München, Residenztheater, Die Verlorenen - Ewald Palmetshofer, IOCO Kritik, 05.11.2019
Die Verlorenen - Ewald Palmetshofer
„Es ist schwierig…, ein Mensch zu sein“ Die Rückkehr zur literarischen Hochsprache
von Hans-Günter Melchior
Ewald Palmetshofers leerer Himmel. Sein grandioses modernes Menschheitsdrama in der Inszenierung von Nora Schlocker, Bühne: Irina Schicketanz.
Reminiszenzen zur Theatergeschichte drängen sich dem Rezensenten auf. Goethes und Schillers Literarisierung des Theaters in Weimar. Danach die Entliterarisierung im 20. Jahrhundert bis hin zum postdramatischen Theater und der Performance sowie den heute dominierenden Videoinstallationen im Handlungsablauf.
Und jetzt aber Palmetshofers Stück und dessen poetischer, hochliterarischer Text, der sein Thema in eine Form gießt, die das Banale und Alltägliche nicht scheut, es gleichzeitig von jeglicher Metaphysik abzieht und zum Menschheitsschicksal macht. Erratisch steht das kleine Leben im Gewirr der Größenfantasien so mancher Welterneuerer.
Der Chor, zehn Schauspieler auf einer grell-weißen, leicht nach vorne abfallenden Bühne, auf der weißen Hinterwand ein Kreuz, links und rechts eine Art Schlupflöcher zum Verschwinden: „unumstößlich/ohne Tat und ohne Hilfe/eingeschlossen/zu/der Himmel:/dünne Luft/von Satelliten nur bewohnt/das Blau:/bloß eine Täuschung in den Augen/trocknet aus/ die Kugelerde/ist ein heißer Ball/im All/und wir/hienieden/hebt uns keiner keine auf/und rauf/und raus/und rüber/drüben: keine andre Welt/kein Drüben, Draußen, Droben/ Jenseits nicht“
Mit einem „Hallo/hört uns jemand?“, beginnt das Stück, hineingerufen in den Zuschauerraum. Ungehört, jedenfalls unerwidert, da jeder nur sich selbst hört und bei anderen auf kein Hören trifft. Der Mensch im Gefängnis seiner eigenen Existenz.
Schon der Beginn stößt die Zuschauer höchst eindrucksvoll und beinahe schonungslos auf das Problemzentrum: den Menschen unter leerem Himmel, allein gelassen mit der Bewältigung des kleinen Alltags, der schwer genug ist, jedoch höheren Ratschlusses entraten muss. So wird das Kreuz auch von Myriam Schröder, der Verlorenen, die die Figur der Clara eindrucksvoll verkörpert ziemlich bald abgehängt. Es taugt nicht mehr zum Niederknien und Beten. Der Mensch ist allein auf dieser Erde, bedroht und elend, ein Nomade in den Problemfeldern des Alltags und auf sich selbst gestellt:
Clara, deren kleines Leben im Zentrum des Stückes steht: „man kann/ den Menschen sich/ durch einen andern Menschen/ zuführn nicht/wie schad/ ich bin/ denk ich/ entleert/ ein Rest von etwas, das/ ich weiß es nicht/ mir fortgerissen/ meine Haut vom Körper/ abgezogen/ abgeschält/ liegt alles frei/ ein jeder Muskel/ jede Sehne/ Nervenbahn und Ader/ feuchte Lymphe netzt mich/ trocknet in der Sonne aus/ wenn man mich anfasst/ droh ich zu zerspringen fast“
Ein solches Sprachstakkato geht unter die Haut. Und es wäre geeignet, eine neue Epoche auf dem Theater einzuläuten: die Reliterarisierung.
Dabei verzichtet die Sprache Palmetshofers keineswegs auf den Bezug zur einfachen, fast zotigen Alltagssprache. Um so mehr hebt sich freilich der hohe rhythmisierte Ton wie von einer Folie ab und transponiert das Geschehen wenn nicht gerade ins Allgemeingültige (das dem Autor ohnehin suspekt ist), so doch ins schicksalhaft Gegebene und Anzunehmende. Gegen das zwar rebelliert werden kann, am Ende steht jedoch das Scheitern am sich Vordrängenden, Überwiegenden.
In der Tat: es geht (nur) um die Bewältigung des Nächstliegenden. Am Alltag erweist sich Ohnmacht des Menschen. Da ist es fast ein Frevel, sich auf einen Sockel zu stellen, der Überblick verheißt. Wir sind verstrickt, gefangen im Gestrüpp der Überlebensbewältigung.
Clara ist vom Vater ihres 13-jährigen Sohnes Florentin geschieden. Der Sohn (Carlo Schmitt / Fancesco Wenz) lebt offenbar bald hier, bald dort, bald bei der Mutter, bald beim Vater, je nach Vereinbarung. Florian von Manteuffel spielt den Vater Harald als lockeren, eher belästigten, im Wesentlichen uninteressierten Erzieher, der froh ist, wenn er von seiner Aufgabe gelegentlich entlastet wird. Er ist mit Svenja (Pia Händler) verheiratet. Die beiden haben etwas vor, einen Ausflug, Harald bittet die Mutter Clara, ihnen Florentin für einige Tage abzunehmen.
