Moritz Eggert, moderner Komponist und Pianist, IOCO Interview, 30.09.2020
Moritz Eggert - moderner Komponist und Pianist - Professor
Musik- und Tanztheater, Kammer- und Kirchenmusik, elektronische Musik
im Gespräch mit Ljerka Oreskovic Herrmann / IOCO
Der in Heidelberg geborene Komponist und Pianist Moritz Eggert ist seit Jahren ein im In- und Ausland erfolgreicher und äußerst vielseitiger Künstler. Er schreibt für alle Genres: Musik- und Tanztheater, Kammermusik, Kirchenmusik, elektronische Musik und legt seinen kompositorischen Schwerpunkt auf das Lied. Ungewöhnliche Ensembles wie z. B. die Symphonie 1.0 für 12 Schreibmaschinen (1997) oder alien für Blockflöte und Live-Elektronik (2005) finden sich in seinem Werk wieder. Inzwischen blickt Moritz Eggert auf mehr als 275 Stücke, allein 16 Opern wie auch zahlreiche Film- und Radiomusik, zurück, was nicht nur von großer Produktivität, sondern von ebenso profunder Kenntnis der klassischen Musikliteratur zeugt. Außerdem schreibt er für den von ihm mitgegründeten Bad Blog of Musick, dem wohl bedeutendsten Musik-Blog zu zeitgenössischer und klassischer Musikkultur.
"Liebeslied" aus der "Bordellballade" - gespielt und gesungen von Moritz Eggert youtube Trailer Moritz Eggert [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Aufgewachsen ist Moritz Eggert in Frankfurt am Main, wo er an der Seite seiner Mutter Mara Eggert – einer der wichtigsten Theaterfotografinnen der alten Bundesrepublik – seine Kindheit auch in den Theatern der Stadt verbrachte und Musik- und Theatergeschichte, die Frankfurt damals schrieb, aus nächster Nähe erfahren konnte. Sein Vater ist der 1999 verstorbene Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Herbert Heckmann. Moritz Eggert erhielt seine erste musikalische Ausbildung bei Wolfgang Wagenhäuser (Theorie und Klavier) und Claus Kühnl (Komposition) am Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt, nach dem Abitur studierte er Klavier an der Frankfurter Hochschule für Darstellende Kunst und Musik bei Leonard Hokanson. Seine Studien setzte er in München und London fort. Seit 2010 ist er Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater München.
Ljerka Oreskovic Herrmann (LOH): Was „macht“ ein Komponist? Sitzt Moritz Eggert am Klavier und notiert die Noten, die er im Kopf hat? Oder machen Sie es eher wie der unlängst verstorbene Ennio Morricone, der alles zuvor im Kopf hatte und dann notierte?
Moritz Eggert (ME) Das machte nicht nur Morricone so, ich denke die Vorstellung im Kopf ist die wichtigste Voraussetzung fürs Komponieren. Wenn im Kopf nichts klingt, bleibt es leeres Handwerk, wobei es aber erschreckend ist, wie viele Menschen ohne jeglichen inneren Klang Musik produzieren (was man dann leider auch hört). Der Arbeitsprozess ist aber komplex und schwer zu beschreiben, das Klavier kann dabei eine Rolle spielen, muss es aber nicht, das ist tatsächlich von Stück zu Stück verschieden. Bei Beethoven oder Mozart merkt man oft, dass es aus der Improvisation am Klavier kommt, aber auch das braucht eine innere Vorstellung. Ich würde sagen, der Alltag eines Komponisten besteht aus 5% Inspiration und 95% Schweiß – es kann Tage dauern, zum Beispiel die Orchesterpartitur einer Passage zu realisieren, die man sich vielleicht in wenigen Sekunden vorgestellt hat.
LOH: Wie und wo finden Sie „Ihre“ Musik?
ME: Musik hat mich mein ganzes Leben begleitet – schon als kleines Kind habe ich ständig Musik im Kopf gehört, dachte aber nicht, dass das eine besondere Fähigkeit sei, das habe ich erst später verstanden. Ich könnte es zeitlich gar nicht realisieren, all diese Musik aufzuschreiben. Ich habe auch noch nie erlebt, dass ich mir nicht sofort Musik vorstellen kann, aber was man schon erlebt, ist, dass man damit unzufrieden ist, wie man sie zu Papier bringt. Das bleibt ein ständiger Kampf.
