieser digitalen Simulation leben die Menschen mit frei wählbaren Identitäten, entflohen der realen Welt. Vier Exemplare, von denen letztlich auch nicht sicher ist, ob sie real oder digitale Avatare sind, wohnen in zwei Zimmern und erinnern sich an die Zeit, als es noch eine menschliche, analoge Wirklichkeit gab; der große Spiegel, der schräg über diesen Zimmern hängt, verdoppelt sinnvoll ihre Existenz (Ausstattung:Annika Lu).
Wenn sie Avatare sind, so ist ihr Metaversum ziemlich karg, kaum vorstellbar, dass man sich da hineinbeamen möchte. Ihre beiden Räume bieten nichts Lebensnotwendiges. Der Küche fehlt alles, womit man sich etwas zu essen bereiten könnte, und der Tisch im Wohnraum dient bestenfalls zu einem virtuellen Tischtennis-Match ohne Ball.
Auch die vier Bewohner haben sich keine besonders coole Identität ausgewählt, wenig gewonnen, aber einiges an Menschlichem eingebüßt. Ihre Gesichter sind von starren Halbmasken mit toten schwarzen Augen entstellt, ihre metallisch-steife Bekleidung mit eckigen Schultern hat den Charme eines billig animierten Computerspiels, und die Hände laufen in lange Krallen aus.
Von sich behaupten sie, sie seien Überbleibsel aus der realen Welt, die einer von ihnen, der blondlockige Ahmet bzw. Franzi 2.0 (Alaaeldin Dyab), erinnernd in einem Buch festhalten möchte.
Der Blick zurück, den sie sich mutig vorgenommen haben, gibt manchen Anlass, an unserer Gegenwart sattsam bekannte Kritik zu üben mit dem Fazit, dass sie für Nachkommen nicht erstrebenswert ist; der einstigen Influenzerin Iphigenie bzw. Horst 2.0 (Clara Kroneck) wird, als sie mit einer rosa Halbkugel vor dem Bauch Schwangerschaft imaginiert, von den anderen Egoismus vorgeworfen. So macht der Titel Sinn: ungeborene Nachkommen schreien nicht.
Die Vier bewegen sich leicht roboterhaft, mit sich wiederholenden Gesten, die an sinnvolles Tun in der ehemaligen Realität erinnern. So rührt die einstige Korbflechterin Fatma bzw. Franz 2.0 (Regine Aratschke) beständig in einem virtuellen Topf, und Ahmet repetiert virtuelle Selbstbefriedigung. Torsten bzw. Nilgün 2.0 (Julius Janosch Schulte), ein ehemaliger Umwelt-Aktivist, dem bei einem Versuch, Mastschweine zu befreien, alle Tiere im Stall verbrannt sind, schlägt immer mit seinem Kopf gegen den Türsturz, wenn er das Zimmer verlassen will.
Wie es mit der Individualität des Quartetts bestellt ist, bleibt offen. Mitunter sprechen alle im Chor, dann wieder teilen sie einen Satz untereinander auf; was einer beginnt, nimmt die andere auf. Wie wenn ihnen ab und zu der Stecker gezogen würde, verlangsamt sich ihr Sprechen und sie sinken allmählich schlaff in sich zusammen.
Man erfährt nicht viel von ihnen. Ab und zu werfen sie philosophisch tiefe Fragen auf wie nach dem Wesen der Zeit oder dem Verhältnis von Wirklichkeit und Vorstellung. Aber keine dieser Fragen wird vertieft, und vor allem findet nichts davon eine Entsprechung in der Bühnenhandlung. Wenn die Influenzerin bei der Kritik am Verzehr von Fleisch ein Metzgerbeil schwingt, ist das schon viel.
Emre Akal hat sich als Autor und Regisseur mit Nachkommen. Ein lautes Schweigen viel vorgenommen. Tieferes aber als die Frage, ob das, was man auf der Bühne sieht - nicht nur die pickende Taube auf dem Kunstrasen - nun real oder fiktional sei, stößt er mit seinem Stück kaum an.
Am ehesten gilt das noch für die Vorstellung, dass eine gegenwärtige oder künftige Generation ihre Nachfahren aus lauter Verantwortung für sie gar nicht mehr zeugt. Wenn diejenigen fehlen, die zur blutigen Fortsetzung des Atridenfluchs nötig wären, wäre auch diesem ein Ende bereitet. Aber das postdramatische Stück schließt dem Publikum ästhetisch-dramatisch keine Erfahrung mit sich selber und seinen eigenen Umgang mit der Welt auf. Wie solch wesenlose Figuren wie seine Menschen 2.0 ein Publikum berühren und nicht nur durch ihre sinnfrei kunstvollen Bewegungen unterhalten sollen, bleibt ein Rätsel.
Die Premiere besuchten auch mehrere Schulklassen. Es wurde viel gelacht.