München, Residenztheater, ELEKTRA - Hugo von Hofmannsthal, IOCO Kritik, 09.04.2019
ELEKTRA - Hugo von Hofmannsthal
- Die Eifersucht der Toten -
von Hans-Günter Melchior
Elektra zu Orest: „Verstehst du Bruder! diese süßen Schauder/hab ich dem Vater opfern müssen. Meinst du,/ wenn ich an meinem Leib mich freute, drangen/ nicht seine Seufzer, drang sein Stöhnen nicht/ bis an mein Bette? Eifersüchtig sind/ die Toten: und er schickte mir den Haß,/ den hohläugigen Haß als Bräutigam.“
Da wird Agamemnon, dem König von Mykene von den Troiern eine schöne Frau namens Helena geraubt und er zögert nicht, gegen Troja in den Krieg zu ziehen. Viele Jahre bleibt sein Reich verwaist und Klytämnestra, seine Frau, zunächst allein, und als er endlich mit einer anderen Frau im Gefolge zurückkehrt und die Herrschaft zurückverlangt, ist es zu spät. Klytämnestra hat einen anderen Mann erwählt, Ägisth, und die Machtverhältnisse haben sich verändert. Klytämnestra und Ägisth machen kurzen Prozess: sie erschlagen den Zurückgekehrten im Bad, wobei sich Klytämnestra eines Beiles bedient und den tödlichen Schlag ausführt. Und da fängt das Drama Elektra erst an.
Agamemnon und Klytämnestra haben drei Kinder: Elektra, Chrysothemis und Orest. Orest gilt als verschollen, man hält ihn für tot. Chrysothemis findet sich mit den neuen Verhältnissen ab und erstrebt ein bürgerliches Leben mit Ehemann und Kindern. In Elektra indessen wühlt der Hass auf die Mörder des Vaters und richtet geradezu seelische Verheerungen in ihr an.
Sie sinnt auf Rache. Und sie hofft auf die Rückkehr des Bruders Orest. Als die – falsche, taktisch ausgestreute – Nachricht am Hof Klytämnestras ankommt, Orest sei tot, ist Elektra entschlossen, ihren Rachedurst auf eigene Faust zu befriedigen. Dann aber die Wende: Orest erscheint, zunächst als Fremdling getarnt, sich dann aber Elektra offenbarend, am Hof und vollbringt, von Elektra über die Ereignisse in Kenntnis gesetzt, die Tat: er erschlägt die Mutter und ihren Liebhaber Ägisth.
Über die Psychopathologie Elektras ist viel Kluges und Spekulatives geschrieben worden. Fest steht, dass Hugo von Hofmannsthal sich mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds auseinandergesetzt hat. Insbesondere mit seinen Forschungen über die Hysterie. So halten die meisten Kommentatoren Elektra für eine Hysterikerin, für eine Frau, die den Verlust des geliebten Vaters nicht verwindet und den Verlustschmerz in geradezu fana-tischen Racheplänen ausagiert (s. das Zitat am Anfang dieses Kommentars). Man könnte ihr Verhalten auch, eben gerade auf den Fanatismus abstellend, nach heutigen Erkenntnissen dem Bereich der Soziopathie zuordnen.
Letztlich ist dies ohne Belang, entscheidend ist, dass die zentrale Figur des Stückes, Elektra, in ihrem unbedingten Verfolgungsdrang pathologi-sche Züge trägt (s. Sigmund Freud: Hysterie und Angst, Studienausgabe, S. 117: „Die psychischen Vorgänge bei allen Psychoneurosen sind eine ganze Strecke weit die gleichen, dann erst kommt das ´somatische Entge-genkommen` in Betracht, welches den unbewussten psychischen Vorgän-gen einen Ausweg ins Körperliche verschafft. Wo dieses Moment nicht zu haben ist, wird aus dem ganzen Zustand etwas anderes als ein hysteri-sches Symptom…, eine Phobie etwa oder eine Zwangsidee…“).
In Ulrich Rasche höchst beeindruckender Inszenierung steht das Menschheitsdrama im Vordergrund. Das Persönliche wird ins Allgemeine transponiert und dieses wiederum als unabänderlich begriffen. Das Immergleiche des Allzumenschlichen ist den gesellschaftlichen Zuständen verordnet wie eine Gravur.