LOH: Sie komponieren für alle Genres (Lied, Ballett, Kammermusik, Orchesterwerke und Oper, ebenso für Film und Radio). Handelt es sich dabei (fast immer) um Auftragswerke für einen bestimmten Anlass?
ME: Als Komponist lebe ich genauso wie meine KollegInnen von Auftragswerken und schreibe für Anlässe. Das war zu allen Zeiten der Musikgeschichte so. Man nutzt dabei aber Freiräume und setzt eigene Impulse – kein Auftrag MUSS angenommen werden, wenn er einen nicht inspiriert. Und ich kann versuchen, Aufträge für Projekte zu bekommen, für die ich brenne oder die ich gerne einmal realisieren würde.
Moritz Eggert und Verschmähte Liebe youtube Trailer Moritz Eggert [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
LOH: Bei der Vertonung von Google-Nutzungsbedingungen (Ich akzeptiere die Nutzungsbedingungen, 2014), haben Sie sie vorher selbst gelesen – welche Musik passte dazu überhaupt? Wie kamen Sie darauf, denn der Anlass war das 100-jährige Jubiläum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main in der Paulskirche? Wie reagierte das Publikum darauf?
Mich interessieren immer „unmögliche“ Aufgaben, und natürlich ist so eine Nutzungsbedingung so ziemlich der sperrigste und unattraktivste Text, den man sich vorstellen kann. Er SOLL nicht gelesen werden, daher ist er bewusst langweilig, Google möchte viel lieber, dass man das einfach wegklickt und sich auf alles einlässt. Die Herausforderung war also, eine musikalisch mitreißende Form zu finden, in diesem Fall, die einer Solokantate mit Orchester. Durch einen Sänger wird das Material sofort emotional transformiert und mit der Musik kann ich Akzente setzen, kann zum Beispiel das „Ich akzeptiere…“ desolat und devot vertonen, um damit eine Art Verzweiflung und innere Aufgabe auszudrücken. Das Publikum hat das schon verstanden, der damalige Bundespräsident Gauck rutschte allerdings nervös auf seinem Stuhl herum, obwohl er vorher von eine „Kultur der Offenheit“ und der Notwendigkeit, „sich auf Neues einzulassen“ gesprochen hatte. Hätte er Mal nur auf sich selbst gehört.
CRESCENDO live: Moritz Eggert über Nikolaus Harnoncourts Donauwalzer-Version youtube Trailer Moritz Eggert [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
LOH: Beim Musiktheater-Komponieren: Benötigen Sie zuallererst ein Thema, um die Musik dazu zu schreiben, oder haben Sie eine bestimmte Musik im Kopf, die dann zu einem Inhalt eventuell passen könnte?
ME: Musiktheater entsteht auf jeden Fall aus den Themen – es wäre viel schwieriger, erst die Musik zu schreiben und dann nachträglich ein Thema draufzusetzen. Alle großen Werke der Oper sind immer stark thematisch bezogen: kein „Ring der Nibelungen“ ohne Wagnersche Weltphilosophie, keine „Traviata“ oder „Carmen“ ohne tragische Liebesgeschichte. Je nach Thema verändert sich auch die Musik. Ich könnte einige Werke aus der Musikgeschichte nennen, bei denen selbst die tollste Musik das schlechte Libretto oder den langweiligen Stoff nicht retten kann.
LOH: Welche Themen reizen oder interessieren Sie gerade in Bezug auf Oper, wofür Sie (neben dem Lied) bevorzugt komponieren? Komponieren Sie heute anders als vor zwanzig oder dreißig Jahren? Inwiefern verändert(e) sich die bzw. Ihre Kompositionsweise im Laufe der Jahre?
ME: Sie verändert sich ständig und man fühlt sich auch ständig so, als sei man am Anfang, als hätte man noch nie eine Oper geschrieben. Mich reizt es momentan wieder zunehmend, eigene und neue Libretti zu schreiben, die speziell für Oper neu gedacht sind, nicht so sehr, schon existierende Geschichten für Oper umzudenken. Aber ich sehe das nicht dogmatisch, das hängt auch wirklich von den Themen ab. Gerade arbeite ich an „Iwein Löwenritter“, das basiert auf dem Roman von Felicitas Hoppe und handelt von Rittertum und Heldenmut, allerdings mit einer sehr modernen Sichtweise, das macht mir auch sehr viel Spaß.
