München, Staatsoper, DAS RHEINGOLD - R. Wagner, IOCO
München - Staatsoper: DAS RHEINGOLD: Nach der erfolgreichen Premiere im März dieses Jahres 2024 von Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin an der Bayerischen Staatsoper kehrt Regisseur Tobias Kratzer am 27. Oktober
von Getong Feng
Nach der erfolgreichen Premiere im März dieses Jahres 2024 von Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin an der Bayerischen Staatsoper kehrt Regisseur Tobias Kratzer am 27. Oktober zurück und präsentiert dem Münchner Publikum seine Neuinszenierung von Das Rheingold. Tobias Kratzer hat bereits viele umjubelte Inszenierungen geschaffen und zahlreiche Preise in Deutschland und Österreich gewonnen. Er ist Preisträger des Grazer Ring Award 2008 und des deutschen Theaterpreises DER FAUST für seine Inszenierung der Götterdämmerung am Badischen Staatstheater Karlsruhe. 2018 ist er in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne zum „Opernregisseur des Jahres“gewählt und 2020 für Tannhäuser bei den Bayreuther Festspielen und Rossinis Guillaume Tell an der Opéra de Lyon in der Kritikerumfrage der Opernwelt zum „Regisseur des Jahres“. Am 1. August 2025 wird Tobias Kratzer seine Aufgabe als neuer Intendant der Hamburgischen Staatsoper antreten, parallel dazu wird er in den kommenden vier Jahren die Regie der vierteiligen Opernproduktionen Der Ring des Nibelungen an der Bayerischen Staatsoper führen.
Religionskritik: Wagner als Feuerbach-Anhänger
Richard Wagners Der Ring des Nibelungen schildert den Kampf des sterblichen Alberich und des unsterblichen Gottes Wotan um einen magischen Ring, der seinem Besitzer allumfassende Macht verspricht. Der Vorabend Das Rheingold führt zurück zu den Ursprüngen dieses Konfliktes und zur Entstehung des Ringes. Die Geschichte beginnt vor einer Kirche, die die Götterburg Walhall symbolisiert. Das Graffiti an der Wand „Gott ist tot“ deutet an, dass Tobias Kratzer nicht wie viele seine Zeitgenossen die Kapitalismuskritik, sondern eher die Religionskritik in den Mittelpunkt seiner Inszenierung stellt. Auf einem Baugerüst hinter einem gotischen Altar schläft Wotan. Die Götter Wotan, Fricka, Freia, Donner und Froh sind gotisch gekleidet, verhalten sich elegant wie griechische Götter. Sie leben zwischen den Baugerüsten und auf der Baustelle, womit ihre göttliche Identität im Widerspruch steht zu ihren bescheidenen Lebensbedingungen. Alberich ist Tüftler in einer Garage. Die Riesenbrüder Fasolt und Fafner treten als zwei Priester auf. Erda, die Göttin der Weisheit, ist eine alte Nonne in der Kirche. Alle Anpassungen zur Inszenierung haben ihre religiöse Symbolik. Diese Idee geht zurück auf Feuerbachs Einfluss auf Richard Wagner.
Wagner war zehn Jahre lang ein Anhänger Feuerbachs, und die radikale Feuerbachsche Philosophie in seiner Zeit beeinflusst Wagners Werk zutiefst. Sein 1849/50 erschienenes Werk Das Kunstwerk der Zukunft ist eine Feuerbach gewidmete kunsttheoretische Schrift. Feuerbach sieht Gott als eine Projektion menschlicher Wünsche nach Unsterblichkeit und Vollkommenheit. Gottes Eigenschaften sind eigentlich menschliche Sehnsüchte und Ideale, die auf Gott übertragen werden. Die Darstellung Gottes in Wagners Der Ring des Nibelungen ähnelt dieser Sichtweise: Der Ring zeigt den Niedergang der göttlichen Macht, projiziert aber unterschiedliche Ansichten der Menschen über Religion. In Gedanken über Tod und Unsterblichkeit schreibt Feuerbach: „Der Unsterblichkeitsglaube, wie er ein notwendiger, unverfälschter und unverkünstelter Ausdruck der menschlichen Natur ist, drückt nichts andres aus als die auch von dem Ungläubigen innigst anerkannte Wahrheit und Tatsache, dass der Mensch mit seiner leiblichen Existenz nicht auch seine Existenz im Geiste, in der Erinnerung, im Gemüte verliert.“
In dieser Inszenierung geht es Kratzer vor allem um den Tod, eine Grundfrage der menschlichen Natur: Wie begegnen wir unserer eigenen Sterblichkeit? Auf der anderen Seite aber auch: Wie begegnen die Götter ihrem ewigen Leben im unendlichen Universum?
Tragödie der Sterblichkeit und Unsterblichkeit
Daraus ergibt sich, dass der Regisseur die Opernfiguren nicht in die traditionellen vier Gruppen - Götter, Riesen, Zwerge und Rheintöchter - unterteilt, sondern sie unterscheiden sich zwischen ihrer Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Für Kratzer ist diese metaphysische Unterscheidung zu betonen. Alberichs Leben ist eine Tragödie der Sterblichkeit. Gerade weil sein Leben begrenzt ist, hat er eine unendliche Lebensgier und will sich in seiner kurzen Lebensspanne alle Wünsche erfüllen. Sein Wunsch wächst sich schließlich zu unendlicher Machtgier aus. Alberich ist ein rationaler Wissenschaftler, der davon überzeugt zu sein scheint, dass man Wissenschaft und Technik nur weit genug treiben muss, um selbst eine Art göttlichen Status zu erreichen.
