Münster, Theater Münster, FURIEN - Tanzabend - Lillian Stillwell, IOCO Kritik, 22.09.2022

Münster, Theater Münster, FURIEN - Tanzabend - Lillian Stillwell, IOCO Kritik, 22.09.2022

FURIEN - Triumph der Gewaltlosigkeit

- Umjubelter Einstand von Münsters Tanzchefin Lillian Stillwell -

von Hanns Butterhof

Theater Münster / Tanzchefin Lilian Stillwell © Lucie Schrag
Theater Münster / Tanzchefin Lilian Stillwell © Lucie Schrag

Die neue Tanzchefin am Theater Münster, Lillian Stillwell, hat mit ihrer ersten Uraufführung Furien ihre Visitenkarte abgegeben. Die aus Minneapolis stammende Choreographin mit klassischer Ausbildung am Ballet Arts Minnesota und am Milwaukee Ballet führt den Bachelor of Arts in zeitgenössischem Tanz von der University of Minnesota. Als Tänzerin arbeitete sie in den USA, bis sie 2007 ans Staatstheater Kassel wechselte, wo sie bis 2012 festes Mitglied des Tanzensembles war. Als freischaffende Choreografin mit interdisziplinärem und kollaborativem Schwerpunkt arbeitete Lillian Stillwell seitdem europaweit und in den USA. Erstmals als Tanzchefin  eines größeren Hauses, des Theater Münster, konnte sie mit ihrem Tanzabend Furien am Kleinen Haus einen umjubelten Einstand feiern.

Furien ist ein mehrdeutiges Stück, das sich an eine Episode aus der Orestie des griechischen Tragöden Aischylos (525 bis 456 v.u.Z.) anlehnt, aber auch ohne diese als normale Sozialisationsgeschichte verstanden werden kann.

The Making of --- FURIEN youtube Theater Münster [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Getanzt wird im Kleinen Haus von einem elfköpfigen Ensemble ebenerdig, auf Augenhöhe mit dem Publikum, das hufeisenförmig und nahe am Geschehen um die Spielfläche herum sitzt. Sie ist nicht von allen Plätzen aus voll einsehbar, von der Seite verstellt eine weiße Treppenkonstruktion – mit ihr hat das Team Stella Sattler und Jonathan Brügmann den von Lillian Stillwell angeregten Wettbewerb Nachhaltige Tanz-Bühne gewonnen - den Blick auf den hinteren Teil der Bühne.

Theater Münster / FURIEN © Christina Iberl
Theater Münster / FURIEN © Christina Iberl

Die Furien beginnen mit einem sehr kreatürlichen Bild. Zu Blitz und gewaltigem Donner (Musik: Randomhype) fällt Licht so auf eine Reihe von Gestalten, dass nur das nackte Fleisch ihrer Beine zu sehen ist. Kopf und der Rumpf in einem moosigen Hemd (Kostüme: Louise Flanagan) sind kaum zu ahnen. Wie sich die gleichmäßig atmenden Körper wellenförmig heben und senken, scheinen sie ein einziges schlafendes Wesen zu sein.

Wenn sie dann erwachen und in einer Reihe nach vorne drängen, bleiben sie gekrümmt, mit ihren eher gymnastischen Bewegungen an den Boden gebunden. Einzelne lösen sich aus der Gruppe und gehen mit schrillen Schreien bei aggressiver Gestik und Mimik auf das Publikum los, während andere spielerisch von einem Pulk auf Händen getragen werden. Schließlich bilden sie einen großen Kreis, und kriegerisch aufstampfend und von der rhythmischen Musik angetrieben rufen sie das Gefühl einer gewaltigen, unbesiegbaren Masse hervor.

Doch sie sehen sich mit einer anonymen, aber stärkeren Macht konfrontiert. Strahlendes Licht aus dem Bühnenhintergrund lässt sie taumeln, in Zeitlupe und mit dem Rücken zum Licht ziehen sie sich zurück, flüchten in Schatten und weichen, auf die Knie gehend, bis zum äußersten Rand zurück.

Nachdem einzelne noch vergeblich versucht haben, die Treppe zu ersteigen, organisieren sie sich militärisch. In Reih und Glied marschieren sie stampfend mit bedrohlichen Kampfgesten, und schließlich gelingt ihnen teilweise artistisch, die Treppe einzunehmen. In diesem Prozess aber haben sich die Furien verändert, auf den Stufen der Treppe helfen sie sich gegenseitig aus ihren moosigen Oberteilen und werden ohne diese erstmals als Individuen sichtbar.

Theater Münster / FURIEN © Christina Iberl
Theater Münster / FURIEN © Christina Iberl

Unter symphonischem Rauschen der Musik zerlegen sie die Treppe in kleinere Teile, die sie in Besitz nehmen und unter sich verteilen. Ihre Bewegungen werden gesellig, alle fassen sich an den Händen und bilden fröhliche Reihen. Harmonisch gebändigt steigern sie ihren Tanz zu geschliffenen Figuren aus dem klassischen Ballett und nehmen Posen altgriechischer Statuen ein. Schließlich beginnen sie in allen im Ensemble verfügbaren Sprachen zu reden, finden gewaltfrei eine Einigung, und selbst ein noch kurzzeitig Zögernder schließt sich der friedlich abgehenden Gesellschaft an.

Der Ablauf der Furien folgt zwar im Wesentlichen der Orestie, in der die Erinnyen aus unbändigen Rachegöttinnen durch ein fragwürdiges Eingreifen der Göttin Athene zu wohlmeinenden Eumeniden umgeformt werden. Es ist die Perspektive, die fraglos begrüßt, dass das Gesetz der Blutrache durch bürgerliche Gesetze gebrochen und der Triumph der Gewaltlosigkeit gefeiert wird.

Wird der Ablauf aber als Sozialisationsprozess gelesen, von dem gerade auch das dicht am Geschehen plazierte Publikum betroffen ist, so bleibt ein Gefühl des Mangels zurück. Wie kräftig war der Beginn, wie organisch das Leben der Gruppe am Anfang. Doch wie schmerzhaft muss der Prozess der Entwicklung gewesen sein mit seinen Wunden und Verlusten. Wenn aus Furien der Eindruck zurückblieb, es habe einige Längen gegeben, dann ist dieser auf das Fehlen der Wunden und Verluste zurückzuführen, die nicht nur bei der Zähmung dieses widerspenstigen Trupps angefallen sind, sondern auch im weiteren Leben wirksam bleiben.

Mit großem Dank nahmen Lillian Sillwell und das Ensemble den langen, trampelgestützten Beifall des Premierenpublikums als Ausdruck herzlichen Willkommens entgegen.

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