Münster, Theater Münster LA BOHÈME - G. Puccini, IOCO

Nur keine Künstler-Romantik! Unter diesem Motto spielt Effi Méndez' Inszenierung von THEATER MÜNSTER: Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“ von 1896 statt im Pariser Künstlermilieu von 1830 wenig stimmig im Prekariatsmilieu von heute. Viele Fragen zur Handlung und den Charakteren bleiben offen,

Münster, Theater Münster LA BOHÈME - G. Puccini, IOCO
Theater Münster © Rüdiger Wölk

Liebe in Zeiten des Prekariats - Effi Méndez verzerrt Puccinis Erfolgsoper „La Bohème“ in die Gegenwart

Von Hanns Butterhof

Nur keine Künstler-Romantik! Unter diesem Motto spielt Effi Méndez' Inszenierung von Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“ von 1896 statt im Pariser Künstlermilieu von 1830 wenig stimmig im Prekariatsmilieu von heute. Viele Fragen zur Handlung und den Charakteren bleiben offen, nur das Orchester unter Golo Berg und die beiden Sopranistinnen Marlena Devoe und Robyn Allegra Parton überzeugen.

Vier Lebenskünstler haben sich, wie das Programmheft erklärt, im Obergeschoss eines leerstehenden Kaufhauses eingerichtet: ein Tisch zum Schreiben genügt für den Dichter Rudolfo (Garrie Davislim), ein Stuhl als Staffelei für den Maler Marcello (Johan Hyunbong Choi). Der Musiker Schaunard (Gregor Dalal) und der Philosoph Colline (Kihoon Yoo) brauchen nichts. Durch die Glasfront der Dachfenster sieht man nach draußen. Von dort erleuchtet anfangs noch Feuerwerk den Himmel, am Ende sieht man auf Ruinen und Bagger, die dabei sind, das Gebäude abzureißen (Bühne: Stefan Heinrichs). Kaputter geht nicht.

Den Männern scheint es nicht ganz schlecht zu gehen. Sie sind in heutige Anzüge gekleidet, der Maler in einen roten Dreiteiler, zu dem schick seine Brille in gleicher Farbe passt. Schaunard trägt wohl als Berufskleidung des Straßenmusikanten ein Charlie Chaplin-Kostüm mit Melone und Schirm (Kostüme: Constanze Schuster). Sie haben kein Geld, sind hungrig und frieren, bis Schaunard Geld, Brot und Wein bringt. Aber sie sind dabei lustig, übertölpeln ausgelassen erst den merkwürdigerweise vorhandenen Vermieter und prellen später fröhlich die Zeche im Café Momus.

LA BOHÈME - Mimi und Rudolfo kommen sich näher (Marlena Devoe, Garrie Davislim) @ Bettin Stöß

Im Zentrum der Handlung stehen zwei Liebespaare, die verschiedene Formen der Liebe leben. Als sich zwischen Rudolfo und seiner Nachbarin, der armen Stickerin Mimi (Marlena Devoe), überraschend schnell eine Liebe entwickelt, liegt darüber von Anfang an ein Schatten. Rudolfos drängendes Werben wirkt routiniert und unterscheidet sich enorm von Mimis bewegendem Einverständnis. Nicht mit seinem „Che gelida manina“, sondern mit ihrer Arie „Mi chiamano Mimi“ erreicht die Oper erstmals das Publikum. Trotz gemeinsamen Jubelns über ihre tiefe Liebe sind Rudolfos Beweggründe nicht ganz durchsichtig, vor allem nicht, als er sich später von der erkrankten Mimi trennen will. Als Mimi schließlich stirbt, zeigt sich erschreckend Rudolfos tiefe Selbstbezogenheit. Er bekommt ihren Tod gar nicht mit, weil er am Schreibtisch schon damit beschäftigt ist, ihre Geschichte als Quelle seiner literarischen Inspiration auszubeuten.

Dagegen scheint die turbulente Beziehung zwischen Marcello und der selbstbewussten Musetta (Robyn Allegra Parton) zumindest ehrlicher. Sie hatte ihn für einen reichen Bürger verlassen, aber beim Wiedersehen im Café Momus folgt sie ihren Gefühlen und gewinnt den gekränkten Marcello mit einem fulminanten Tanz und aufreizend glitzernden Koloraturen zurück. Später streiten sie sich vor der nächtlichen, an den Kölner „Tatort“ erinnernden Würstchenbude, trennen sich, aber versöhnen sich auch wieder. In Mimis höchster Not sind beide barmherzig zur Stelle.

