München, Bayerische Staatsoper, La Fanciulla del West - Giacomo Puccini, IOCO Kritik, 25.03.2019
La Fanciulla del West - Giacomo Puccini
- Puccinis Sieg -
von Hans-Günter Melchior
Am Anfang will die Handlung keine Handlung sein. Sie kommt nicht vom Fleck. Die Musik reißt und zerrt an ihr und manchmal stößt sie das Geschehen ein wenig nach vorne, kleinteilig, fast abstrakt, funktional und stakkatohaft irrlichtert sie durch das soziale Milieu einer Goldgräberstadt, in der die Bar Polka so etwas wie eine Ersatzheimat darstellt. Die Arbeiter sitzen an einem runden, sehr niedrigen Tisch und spielen Karten, den Bühnenraum begrenzt links eine Bar. Man kommt über eine Art Empore, von der eine Treppe nach unten führt, in den schmucklosen Raum, der geradezu bevölkert ist von der Arbeitermenge, einfachen Leuten, ärmlich gekleidet und arm, einsam unter vielen Ihresgleichen, die ihre Familien schmerzlich entbehren.
La fanciulla del West - Giacomo Puccini youtube Trailer der Bayerischen Staatsoper München - Einführung [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Das ist sehr treffend und genau vom Regisseur Andreas Dresen und seinem Bühnenbildner Mathias Fischer-Dieskau arrangiert. Unter Verzicht auf den üblichen Schnick-Schnack und Klamauk ihrer allzu oft intellektuell überforderten Kollegen, die glauben, die ganze Welt auf einmal erfassen und alle Welträtsel lösen zu müssen. Von Anfang an wird klar: dies hier ist keine Cowboy-Klamotte und federgeschmückte Indianer kommen auch nicht vor; und schon gar nicht wird wild herumgeballert, dass einem das Sehen und vor allem das Hören vergeht. Hier wird vielmehr ein Schlaglicht auf einen sozialen Sachverhalt geworfen, auf die Not von Männern, die um ihrer und ihrer Familien Existenz willen Entbehrungen auf sich nehmen und sich durchs Leben schlagen. Arme Teufel eben, wie Minnie, Barfrau und Herrscherin über Männer sagt. Und die sich, wie sich zeigen wird, ins Menschliche-Allzumenschliche und insbesondere auch ins Rechtliche verstricken, in den Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit, dem sie letztlich nicht gewachsen sind (nebenbei: auch das Libretto nicht, das ins allzu Beliebige taumelt, damit die Sache ihren Fortgang nimmt. Was auch mit humanitärem Tiefsinn nicht zu retten ist, wie dies von manchen Kommentaren und Interpreten zuweilen versucht wird).
Beherrscht wird die Bar von der großartigen Anja Kampe als Minnie. Die einzige Frau unter vielen Männern, von diesen heimlich begehrt, aber unnahbar, kein Vamp, sondern eine Frau, die ihre Identität verteidigt, eine Art fürsorglicher Mutter, die die Kranken unter den Männern pflegt, und den Bedrückten Trost zuspricht. Und sie vor allem unter Zuhilfenahme der Bibel über die immer wieder einzufordernde Menschlichkeit unter den Menschen belehrt und ihnen diese beispielhaft vor Augen hält. Sie liest aus der Heiligen Schrift vor und fragt die Männer ab, wer war David und was hat er getan…, und so weiter, und wenn die Auskünfte unvollständig oder falsch sind, rügt sie mit einem milden Verweis ihren Schüler.
Von wegen Anja Kampes Sopran erreiche nur noch mit Mühe die Höhenlagen –; wie in einer Rezension stand. Das ist so falsch wie ungerecht. Diese Künstlerin ist hochpräsent und glaubwürdig, ihrer Partie mühelos gewachsen, schauspielerisch ist es ein Ereignis, wie sie über die Männerwelt herrscht, ohne sich auf die üblichen Machtmittel und Gewaltmaßnahmen stützen zu müssen. Wer könnte das besser? Anja Harteros könnte es genauso gut.
