München, Bayerische Staatsoper, Judith - Béla Bartók, IOCO Kritik, 09.02.2020
Judith - Konzert für Orchester / Herzog Blaubarts Burg
Judiths Rache
von Hans-Günter Melchior
Darf man geteilter Meinung sein bei so viel einhelliger Begeisterung? Man darf.
Das Publikum war schlichtweg hingerissen. Laute Bravi, langer Applaus. Einhellige Begeisterung. Dennoch diese leichte Trübung…
Kein Zweifel: für Spannung war gesorgt. Und für gute Unterhaltung. Das ist sehr viel bei so einem schwierigem Komponisten wie es Bartók war, dessen Werk weit in die Moderne reicht und diese in manchen Kompositionen sogar übertraf. Zwiespältig ist die Meinung des Rezensenten, freilich nur ein wenig. Sollte Bartók durch einen Film „verträglich“ gemacht werden? Oder gar eine erweiterte Sicht auf sein Werk gestaltet werden? Man kann beide Meinungen vertreten.
Judith - Katie Mitchell beschreibt ihre Regie youtube Trailer Bayerische Staatsoper [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Gleichsam als eine Art Ouvertüre ging der einaktigen Oper Herzog Blaubarts Burg, das Konzert für Orchester voraus. Und diesem Werk des bereits 60-jährigen Bartók wurde ein Film –, nun ja: unterlegt? Oder begleitend zugeordnet oder, die Oper erklärend, hinzugefügt? Muss man, darf man, das Hören auf die Musik mit dem Sehen teilen? Und lenkt das Sehen vom Hören ab? Und: ist diese Ablenkung bei einem Komponisten wie Bartók aus künstlerischer Sicht überhaupt legitim? Es gibt darauf keine eindeutige Antwort (s.u.)
In Kürze die Handlung des Films: die Kriminalbeamtin Anna Barlow (Nina Stemme), eine verdeckte Ermittlerin, bearbeitet den Fall dreier verschwundener Escort-Frauen. Das Verfahren (wegen Entführung u. a.) richtet sich gegen Unbekannt, als Tatort kommt wohl London in Frage. Anna Barlow tritt zur Tarnung wie eine Escort-Dame auf und lässt sich über eine einschlägige Agentur an einen Mann vermitteln, der sich Blaubart (John Lundgren) nennt. Er „bucht“ sie. Ein PKW bringt sie zu dessen Wohnsitz in einer Luxusgegend. Er empfängt sie und nennt sie Judith.
Soweit der Film, der überleitet zur eigentlichen Geschichte der Oper.
Blaubart bewohnt eine Burg, einen düsteren Ort: geisterhaft ist die Musik. Ein pentatonisches Thema, eine Figur in Fis-Moll. An große Vorbilder gemahnend, etwa die unheimliche Wolfsschluchtthema im Freischütz. Mit dem selben Thema endet die Oper. Dazwischen entwickeln sich durchgehend chromatische Passagen um ein Tritonus-Zentrum.
Sie bemächtigen sich musikalisch einer gruseligen Handlung. Blaubarts Burg ist ein Ort der Gewalt und Unterdrückung. Hinter insgesamt sieben Türen befinden sich Zeugnisse von Mord, Totschlag, Entführung und Freiheitsberaubung..
Anna Barlow, alias Judith gelingt es, Blaubart nach einigem Zögern zu veranlassen, ihr die Schlüssel zu den einzelnen Räumen auszuhändigen. Sie behauptet, ihn zu lieben, er glaubt es am Anfang.
Judith ist entsetzt über die blutigen Zeugnisse der Schreckensherrschaft Blaubarts und findet sich zugleich in ihrem Verdacht bestätigt: die Spuren von Mord und Totschlag, auf blutbefleckten Waffen, Messern und dem Schmuck sprechen eine eindeutige Sprache. Selbst im herrlichen Garten finden sich Blutlachen und der Blick über das weite Land, das von nun an ihr gehören soll, schreckt vor blutigen Schatten zurück. Hinter der sechsten Tür befindet sich indessen ein regloses Gewässer. Blaubart erklärt, es handele sich um Tränen.