Mimi und Rudolfo sind in der Krise (Marlena Devoe, Garrie Davislim) @ Bettina Stöß

Die Regie gibt damit, dass sie die große romantische Liebe verweigert,  den Wesenskern vom  „La Bohème“ auf.. Als Ersatz dafür bietet sie, hauptsächlich vom Bühnenbild getragen, eine Kritik unserer heutigen Gesellschaft an. Die zeigt sich gespalten zwischen den Armen aus dem Dachgeschoss oben und den Reichen im Konsumrausch-Tempel unten. Da glitzert es golden von Lametta, Kinder jagen hinter Luftballon-Verkäufern her, die  Rolltreppen, die im Dachgeschoss ins Nirgendwo führen, rollen hier sinnvoll. Üppig werden Speisen bis ins Parkett angeboten. Und im Hintergrund der Würstchenbude fahren später ostentativ Unmengen von Autos herum, die  alle darauf hinweisen, warum es mit den großen Gefühlen nicht mehr geht: die soziale Spaltung frisst Liebe auf.

Das mag eine zutreffende Diagnose sein, aber sie wird von der Handlung nicht gedeckt und bleibt ihr aufgesetzt. Das Prekariat, das in dieser „Bohème“ gezeigt wird, gibt es so nicht, sein Handeln nimmt man ihm nicht ab. Soziale Ungebundenheit, den verantwortungsfreien Umgang mit eigenem und fremdem Geld kann man bei armen Künstlern um 1830 goutieren, kaum aber selbst beim Künstler-Prekariat von heute. Und auch Mimi würde nicht wegen einer ungeheizten Wohnung schwindsüchtig zugrunde gehen.

Mit der Glaubwürdigkeit wird ein wesentlicher Stein aus dem Gesamtkunstwerk Oper herausgebrochen. Zusätzliche Distanz  erzeugt noch die Vielzahl von Ungereimtheiten. Sie beginnen damit, dass die Künstler ihre Behausung mit dem Verbrennen von Seiten eines Dramas Rudolfos erwärmen wollen. Die setzen sie an einem Gasgrill in Flammen, mit dem zu heizen sicher effektiver wäre. Und dass am Schluss die Dachwohnung noch bewohnt wird, obwohl die im Hintergrund sichtbaren Bagger (Video: Martin Zwiehoff) schon das Dach abgerissen haben und es hereinschneit, bleibt nicht als Letztes unverständlich.

Mimis Ende naht. (Marlena Devoe, Garrie Davislim) @ Bettina Stöß

So liegt es an den beiden Sopranistinnen, die großen Gefühle für die Oper zu retten. Marlena Devoe ist eine glaubwürdig liebende Mimi, ihr in allen Lagen und selbst im pianissimo ausdrucksstarker Sopran fesselt unmittelbar. Robyn Allegra Parton ist eine starke Musetta, die mit glitzernden Koloraturen der  ungebundenen Lebenslust passend Ausdruck verleihen. Die Männer bleiben dagegen nicht zuletzt wegen des Regiekonzepts blass, ihr Handeln als Gruppe wirkt hölzern. Garrie Davislim spielt den Rudolfo zurückgenommen, singt ihn aber wenig variabel mit viel Druck. Johan Hyunbong Choi gewinnt mit profundem Bass eine eigene Statur, die Baritone Gregor Dalal und Kihoon Yoo singen ihre Partien solide. Der von Anton Tremmel einstudierte Chor und der von Margarete Sandhäger und Rita Stork-Herbst betreute Theaterkinderchor des Gymnasiums Paulinum tragen die aufgedrehte Stimmung der etwas unübersichtlichen Café-Szene des zweiten Aktes.

Das Sinfonieorchester unter der Leitung von Golo Berg geht mit Verve ohne Ouvertüre an die Szenen von lauter Lebendigkeit und munterem Parlando, entfaltet aber sängerfreundlich auch die Lyrik stiller Intimität. Seitens der Musik kann die Münstersche „La Bohème“ als gelungen gelten, als „Le Precariat“ kann sie das nicht.

Nach gut zwei italienisch gesungener, deutsch übertitelter Stunden spendete das Premierenpublikum für alle an der Aufführung Beteiligten langen Beifall, der sich für Marlena Devoe und Robyn Allegra Parton noch steigerte. Für Golo Berg und das Sinfonieorchester Münster gab es Standing Ovations.

 

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