München, Kunsthalle, JR – vom Graffiti zum Sozialen Kunstwerk, IOCO Ausstellung, 13.12.2022

München, Kunsthalle, JR – vom Graffiti zum Sozialen Kunstwerk,  IOCO Ausstellung, 13.12.2022
KUNSTHALLE am Odeonsplatz, München © Wikimedia Commons
KUNSTHALLE am Odeonsplatz, München © Wikimedia Commons

Kunsthalle München

JR – vom Graffiti zum Sozialen Kunstwerk

JR: Chronicles - erhellende Ausstellung in der Kunsthalle, München

von Hanns Butterhof

Die Kunsthalle München, eine Einrichtung der Hypo-Kulturstiftung, liegt im pulsierenden Herzen Münchens, zwischen Marienplatz und Odeonsplatz. Als Teil des Geschäftsareals Fünf Höfe öffnet sie sich weit auch für Besucher, die nicht unbedingt zu den üblichen Museumsgängern gehören; mit jährlich etwa 350 000 Gästen gehört sie zu den führenden Ausstellungshäusern Deutschlands. Mit der sehenswerten, erhellenden Ausstellung JR: Chronicles zeigt sie die bisher größte Retrospektive des Künstlers JR.

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„Street-Art-Künstler“ oder „Fotograf“ sind zwei von vielen Bezeichnungen für JR, der 1983 in einem Vorort von Paris als Sohn osteuropäischer und tunesischer Einwanderer geboren wurde, immer unter seinem Pseudonym JR auftritt und sich nur mit Hut und Sonnenbrille zeigt. Die Ausstellung JR: Chronicles, die Anja Huber und Roger Diedern in Zusammenarbeit mit dem Brooklyn Museum chronologisch angelegt haben, zeigt Videos aus seinen Anfängen als Sprayer in Paris. Dann die ersten Fotografien mit Portraits seiner Freunde aus den Banlieus, die er fotokopierte und, mit dickem rotem Rahmen umsprüht, im Zentrum von Paris an Hauswänden mit der provokanten Botschaft „Uns gibt es!“ plakatierte. Mit seinem Projekt „Portrait of a Generation“, das er 2005 mit seinem Freund Ladj Ly als Reaktion auf die Unruhen in den Banlieus unternahm, änderte er die Dimensionen. Die Portraits von grimassierenden Jugendlichen aus den Randbezirken nahmen schon ganze Hauswände ein und spiegelten dort unübersehbar anklagend die Wahrnehmung, wie sich die Jugendlichen durch die bürgerliche Welt wohl nicht nur wahrgenommen fühlen. Bis hierhin kann JR zutreffend noch als Fotograf, der Street-Art macht, bezeichnet werden – und in diesem Sinne sind seine Fotos als Kunstwerke in Museen zu sehen; auch die Kunsthalle hat eines davon erworben.

Den entscheidenden Schritt weiter geht JR dann aber 2007 mit seinem Projekt „Face to Face“. Für „Face to Face“ fotografierte JR in Israel und im Palästinenser-Gebiet Menschen der jeweils gleichen Berufsgruppe. Die Portraits plakatierte er paarweise großformatig an Hauswände in beiden Staaten, erklärte es vage als Kunstprojekt und überließ die Wirkung den Betrachtern. Die Porträtierten erwiesen sich durchwegs als so ununterscheidbar, dass sich mit der Frage, wer davon nun Jude, wer Palästinenser sei, die Antwort im Gespräch ergab: Wir alle sind Menschen, mein Feind ähnelt mir. Die Kommunikation, die solche Einsicht ermöglicht, ist das eigentliche Kunstwerk, das JR schafft. Indem er sich aus dem Werk zurückzieht und gerade nicht wie Joseph Beuys als Schamane davor tritt, schafft er, lokal begrenzt, tatsächlich das Soziale Kunstwerk. Es materialisiert sich nicht in Objekten, sondern realisiert sich in der Kommunikation der Beteiligten, und das zu erleben, wie es sogar noch die Videos in der Ausstellung ermöglichen, ist wunderbar.