Minnie hat eine Menge zu schlichten und zu beschwichtigen. Einer der Männer zerfließt vor Heimweh, ein anderer (Sid: Alexander Milev) spielt falsch und kann vom Sheriff gerade noch vor der Lynchjustiz gerettet werden – und überhaupt: fast jeder der Männer stellt ihr heimlich oder durch Gebärden nach oder träumt zumindest von ihr.
Besonders der Sheriff Jack Rance (ein hervorragend kerniger Bariton ist John Lundgren, zuweilen dämonisch, manchmal, – rollengemäß – unbedarft und nicht auf der rechtlichen Höhe des Geschehens) macht sich Hoffnungen. Er ist zwar verheiratet, jedoch jederzeit bereit, seine Frau zu verlassen, wenn Minnie seinem Werben nachgibt.
Das geht so eine Weile hin und her im ersten Akt –, bis die Rede auf den Banditenanführer Ramerrez kommt. Er treibt sein Unwesen in der Gegend, es wird nach ihm gefahndet, bringt er doch das fragile soziale Gefüge in Unordnung, nicht zuletzt deshalb, weil er es auf das mühsam genug geschürfte Gold der armen Männer abgesehen hat. Der Sheriff ist schon lange hinter ihm her, hat aber keinen Erfolg.
Mitten in die Unruhe und den Fragenwirrwarr hinein tritt Brandon Jovanovich als Johnson auf: wie der Ritter im Lohengrin aus dem Nichts. Ein Fremdling, der langsam und jeden Schritt abmessend die Treppe herunterkommt – und Rätsel aufgibt. Von den ängstlichen, psychisch aneinander ausgelieferten Männern reflexartig wie ein die Ordnung ins Wanken Bringender abgelehnt und nur kraft Minnies Einfluss geduldet. Ein gut aussehender Mann. Dem die Frau sofort erliegt, ohne es zunächst zugeben zu können. Brandon Jovanovichs Tenor ist von geradezu überrumpelnder Strahlkraft.
Johnson darf Minnie als erster Mann in ihrem Leben küssen. Dass sich hinter ihm der Banditenführer Ramerrez verbirgt, erfährt man erst im zweiten Akt. Aber da ist es bereits zu spät, jedenfalls für Minni, ihre Liebe ist stärker als all die auf der Hand liegenden Einwände es sein können. Sie nimmt ihn in ihrem Haus auf, einem einfachen Holzgebäude, eine Art Hütte. Hier dienen radebrechend die Haushälterin Wowkie (Noa Beinart) und Billy Jackrabbit (Oleg Davydov), die in einer einzigen Anspielung auf den „wilden Westen“ als Indianer auftreten.
Ein Opernsteckbrief zu La fanciulla del West youtube Trailer der Bayerischen Staatsoper München [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Indessen bleibt der Regisseur Dresen seiner Idee treu: er verzichtet auf jeden Pomp, auf jede Wild-West-Romantik, auf die Idylle des unechten und ständig gefährdeten und die Spannung unnötig aufladenden Heimeligen, die in so manchen Western mit ihren wattierten Plüschwohnungen stört. Minnie ist eine einfache Frau wie die Männer einfache Männer sind, arm, jedoch nach den höheren Weihen der Bildung und zivilisatorischen Ordnung strebend, die eine Gesellschaft erst zur menschlichen machen.
Als der Sheriff Rance, unterstützt von dem Goldgräber Sonora (Tim Kuypers) und anderen nach dem Banditenchef in Minnies Haus sucht, verbirgt sie den Geliebten. Ach ja –, und dann kommt dieses unsägliche Kartenspiel: Minnie schlägt dem Sheriff vor, mit ihr um das Leben des Banditen zu spielen. Gewinnt er, soll ihm nicht nur Ramerrez, sondern auch sie gehören. Sie betrügt den Sheriff und gewinnt. Dieser verzichtet – pflichtwidrig – auf die Festnahme des Banditen und zieht ab.