Clara ist nicht glücklich über dieses Ansinnen, fügt sich jedoch letztlich. Sie zieht auf ein Dorf in das alte Haus ihrer verstorbenen Großmutter, von wo aus sie unter Zuhilfenahme veralteter Telefontechnik mit ihrer Mutter (Sibylle Canonica) korrespondiert. Gelegentlich treten ihr Vater und ihre Tante (Arnulf Schumacher; Ulrike Willebacher) mit apokalyptischen Äußerungen und besorgten Reden auf. Das alles ist mehr beiläufig, steht im Kontext des Pessimismus, der das Stück färbt wie das Bühnenweiß Klarheit vorspiegelt.
Auf dem Dorf wohnen kaputte Typen Der alte Wolf (Steffen Höld), Die Frau mit dem krummen Rücken (Nicola Kirsch) und der Mann mit der Trichterbrust (Max Mayer). Die Frau betreibt eine Tanke und vertreibt auch Getränke, die die beiden Männer nicht bezahlen können oder wollen. Sie sind offenbar arbeitslose Herumlungerer, eloquent freilich, immer mit einem flotten Spruch zur Stelle – jedoch ohne Perspektive.
Clara lässt sich mit einem jungen Mann namens Kevin ein, den Johannes Nussbaum als einen schonungslosen Wahrheitssucher darstellt. Er sagt den anderen, die sich über die – freilich sehr bald aufgekündigte – Liaison mokieren, unangenehme Wahrheiten ins Gesicht. Alles spielt sich gleichsam indirekt ab. Reale Handlungsabschnitte werden von den Darstellern berichtet, nicht gespielt. Wie überhaupt die Handlung in diesem Stück hinter der Zustandsanalyse zurücktritt.
Was keineswegs stört. Verfolgt doch der Zuschauer ohnehin gebannt der Entwicklungsgeschichte der Charaktere, ihrer existentiellen Notlage und der Ausweglosigkeit, dem Ausgeliefertsein ihrer Situation mehr, als dass er sich für einen konkreten Ablauf interessiert.
Der Sohn, empfindet den Aufenthalt im alten Haus seiner Urgroßmutter als eine Art Strafhaft. Er widmet sich einem Video, das das Interesse der Mutter erregt. Und der kommenden Generation, repräsentiert von Florentin, legt der Autor das Erzübel unserer Zeit als ranzige Aussage in den Mund: „Ich hasse schwach!“ Ein vernichtender Satz angesichts der unaufhebbaren Schwäche.
Die Moderne, in technischer Perfektion erstarrte Welt, spiegelt dem unvollkommenen, unerlösten und untröstlich in seine Schwächen verstrickten Menschen eine falsche Vollkommenheit vor und verstärkt dadurch sein Leiden am Dasein, gegen das kein Glauben, kein Licht der Erkenntnis hilft. Denn der Himmel ist leer. Und der Mensch kommt aus seiner Beschränktheit nicht heraus. Er will seine Grenzen überschreiten und stößt sich dabei wund. Klein wird er und immer kleiner, während seine Wünsche und sein Geist fliegen wollen und immer weiter fliegen, über die Berge, die ihm den Blick verstellen und sein Fortkommen behindern.
Ein Daseins-Problem im Sinne Heideggers. Verlorene sind wir ans eigene So-Sein. Und kein Gott im Himmel.
Dann der dramatische Schluss. Clara stürzt aus dem Fenster, ob vom Sohn gestoßen oder aus eigenem Antrieb war für den Rezensenten nicht ganz erfindlich. Man möge ihm das nachsehen. Vieles spricht freilich für eine Tat des pubertierenden, gegen die Autoritäten aufbegehrenden Sohnes.
Letztlich ist die Frage der Täterschaft ohne Bedeutung. Palmetshofer hat kein Kriminalstück geschrieben und die Regisseurin war viel zu klug, eine Verbrecherklamotte daraus zu machen. Clara fällt jedenfalls auf einen Gartenzaun und wird von einer Latte durchbohrt. So hängt sie in einer Ecce-homo-Gebärde an der Wand, während ihr Blut über die weiße Fläche rinnt. Chorisch endet das Stück. Unheilvoll, warnend und beschwörend wie im antiken Theater wirkt die Schlussapotheose.
Stück und Inszenierung setzen Maßstäbe
Palmetshofer befindet sich in bester, kulturpessimistischer Gesellschaft. Er wird bei Georges Bataille und Hans Blumenberg nachgeschlagen haben, wie die Zitate im Programmheft das nahelegen. Und wohl auch bei Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“. Vielleicht auch bei Adornos Interpretation des an den Mast gefesselten Odysseus´.
Und vor allem: er hat dabei eine Sprache gefunden, die das Prädikat Poesie verdient. Wer weiß das schon, wer kann es schon wissen: im „Resi“ könnten die Glocken einer neuen Zeit des Theaters geläutet haben. Ein Theaterereignis war der Abend auf jeden Fall.
Neben der – freilich etwas langatmigen – Gorki-Aufführung Sommergäste ein großartiger Einstand des neuen Intendanten Andreas Beck. Anhaltender Beifall des beeindruckten Publikums.
Die Verlorenen im Residenztheater München; die nächsten Vorstellungen 6.11.; 10.11.; 13.11.; 15.11.; 23.11.2019
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