Münster, Theater Münster, DIE VIER JAHRESZEITEN - Tanzabend, IOCO Kritik, 15.03.2023

Münster, Theater Münster, DIE VIER JAHRESZEITEN - Tanzabend, IOCO Kritik, 15.03.2023
Theater Münster © Rüdiger Wölk
Theater Münster © Rüdiger Wölk
Theater Münster

Die Vier Jahreszeiten - Tanzabend - drei Choreografien

- Zwischen Absturz und Rettung -

von Hanns Butterhof

Ihren Tanzabend Die vier Jahreszeiten am Großen Haus des Theater Münster haben Paloma Muñoz, Lillian Stillwell und James Vu Anh Pham unter die Frage nach der Zukunft der Menschheit gestellt. Mit purem Tanz messen sie die Spanne zwischen Absturz und Rettung aus und verweisen auf die Verantwortung für unseren gemeinsamen Planeten, auf dem künftige Generationen die Jahreszeiten und andere unser Leben prägende Zyklen nicht mehr erleben werden.

Trailer  Die Vier Jahreszeiten youtube Theater Münster [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Der von James Vu Anh Pham choreographierte Prolog zu einem Geräuschteppich von Jackie Fischer fand mit je drei Tänzer*innen im Foyer und dem Treppenhaus des Theaters statt. Die Choreographie zeigt verschiedene Versuche der Gruppe im Foyer, Verbindungen mit der anderen hinter der gläsernen Wand des Treppenhauses durch Lauschen an einer Säule, Ziehen an virtuellen Seilen und Berührungen durch das trennende Glas herzustellen. Doch die Sicht auf große Teile der Choreographie werden verdeckt durch die Menge des Publikums im Foyer, aus dem es die Tänzer*innen dann ins Große Haus locken.

Theater Münster / Die vier Jahreszeiten - Tanzabend hier Ensemble Tanz; Choreographie Muñoz © Bettina Stoess
Theater Münster / Die vier Jahreszeiten - Tanzabend hier Ensemble Tanz; Choreographie Muñoz © Bettina Stoess

Die dort folgende Choreografie der Gast-Choreographin Paloma Muñoz zu den Musiken „Nocturne“ von Kaija Saariaho und „The Seasons“ von John Cage geht der Verbindung von uns Menschen mit dem übrigen Leben in der Welt nach. Sie beginnt mit einem Solo. Auf einem kalten Block wie einem Podest (Ausstattung:  Stella Sattler, Jonathan Brügmann) erhebt sich ein Tänzer. Er bewegt geschmeidig alle Glieder, fühlt sich kraftvoll und schaut schließlich, das Kinn auf die Hand gestützt, im sich blutig rötenden Bühnennebel provokativ ins Publikum. Da hebt sich ein Gazevorhang, und das Ensemble in marmorierten Trikots, gemustert wie der Tanzboden, füllt die Bühne mit anmutigen floralen und elementar kreatürlichen Bewegungen. Eine liegende Gruppe bildet Kopf an Kopf gelehnt eine Blüte, die sich rhythmisch öffnet und schließt. Andere bewegen sich insektenhaft ruckartig, an Skorpione erinnernd, die sich selber in den Nacken stechen. Eine Tänzerin steht anfangs noch auf dem Rücken eines affenartig gravitätisch auf allen Vieren Schreitenden, bis dieser unter ihr zusammenbricht, als sei nun die menschliche Herrschaft über die Natur vollendet. Da können sich menschliche Beziehungen aufbauen, Köpfe sich zärtlich aneinander lehnen, Paare sich küssen und in gemeinsamen Parallelaktionen die Bühne queren. Doch als sie noch in einem frühlingshaft hellgrün ausgeleuchteten Viereck zusammen tanzen, erlischt die Musik, die Bewegungen verlieren ihre Richtung, und beängstigend breitet sich Ungewissheit über die Zukunft der Menschheit aus.

Theater Münster / Die vier Jahreszeiten - Tanzabend hier Keelan Whitmore, Hana Kato, Ensemble; Choreographie Stillwell © Bettina Stoess
Theater Münster / Die vier Jahreszeiten - Tanzabend hier Keelan Whitmore, Hana Kato, Ensemble; Choreographie Stillwell © Bettina Stoess

Für die abschließende Choreographie zu Antonio Vivaldis Konzert "Die vier Jahreszeiten“ hat die Münsteraner Tanzchefin Lillian Stillwell das Titel-Thema auf die Gemeinsamkeit allen Lebens in unserer Welt ausgeweitet. In hellen, auf fortgeschrittene Zivilisation verweisenden Männer-Anzügen, unter denen aber die marmorierten Trikots der vorhergehenden Choreographie noch sichtbar sind, bildet das Ensemble diverse Paarkonstellationen. Zärtlich halten sich die einen, bei anderen fehlt es an gleicher Augenhöhe, wenn einer den anderen kopfunter fest umschlungen hält. Manche Szenen sind von leidenschaftlicher Heftigkeit, von Vivaldis Kraft angetrieben, andere wieder still. Eine Szene mutet wie eine Beerdigung an, aber das Tote kann auch der Same für neu Entstehendes werden. Doch dessen Zukunft erscheint unsicher: Ein Paar stürzt auf den Orchestergraben zu, schreckt aber vor dessen Tiefe zurück. Das wiederholt sich mit dem Ensemble, weist ambivalent auf Rettung oder den unvermeidlichen Absturz von Unbelehrbaren.

Wunderbar sind die nie überwältigende Musik und die Bewegungen auf einander bezogen. Ihr fließender Charakter reicht nicht nur in Einzelnen von den Füßen bis in die ausgestreckten Arme, sondern breitet sich auch zwischen den Tänzer*innen aus. Es sind die Beziehungen zu sich und den anderen, aus denen sich das Leben erhält. Doch wohin es gegenwärtig führt, bleibt offen. Wenn alle im Kreis laufen, erscheinen wieder ambivalent Harmonie und Ratlosigkeit angesichts der ewigen Wiederkehr des Abgrunds, vor dem die Menschheit diesmal so dicht steht wie nie zuvor.

Am Schluss wird sein marmoriertes Trikot sichtbar, als ein Tänzer sein Jackett auszieht und es auf den Boden legt. Es wird von einer Tänzerin aufgehoben, die daraufhin fragend ins Publikum schaut, als wollte sie ihm die Antwort aufgeben, ob es für die Zivilisation noch Rettung gibt und wenn, in wessen Händen sie liegen könnte.

Der Tanzabend Die vier Jahreszeiten wird live begleitet vom Sinfonieorchester Münster unter der engagierten Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg. Der Beifall des begeistert stehend applaudierenden Premierenpublikums galt allen an der Aufführung Beteiligten, vor allem dem jungen zwölfköpfigen Ensemble, den Choreograph*innen und dem Orchester mit seiner virtuosen 1. Kapellmeisterin Midori Goto.

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