Man muss das einfach mal hinnehmen, so unglaubwürdig und überdies albern wie es auch ist. Von juristischer Korrektheit soll hier gar nicht die Rede sein. Irgendwie muss es ja weitergehen, werden sich wohl die Librettisten Guelfo Civinini und Carlo Zangarini in Anlehnung an das Schauspiel The Girl of the Golden West von David Belasco gedacht haben, als sie sich in so einen allzu künstlichen Kunstgriff verstiegen.
Die Handlung schleppt sich dann ein wenig beschwert von fantastischen Schlauheiten in den dritten Akt. Ramerrez, alias Johnson, wird nun doch gefangen genommen. Die Bühne ist fast vollkommen dunkel. Schemenhaft ragt im Vordergrund ein Telegrafenmast auf, an dem der Bandit aufgehängt werden soll. Schon ist ihm die Schlinge um den Hals gelegt –, als Minnie wie eine dea ex machina auftaucht. Mit ihrer ganzen emotionalen Kraft stemmt sie sich dem Gewaltakt der Lynchjustiz entgegen. Sie wendet sich jedem einzelnen der Goldgräber zu, hält diesen vor Augen, was sie Gutes an ihm gewirkt hat. Und droht damit, diese zu verlassen, sollten sie ihren, Minnies, Geliebten aufhängen.
Die Drohung verfehlt nicht ihre Wirkung. Das Risiko, Minnie um der Exekution an einem Banditen willen zu verlieren, erscheint den Männern zu groß, untragbar. Sie geben Ramerrez / Dick Johnson frei und in die Arme der Geliebten fallen. Schwamm drüber. Das gesetzte Recht wird hier zweifelsfrei verletzt. Das Libretto schert sich nicht um solche Kleinigkeiten. Wie auch immer: freilassen durften die Arbeiter einen Tatverdächtigen jedenfalls nicht. Ausgerechnet auch noch in Anwesenheit des Ordnungshüters, des Sheriffs.
Aber wir befinden uns ja nicht in einem juristischen Seminar. Wir befinden uns in der Traumfabrik Oper, wo Wunder geschehen.
Die Musik emanzipiert sich immerhin, besonders am Ende des zweiten und dann im dritten Akt vom Dienst an der Handlung, wirft die Fesseln der Funktionalität ab. Wunderschön schwingt sie sich zu jenen melodischen Höhen auf, die man von Puccini kennt, stürzt jedoch keineswegs ins Kitschige ab wie zuweilen in den Reißern, die diesen Komponisten als Belcanto-Meister berühmt machten. Hier ist ein wahrer Könner am Werk: Puccinis Sieg! Über manche Ungereimtheiten der Handlung. Die Komposition übernimmt die Führung, steht über dem Text.
Das Publikum dankt am Ende mit begeistertem Beifall, feiert das riesige Ensemble. Der Bericht muss sich jedoch mit Hervorhebungen einzelner Namen begnügen.
Aber das wahrhaft großartige, bis in die Nuancen hochsensible Orchester unter der Leitung von James Gaffigan darf keinesfalls vergessen werden. Der Dirigent hatte Partitur und Orchester meisterhaft im Griff. Mit Feuer und wahrer Leidenschaft überzeugte er selbst in manchen ziemlich lautstarken Steigerungen, die die Grenzen des schmerzfrei Hörbaren ausloteten.
Eine mehr als empfehlenswerte Aufführung, inszenatorisch und musikalisch bereichernd
La fanciulla del West am Nationaltheater München;die weiteren Termine 26.3.; 30.3.; 2.4.; 26.7.; 27.7.2019 und mehr
---| IOCO Kritik Bayerische Staatsoper München |---