Die Götter haben aber ein ganz anderes Leben. Sie sind zwar unsterblich, aber nicht unbedingt fröhlich. Das ist die Tragödie der Unsterblichkeit. Kratzer nannte es eine kosmische Angst: die Angst vor der Unendlichkeit. Das Universum ist unendlich und Götter werden ewig leben wie die Sterne. Die Leere der Unendlichkeit überkommt die Götter und macht ihr Leben sinnlos. Die Götter in Wagners Opern sind keine guten Figuren. Sie sind Betrüger und Räuber, die zu den Nibelungen gehen, um Gold zu stehlen. Loge ist die einzige Figur in der Götterwelt, die diese Lebensweise in Frage stellt. Er trägt auf der Bühne einen schwarzen Pullover und eine schwarze Hose, im Gegensatz zu den anmutigen Kleidern der anderen Götter. Er ist ein kühler und intellektueller Analytiker, steht oft am Rande der Bühne, zündet sich eine Zigarette an und beobachtet die anderen wie ein Außenseiter. Er ist Wotans erster Ratgeber, aber er schlägt sich nicht immer auf der Seite der Götter. Mit dieser Figur bringt Kratzer das Publikum dazu, die ganze Geschichte aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Der Ring scheint ein Lackmustest zu sein, der das Wesen und die Essenz dieser beiden völlig unterschiedlichen Lebenszustände in der Spannung des Musiktheaters sichtbar werden lässt. Diese beiden Tragödien vereinen sich in der Schlussszene, wenn die unsterblichen Götter von den sterblichen Menschen angebetet werden. Im Rheingold kommen aber noch keine menschlichen Gestalten auf die Bühne. Richard Wagner erläutert August Röckel in einem Brief 1854 die Änderungen im Rheingold-Text: „Wir müssen sterben lernen, und zwar sterben im vollständigsten Sinne des Wortes; die Furcht vor dem Ende ist der Quell aller Lieblosigkeit, und sie erzeugt sich nur da, wo selbst bereits die Liebe erbleicht.“ Indem der Regisseur normale Menschen auf die Bühne bringt, wird beim Publikum eine Anregung zum Nachdenken geweckt.
Erstklassiges Team hinter der Kulisse
Am eindrucksvollsten ist die Arbeit der Bühnen- und Kostümbildners Rainer Sellmaier, der uns in der Schlussszene einen vergoldeten gotischen Altar zeigt, welcher ein Highlight der Inszenierung und ein visuelles Vergnügen ist. Darüber hinaus lohnt es sich, mit einem Opernglas das detailreiche Baugerüst hinter dem Altar oder die Garage der Nibelungen zu betrachten. Auch den Videoproduzenten Manuel Braun, Jonas Dahl und Janic Bebi gebührt ein großes Lob. Nach der 2. und 3. Szene sind zwei humorvolle Videos von einer Rundreise aus Walhall nach Nibelungen gezeigt. Die beiden Videos schildern Wotans und Loges Reise durch unsere irdische Welt voller menschlicher Zivilisation. Der Kontrast zwischen ihrer göttlichen Bekleidung - die der menschlichen Welt fremd sind - und zeitgenössischer Mode, und der Kulturschock, den sie auf der Erde erleben, machen den Abstieg der Götter zu einer witzigen Szene, die das Publikum zum Lachen bringt.
Starke Besetzung
Vladimir Jurowski leitet das Bayerische Staatsorchester und bietet dem Publikum mit seiner lyrischen Interpretation von Wagners Musik einen unvergesslichen Abend. Jurowski präsentiert nicht nur die Schönheit von Wagners Musiktheater, sondern er spielt auch die Musik so, dass sie ideal zu Kratzers Opernproduktionen passt. Stimmlich überzeugt vor allem der Bass-Bariton Nicholas Brownlee als Wotan. Mit seiner charismatischen Stimme ist Brownlee definitiv ein vielversprechender Wagner-Bass-Bariton, sein Terminkalender für die Saision 24/25 bestätigt dies: 2025 wird er als Holländer in Der fliegende Holländer in Palau de les Arts Reina Sofía, Spanien, wieder als Wotan in Leipzig und als Amfortas in Parsifal in Frankfurt auftreten. Als Thor in Rheingold bei den Bayreuther Festspielen als Höhepunkt wird Brownlee seiner Spielzeit 24/25 zum Abschluss bringen. Alberich wird vom Bariton Markus Brück gespielt. Die Rolle ist musikalisch und darstellerisch schwierig, da er in der 3. Szene, in der er den Ring bekommt, auf dem Gipfel der Welt steht und in der 4. Szene den Tiefpunkt seines Lebens erreicht. Brücks rührende Stimme macht die emotionalen Veränderungen Alberichs sehr gut spürbar. Die Altistin Wiebke Lehmkuhl singt die Rolle Erda. Ihre metallische, wunderschöne und klare Stimme passt perfekt zu Erda und verleiht ihrer Erscheinung eine strahlende Heiligkeit. Ein atemberaubender Moment. Die Bassbaritone Matthew Rose und Timo Riihonen stechen als die Riesenbrüder Fasolt und Fafner hervor, die beiden Darsteller beeindrucken die Münchner Zuschauer durch ihren humorvollen Auftritt.
In dieser Neuinszenierung mischt Tobias Kratzer religiöse Elemente aus unterschiedlichen Kulturkreisen und bettet nicht nur Wagners Musiktheater perfekt in einen zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext ein, sondern fügt der Operninszenierung auch eine überzeugende Interpretation hinzu, die eine tiefgehende religionskritische und philosophische Diskussion provoziert.
Die zweieinhalb Stunden RHEINGOLD, die auch ohne Pause wie im Fluge vergehen, sind ebenso fesselnd wie unterhaltsam. Bravo!