München, Bayerische Staatsoper, Sizilianische Vesper von Giuseppe Verdi, IOCO Kritik, 16.03.2018
Les Vêpres siciliennes von Giuseppe Verdi
- Die Dialektik des Widerstands -
Von Hans-Günter Melchior
Richter, Staatsanwälte, Verteidiger, die bedauernswerten Soldaten aller Zeiten und Völker, manche Dichter und Denker – und natürlich die Straftäter und Terroristen wissen das: wer einen anderen tötet, tötet zugleich etwas von sich selbst.
Wer sich dieser – dialektischen – Sicht (die sich keineswegs mit dem Begriffsvokabular einer höheren Ein-Sicht drapieren will) verschließt, dem mag so manches an Stimmungswechseln und Charakterveränderungen in Verdis Oper, deren Libretto Eugène Scribe verfasst hat, als konstruiert und weit hergeholt erscheinen. Stellt man aber den obigen Satz der Betrachtung voran, so gewinnt der Handlungsablauf, dem die innerlich zerrissenen und widersprüchlichen Figuren der Oper geradezu ausgeliefert sind, durchaus den psychologisch-literarisch verständlichen Sinn eines Albtraums.
1282: Der überraschend freigesprochene Rebell Henri (Leonardo Caimi) liebt die Herzogin Hélène (Rachel Willis-Sorensen), eine entschlossene Kämpferin gegen die französische Fremdherrschaft auf Sizilien. Hélènes Bruder wurde von dem französischen Gouverneur Guy de Montfort (George Petean) hingerichtet, das Denken der Herzogin ist von Rachegedanken erfüllt. Der in seine Heimat zurückgekehrte Arzt Procida (Erwin Schrott) leitet den Widerstand gegen die Franzosen. Montfort erhält den Brief einer von ihm vergewaltigten Frau, in dem diese ihm mitteilt, Henri sei sein Sohn. Montfort offenbart sich Henri, worauf dieser einen Tötungsanschlag Hélènes auf den Gouverneur (sie will Monfort erdolchen) vereitelt. Er rettet seinen Vater um den Preis, von den ehemaligen Kampfgenossen zum Verräter gebrandmarkt zu werden. Procida und Hélène kommen in Haft. Als Hélène und Procida von der Vater-Sohn-Beziehung erfahren, verzeihen sie Henri. In einem abrupten Sinneswandel lässt der Gouverneur, der zunächst die Hinrichtung der Inhaftierten befohlen hat, Hélène und Procida frei, weil Henri ihn darum bittet und ihn dabei als seinen Vater bezeichnet. Der Gouverneur stimmt sogar der Heirat Hélènes mit Henri zu, die Hochzeitfeierlichkeiten werden arrangiert. Nun aber tritt eine Wende ein. Procida teilt Hélène mit, der Aufstand gegen die fremden Herren werde mit dem Erklingen der Hochzeitsglocken ausbrechen, er, Procida, werde ein Massaker anzetteln. Daraufhin widerruft Hélène aus Angst vor dem Blutvergießen ihr Eheversprechen. Der ahnungslose Gouverneur indessen vollzieht das Hochzeitszeremoniell, die Hochzeitsglocken läuten und das Gemetzel nimmt seinen Verlauf…
Kunsturteile sind subjektiv, mögen sie sich noch so selbstsicher den Hermelin der Objektivität umwerfen und wie die Wahrheit selbst daherstolzieren. Sie sind von je eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen, Kunstwissen, aber auch von aktuellen Stimmungen geprägt oder gar abhängig. Eine gewisse Zurückhaltung ist angebracht. Dennoch: der Rezensent macht keinen Hehl daraus, dass er von der münchner Aufführung begeistert ist.
Und dies ungeachtet der gelegentlichen stimmlichen Schwierigkeiten der Protagonisten (vor allem Leonardo Caimis, der für den erkrankten Bryan Hymel einsprang). Auszunehmen ist die Darbietung Erwin Schrotts, dessen volltönender Bass-Bariton im Zusammenhang mit der Sängerpersönlichkeit des Künstlers einen starken Eindruck hinterließ. Und auszunehmen sind auch die stimmstarken, markigen Chöre. Das geht unter die Haut.
Vor allem jedoch überzeugt die Aufführung durch die Inszenierung und die musikalische Interpretation. Der Regisseur Antú Romero Nunes zaubert in Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Matthias Koch Bilder von visionärer Dichte auf die Bühne. Der Chor der Sizilianer erscheint mit Totenschädeln oder anderen Masken, die an die Exponate aus Palermos Kapuzinergruft oder an die Bilder von Goyas Desastres de la Guerra gemahnen. Schrecklich-schön oder erschreckend-schön, wenn aus den Mündern der Elenden, teilweise auf dem Boden Kriechenden ein depressiver Gesang erklingt oder lärmzuckendes Getöse (der Dirigent setzt sich Ohrenschützer auf) das Unheil ankündigt.