Die Protagonisten bewegen sich auf einer kreisrunden Drehscheibe, über der ein riesiger Zylinder hängt. Eine architektonische Besonderheit. Rätselhaft groß und auf fremdartige Einflüsse hinweisend. So entsteht der Eindruck kosmischer Schicksalhaftigkeit, etwas ins Weltall Geweitetes, was der das Einzelschicksal sprengenden Komplexität des Stücks durchaus gerecht wird. Die Darsteller laufen auf der sich bewegenden Scheibe in der Gegenrichtung, so dass sie nicht weiterkommen, sondern sich im Wortsinne auf der Stelle bewegen. Und selbst wenn sie einmal der Kreisbahn folgen, kommen sie auf den Ausgangspunkt zurück. Eben nicht voran.
Anders als Hofmannsthal hat Rasche auf einen Chor nicht verzichtet. Mit vollem Recht. Denn was hier verhandelt wird, ist von öffentlichem Interesse. Das Volk beansprucht eine Stimme. Der Chor übernimmt streckenweise bestimmte Textstellen, indem er, der Kreisbewegung der Scheibe folgend, rundläuft und in einem harten Stakkato mit Verkünderpathos deklamiert. Begleitet wird das Bühnengeschehen von einer Musik, die ebenfalls gleichsam auf der Stelle tritt: einem Schlagzeug rechts (vom Zuschauer aus gesehen) und zwei Geigen und einem Cello links. Winzige Tonpassagen, kleine Intervalle, thematisch sehr sparsam auf die Emotionen setzend. Aufwühlend zuweilen.
Manchmal senkt sich der Zylinder aus Gaze über die Scheibe, schließt sie ab, meist aber schwebt er in einem Abstand über ihr und sendet Dämpfe aus, blutrote zum Beispiel, als Orest seine Mordtat vollbringt. Die Darsteller sprechen laut und abgehackt, jedes Wort betonend, bitter, anklagend, wie aus der Höhe einer allgemeingültigen Erkenntnis herunter, oft wie im Selbstgespräch, im Versuch, den sich nicht fügenden Problemen Worte zu verleihen.
Was für ein überwältigender Eindruck! Die Aufführung ist so intensiv, dass man als Zuschauer streckenweise glaubt, das „Nur-Gespielte“ sei das Wirkliche, es vollziehe sich in der Jetztzeit, gerade im Augenblick, dass man versucht ist, einzugreifen. Dies liegt nicht zuletzt an den brillanten Darstellern. Man hat Mühe, einen hervorzuheben. Vielleicht doch Katja Bürkle. Ihre Elektra geht unter die Haut. Man fröstelt. Wenn sie geduckt voranschreitet, zum blutrünstigen Tier denaturiert. ihre Schwester Chrysothemis argumentativ in die Enge treibend, Recht behalten wollend im Unrecht, zwanghaft und seelisch verkümmert. Eben auf der Stelle tretend und nicht weiterkommend, während ihre Schwester mit mehr Überzeugung den Fortschritt, nämlich den Standpunkt des konkreten Lebens vertritt. Lilith Häßle verkörpert diese im Grunde innerlich Schwankende, nach außen aber Entschlossene Chrysothemis ideal.
Souverän die Klytämnestra der Julian Köhler, scheu verhalten zunächst, dann entschlossen der Orest von Thomas Lettow. Ein Spitzenensemble.
Zuweilen wie eine Folie des Unheils: der markige Chor, Wörter wie Hammerschläge. Wo gäbe es da Gegenargumente. Archaische Figuren allesamt, aus denen ganz unversehens das Leben zu quellen scheint. Überhaupt ist dies ein bemerkenswertes Verdienst dieser Inszenierung. Es gelingt, die Statuarik des Archaischen, des Symbolischen ins Mensch-liche aufzulösen, ohne den Charakter des Allgemeingültigen aufzugeben. Allein schon in der stilisierten Kleidung –, die gegürtete Elektra, die schwarz gekleidete, dem verlorenen Leben nachtrauernde Chrysothemis, die eher grell auftretende Klytämnestra, der auf das Einfachste reduzierte Chor – bringt dies zum Ausdruck.
Man ist zwei Stunden gebannt, kommt fast ins Schwitzen. Und am Ende ist man ein wenig froh, aus dem Klammergriff des Stücks entlassen zu werden. Großer dankbarer Beifall des Publikums.
Elektra am Münchner Residenztheater; die weiteren Termine 21.4.; 22.4.; 24.4.; 4.5.; 5.5.; 13.5.; 14.5.2019
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