Schließlich die siebte Tür. In dem Raum sind die drei vermissten Frauen eingesperrt. Sie leben noch. Blaubart ordnet sie den Tageszeiten zu: Morgen, Mittag und Abend. Judith ist als die Verkörperung der Nacht vorgesehen. Inzwischen gelingt es Blaubart, die Besucherin Judith – Anna Barlow – zu enttarnen. Bevor er jedoch eine Entschließung fassen kann, bringt sie seine Pistole an sich und erschießt ihn.
Eine deutliche Abweichung vom Originallibretto von Béla Balázs: dort treibt die Liebe Judith in die Arme Blaubarts. Sie will ihn durch eben diese Liebe von seinem Mordtrieb befreien.
Unter der Regie von Katie Mitchell erhält die Handlung einen entscheidenden Dreh in die Genderproblematik. Die Frage, ob Judith Blaubart ermordet oder in Notwehr handelt, die die Rechtswidrigkeit der Handlung beseitigt (§ 32 Abs.2 StGB: „Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwehren“), ist angesichts der Regieabsicht beckmesserisch. Angelegt ist das Drama als Paradigma tätigen Aufbegehrens der Frauen gegen die Männerherrschaft und die Männergewalt. Der Film zum Konzert für Orchester führt in diese Widerstandsidee ein und findet im – umgeschriebenen – Blaubart-Thema seine Fortführung. Der Kommissarin Barlow, alias Judith, fällt die Aufgabe zu, die Frauen zu rächen. Eine Aufgabe von historischer und gesellschaftlicher Bedeutung, vor der das Strafgesetzbuch zumindest in der Kunst zu schweigen hat.
Kein Zweifel: Oksana Lynivs sehr engagiertes, zupackendes Dirigat, dem das großartig aufgelegte Orchester bedingungslos folgt, betört, wühlt förmlich auf. Und die sängerischen und darstellerischen Leistungen von Nina Stemme und John Lundgren verdienen Bewunderung.
Ein leiser Einwand gilt eben nur dem Film. Bartók ist vielleicht der bemerkenswerteste unter den Komponisten des 20. Jahrhunderts. Einer, der weit bis in die Moderne hinein vordrang, ohne ihre Neuerungen, wie etwa die Dodekaphonie, bedingungslos zu übernehmen. Ein fand seinen eigenen Weg. Seine Streichquartette, etwa das 4. Streichquartett mit seinen Quintenschichtungen, Tontrauben und Clustern, der Aleatorik und zugleich der höchsten, konstruktiven Durchrechnung, die Aufnahme von Elementen der Volksmusik und die rhythmischen Eigenheiten (der bulgarische Rhythmus etwa im 5. Streichquartett oder die Oktatonik, Pentatonik, die metrischen Prinzipien u.v.a.m.) sind Beispiele geradezu denkerischer und formaler Durchdringung des musikalischen Stoffes, die in der neuzeitlichen Musik ihresgleichen suchen.
Eine solche Musik verweist eher auf sich selbst, ist in sich verschlossen, zuweilen kryptisch und verlangt nach ausschließlicher Aufmerksamkeit.
Da wird es, wie oben gesagt, schwer, die Aufmerksamkeit zu teilen. Selbst bei einem Film, der selbst kein Tonfilm ist, sondern stumm nur erläuternde Sequenzen zeigt und die Musik bebildern will. Schwer selbst auch bei einer Musik wie dem Konzert für Orchester, das wohl eines der fasslichsten – und deshalb auch populärsten – im Gesamtwerk des Komponisten ist.
Gleichwohl: es war bei allem Weghören und Hinsehen und allem Hinhören und Wegsehen ein durchaus fesselnder Abend, an dem neue Wege beschritten wurden, und der begeistert aufgenommen wurde. Nie ist die Kunst am Ziel, wäre sie es, befände sie sich an ihrem trägen Ende.
Darf man also auch anderer Meinung, zwiespältig gestimmt, sein? Man darf!
Premiere Judith: 1. Februar 2020, weitere Vorstellungen 7.2., 9.2.; 13.2.; 16.2.; 27.2.; 29.2.2020 und mehr
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