Die Inszenierung verlässt nie diesen düster gefärbten Grundton des Tragischen, der die Intentionen der um 1830 in Frankreich aufkommenden Grand opéra ( s. Auber: Musette de Partiti; Rossini: Guillaume Tell; Meyerbeer: Le Diable) auf das Genaueste trifft und zugleich in die Neuzeit umsetzt, indem sie es dem Zuschauer/Zuhörer überlässt, Zweifel an der Unbedingtheit der jeweiligen vorgetragenen (sturen, unverrückbaren) Standpunkte der Hauptpersonen anzumelden und Hoffnungen in eine bessere, ins Weite der Internationalität und der Völkerverständigung ausgedehnte Zukunft erlaubt. Ambivalenz herrscht vor. Selbst über den überdimensional herabwallenden Hochzeitsschleiern im letzten Akt hängt das Seil eines Galgens. Eindeutig ist das Leben nie.
Sinnvoll werden die Balletteinlagen aufgeteilt und interpretatorisch, nämlich als Totentanz, in die Handlung integriert, statt in Unterbrechung der Handlung als Ganzes dargeboten zu werden und den Zusammenhang des Geschehens zu zerreißen. Gespenstisch, wenn zwei der wie erhängten Figuren sich plötzlich in der Luft vereinigen. Eine besonders albtraumhafte Passage.
Auch die Chöre, nach dem Konzept der Grand opéra eigentlich als die Masse, das Kollektiv, dem das Individuum gegenübersteht, verstanden, wirken ungeachtet ihrer beeindruckenden Stimmstärke nicht dominierend. Das alles ist wohlüberlegt und bewundernswert unaufdringlich.
Überzeugend auch die Personenregie. In der Tat: man schwankt ständig zwischen Sympathie und Antipathie. Mal entscheiden sich die Personen für die Familienbande, mal für den Kampf um die Freiheit. Sie wissen nicht genau, wohin mit den Gefühlen einerseits und den politischen und ideologischen Überzeugungen andererseits. Komplexer geht es kaum. Der anfängliche Freiheitsheld Procida wird am Ende zum unbelehrbaren Fanatiker und sturen Nationalisten. Und der Gouverneur de Montfort zum Protagonisten einer Völkerverständigung, die über den engen Rahmen Siziliens weit hinausgeht. Ein nachdrücklicher Hinweis auf den allerorten aufkommenden Neo-Nationalismus beschränkter Vaterlandsverteidiger, die Heimat mit politisch definierter Nation verwechseln.
Das alles wird nicht vertuscht, sondern vom Regisseur aufgezeugt und stehen gelassen, wie es nunmal im wirklichen Leben ist. Die Menschen sind wie sie sind, von Gefühlen ebenso bestimmt wie von Theorien und manchmal überwiegen diese manchmal jene. Nie wissen wir genau, wo der Weg zum Glück verläuft und so stehen wir eben da: hin- und hergerissen, Scheusale und Liebenswerte zugleich. Wie gesagt: die menschliche Situation ist dialektisch.
Die Musik verdeutlicht dies. Über dem Agitato der Ouvertüre und dem Fortissimo des Kampfgeschehens schmilzt so manche Belcanto-Arie wie unbeirrt und zur Feier der Kunst. Großartig dargeboten von dem Dirigenten Omer Meir Wellber und dem brillanten Orchester. Nie wird die Musik zu laut und lärmend, immer jedoch eindringlich und dem Genie Verdis gerecht werdend. Verdi! Wie er den Nuancen nachspürt, auf die Valeurs achtet, das Tragische trifft und das Tröstliche hinzufügt. Und sich manchmal von der bloßen Kunst hinreißen lässt. Musik ist ja keine Ideologie, sie ist Kunst, das ist mehr als genug. Was könnte man alles über Verdis Musik schreiben. Kompliziertes und Einfaches. Menschliches.
Man verlässt auf musikalischen Wolken und – nun doch – um Ein-Sichten bereichert die Oper.
Sizilianische Vesper an der Bayerischen Staatsoper; 18.3.2018 - kostenlose Übertragung auf STAATSOPER.TV, link - https://www.staatsoper.de/tv.html?no_cache=1, weitere Vorstellungen am 22.3.; 25.3.; 26.7.; 29.7.2018
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