JR: Chronicles - Ausstellung in der Kunsthalle © Hanns Butterhof
JR: Chronicles - Ausstellung in der Kunsthalle © Hanns Butterhof

Die Ausstellung führt durch die Projekte „Wrinkles of the City“ mit großformatigen Fotos von Menschen, deren Lebenserfahrung sich als tiefe Falten in ihre Gesichter gegraben haben, auf entsprechend schrundigen Häuserwänden, und „Women are Heroes“, beide von 2008. In Südamerika, Afrika, Kambodscha und Indien plakatierte er großformatig, so dass sie teilweise aus der ganzen Stadt gesehen werden konnten, Bilder von dort lebenden Frauen an die Wände ihrer Hütten etwa in Favelas, um die Rolle der Frau an ganz konkreten, berührenden Frauen zum öffentlichen Gespräch zu machen.

Als Herzstück der Ausstellung können die „Chronikles“ gelten. In Montfermeil, New York und auch Berlin fotografierte JR hunderte von Menschen in Posen, in denen sie sich gerne sahen, und collagierte sie zu meterlangen Mauer-Panoramen; die Kunsthalle zeigt mit 34 Metern etwas mehr als die Hälfte des San Francisco-Murals. Besonders beeindruckend ist das riesige Bild, auf dem US-amerikanische Waffenfreunde und -gegner versammelt sind. Lädt man seine App „JR:murals“ - link HIER! - herunter und scannt mit dem Smartphone die Gesichter auf den New York- und San Francisco-Murals, erzählen die Porträtierten von sich und ihren unterschiedlichsten Ansichten, mit denen sie auch miteinander ins Gespräch kommen können.

JR: Chronicles - Ausstellung / JR - Giants, Kikito and the Border Patrol Tecate Mexico USA © Hanns Butterhof
JR: Chronicles - Ausstellung / JR - Giants, Kikito and the Border Patrol Tecate Mexico USA © Hanns Butterhof

Wohl am berührendsten ist die Abbildung „Giants, Kikito and the Border Patrol“, siehe Foto HIER! Bei der riesigen Installation am amerikanischen Grenzzaun zu Mexiko sieht es von amerikanischer Seite so aus, als schaute ein kleiner Junge freundlich interessiert – in gigantischen Dimensionen - über den eisernen Grenzzaun ins Nachbarland hinüber. Die Installation führte dazu, dass die Mexikaner den US-Grenzern ihre Händies durch den Zaun reichten, um sich von diesen das Bild aus amerikanischer Sicht fotografieren zu lassen. Das ganze mündete in ein friedlich gemeinsames Essen an einem langen Tisch, der zur einen Hälfte auf amerikanischer, zur anderen auf mexikanischer Seite gedeckt war.

Nicht alles, was der begnadete Kommunikator JR macht, hat das gleiche Gewicht. Humor zeigt er etwa, vielleicht auch als  Hommage an den Ausstellungsort, mit einem Trompe-l'œl: Von nur einem bestimmten Punkt aus in einem der Ausstellungssäle scheint München auf einer den ganzen Raum füllenden Fotografie in einer tiefen Felsenschlucht versunken zu sein.

Und nicht jedes Werk gelingt. Das ließ sich gerade an der so spektakulären Aktion zur Eröffnung der Ausstellung in München erleben. Mehr als hundert der üblichen verdächtigen Freiwilligen trugen entsprechend den Anweisungen JRs eine 45 Meter lange Plane von der Kunsthalle zum Odeonsplatz. Auf diese hatte JR im März das Bild der fünfjährigen ukrainischen Valeriia aus Lwiw aufziehen lassen, um dort für die russischen Bomberpiloten sichtbar zu machen, dass sie ihre Bomben auf Menschen abwerfen.

Was in der Ukraine möglicherweise Beziehung stiften und Verständigung hat herstellen können, verpuffte in München bedauerlich zu einem der üblichen Kunst-Events, wurde Kitsch. Das aber tut der sehens- und vor allem erlebenswerten Ausstellung in der Kunsthalle als dafür äußerst geeignetem Ort keinen Abbruch.

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