LOH: Was braucht ein Komponist, eine Komponistin, um einerseits das „handwerkliche“ Können zu beherrschen, andererseits für den heutigen Musikbetrieb (ob Konzerthaus oder Theater) „fit“ zu sein?
ME: Erfahrung sammeln, Erfahrung sammeln, Erfahrung sammeln. Das hört auch nie auf. Oper kann man als Handwerk nur lernen, wenn man es betreibt und alles Mögliche ausprobiert. Ich habe das Glück, durch den Beruf meiner Mutter quasi im Opernhaus aufgewachsen zu sein, daher ist mir die Welt des Theaters immer grundsätzlich sehr vertraut gewesen. Schon als Teenager habe ich kleine Bühnenmusiken geschrieben und habe mich dann Stück für Stück zu größeren Musiktheatern hochgearbeitet. Meine erste „Oper“ schrieb ich mit 22 – die Aufführung war eine traumatische Erfahrung, es sollten viele weitere folgen. Wer weitermacht (wie ich es gottseidank getan habe) ist entweder wahnsinnig oder kann halt nicht anders. Ich hoffe, bei mir ist es letzteres. Vielleicht auch beides.
LOH: Als Professor für Komposition an der Musikhochschule München: Was möchten Sie den angehenden Komponistinnen und Komponisten vermitteln? Insbesondere vor dem Hintergrund der Pandemie – leider kann man das Thema Corona nicht ausklammern? Werden sie eine Chance haben, ihren Beruf oder Berufung ausüben zu können? Welche Auswirkungen hat die aktuelle Situation auf Sie? Als Komponist und als Lehrender?
ME: Für die jetzigen Studienabgänger ist die Situation am schwierigsten. Nur den wenigsten, die Komposition studieren, ist es nämlich möglich, im Genre klassischer zeitgenössischer Musik vom Komponieren zu leben - die meisten retten sich mit allen möglichen Stipendien (die auch nicht alle bekommen) bis Ende 30 und schauen dann, wie sie zurechtkommen. Aber die Jahre nach dem Studium sind schon diejenigen, in denen man versuchen muss, einen bestimmten Ruf aufzubauen, erste Aufträge zu bekommen usw. Und das geht nur, wenn auch tatsächlich Konzerte stattfinden. Insofern läuft die momentane Abgängergeneration Gefahr, zu einer Art „vergessenen Generation“ zu werden, egal, wie talentiert sie sind, denn wenn Corona einmal vorbei ist, stehen schon wieder die nächsten Jungen bereit.
Aber auch für die momentan Studierenden gibt es allerlei Beeinträchtigungen – im Studium sind Klassenkonzerte und Meisterkurse unglaublich wichtig, wenn diese nicht stattfinden, fehlt ein großes Erfahrungspotenzial, das sich nur schwer nachholen lässt, denn man studiert ja Komposition, um mit möglichst vielen Instrumentalisten und Sängern zu arbeiten und wichtige Erkenntnisse zu sammeln. Das ist mit Onlineunterricht (der ganz sicher noch mindestens bis 2021 eine Rolle spielen wird) nicht zu ersetzen.
Für mich als Komponist ist die Situation auch unangenehm, da ich eigentlich gar nicht weiß, was ich im Moment komponieren soll – wird es abgesagt oder verschoben? Muss ich es für neue Bedingungen neu konzipieren? Diese Ungewissheit ist lähmend, da man gar nicht weiß, welche Prioritäten man setzen soll und was gerade dringend ist. Andererseits will ich nicht jammern – ich komme über die Runden und es ist auch nicht schlecht, einfach Mal wieder über Musik nachzudenken und in sich zu gehen, auch das kann sehr produktiv sein. Manchmal liegt im Schweigen mehr Kraft als in blindem Aktionismus. Danach wird meine Musik auf jeden Fall anders sein als vorher, alles andere hieße, diese Chance nicht genutzt zu haben. Auch in Katastrophen liegen Chancen, ich versuche da immer, positiv zu bleiben. Im Moment mache ich fast mehr Sport als Musik, aber auch das ist Selbsterfahrung.
LOH: Herr Eggert, auch im Namen der großen IOCO - Kultur Community herzlichen Dank für das Gespräch.
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