Montpellier, Opéra Comédie, IPHIGÉNIE EN TAURIDE - Christoph W. von Gluck, IOCO Kritik, 26.04.2023
IPHIGÉNIE EN TAURIDE (1779) - Christoph Willibald von Gluck
Lyrische Tragödie in vier Akten mit einem Libretto von Nicolas-François Guillard, nach dem gleichnamigen Drama von Guimond de la Touche, inspiriert von der Tragödie des Euripides
von Peter Michael Peters
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- DER FLUCH DER ATRIDEN!
- Ô race de Pélops! Race toujours fatale !
- Jusque dans ses derniers neveux
- le ciel poursuit encore le crime de Tantale.
- Le rois des rois, le sang des dieux,
- Agamemnon descend dans la nuit infernale.
- Son fils du moins restait à ma douleur,
- j’attendais de lui seul la fin de ma misère ;
- Ô mon cher Oreste, ô mon frère !
- Tu ne sécheras pas les larmes de ta sœur. (Iphigénie / Auszugaus 1. Akt)
Quellen und Strategien…
Christoph Willibald von Gluck (1714-1787) war ein Idealist! Er hatte eine Vision für eine neue Form der Oper – eine neoklassische Vision, die viele andere europäische Intellektuelle mit ihm teilten. Es war insofern klassisch, weil es sich ethisch und ästhetisch die griechische Tragödie zum Vorbild nahm. Sie befürwortete politische Tugenden wie Widerstand gegen Tyrannei und persönliche Loyalität gegenüber Freunden und Familie. Seine Ästhetik war die der klassischen Skulptur, wie von Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) beschrieben: „…edle Einfachheit und ruhige Erhabenheit“. Eine Ästhetik des Gleichgewichts und der Proportionen, die dem Exzess feindlich gesinnt war und Herz und Verstand bewegen kann. Aber Gluck war auch ein Pragmatiker! Er akzeptierte und schätzte viele Spielarten des Musiktheaters und wählte seine Themen und seinen Stil mit Rücksicht auf sein Publikum und seine Auftraggeber aus.
In den Opern von Gluck über Iphigenie enden die vereinten Bemühungen des Idealisten und des Pragmatikers mit unterschiedlichen Ergebnissen. In Iphigénie en Aulide (1774) wird ein altes antikes Thema wunderbar entwickelt: Ein Gott verlangt von einem Vater, dass er sein Kind opfert! In Iphigénie en Tauride (1779) werden die Beziehungen untersucht zwischen Freunden sowie zwischen einem Bruder und einer Schwester, die einem Tyrannen gehorchen müssen.
Die Zwillings-Tragödien von Euripides (480-406 v. Chr.) inspirierten die Librettos der beiden Opern von Gluck. In Iphigenie en Aulide von Euripides werden die Griechen in Aulis immobilisiert, wo sie sich versammelt haben, um nach Troja zu segeln. Ein Orakel fordert den General der griechischen Armee Agamemnon, seine Tochter Iphigenie zu opfern, damit der Wind wieder aufkommt. Agamemnon ist verzweifelt, aber am Ende akzeptiert er doch: Seine Tochter Iphigenie geht freiwillig zum Opferaltar! Aber in letzter Minute nimmt die Göttin Diana (Artemis) das Opfer herunter und lässt an ihrer Stelle ein Reh zurück.
In Iphigénie en Tauride ist Iphigenie eine Tempel-Priesterin der Diana im barbarischen Königreich von Tauris. Ihr Bruder Orest geht dort in Begleitung seines treuen Freundes Pylades an Land. Von den Furien verfolgt, weil er seine Mutter Klytämnestra getötet hat, muss er eine Wiedergutmachung leisten. Und zwar die Statue von Diana in Tauris finden und sie nach Griechenland zurück zu bringen. Orest und Pylades werden vom Tyrannen Thaos gefangen genommen: Der ihr Opfer fordert! Iphigenie erkennt ihren Bruder nicht, aber sie fühlt eine seltsame Affinität zu Orest. Es folgen eine Szene des glücklichen Wiedererkennens, ein Fluchtversuch und ein letztes dea ex machina.
Iphigénie en Tauride - hier Regisseur Rafael R. Villalobos zur Oper youtube Opéra ochestra national Montpellier [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Iphigenie spielt von Oper zu Oper eine völlig andere Rolle. Ein entwaffnetes, aber einwilligendes Opfer in Aulis, wird sie ihrerseits in Tauris mit dem Dilemma konfrontiert, das Agamemnon ihr Vater ist und sie unterwirft sich gegen ihren Willen einem barbarischen Gesetz. Zu den Schlüssel-Momenten von Aulis gehören die Liebes-Szenen zwischen Iphigenie und Achilles, die ungeheure Wut von Klytämnestra und das Zögern von Agamemnon. Zu den dramatischsten Höhepunkten von Tauris gehören die große Spannung zwischen dem barbarischen Tyrannen Thaos und der griechischen Jungfrau Iphigenie und schließlich die edle Freundschaft zwischen Orest und Pylades. Aber im 18. Jahrhundert war die bekannteste Iphigenie (1674) die von Jean Racine (1639-1699) und nicht die von Euripides. Obwohl die Iphigenie von Racine sehr stark auf der von Euripides‘ Aulis basierte, kannte jedoch jeder Euripides nur durch die Dramen von Racine. Auf fast jeder Seite der griechischen Übersetzung von 1730 der Tragödie durch den Pastor Pierre Brumoy (1688-1742) gibt es Fußnoten zu ähnlichen Passagen von Racine und der Übersetzer bemerkt: „Es schien mir, dass man die Schönheiten von Euripides nicht besser fühlen könnte, als wenn man sie denen von Racine näher bringt“. So wie er das göttliche Eingreifen nicht akzeptieren konnte, war Racine der Mord an einer so tugendhaften und gütigen Person wie Iphigenie völlig fremd und er tolerierte auch es nicht. Also stellte er in seinem Drama eine zusätzliche Person vor: Genannt Iphigenie, aber bekannt als Eriphile. Diese wird aber auf dem Altar geopfert! Denn Eriphile verrät Iphigenie, weil sie ihre Liebe zu Achilles nicht mit ihr teilen will! Racine bemerkt dazu: „Die Auflösung des Dramas wird aus der Tiefe des Stücks gezeichnet“.
In den Jahren um 1750 entwickelte sich eine große Reformbewegung in der Oper. Dank Racine nie vergessen, hat sich Aulis als Gegenstand von Diskussionen und Debatten durchgesetzt. In Berlin im Jahre 1748 gab König Friedrich II. von Preußen (1712-1786) eine neue Oper über Aulis bei seinem Hofkomponisten Carl Heinrich Graun (1704-1759) in Auftrag. Im Jahre 1755 veröffentlichte Francesco Algarotti (1712-1764) sein Saggio sopra l’opera in musica, das wichtigste Handbuch der lyrischen Reform. Er empfiehlt Aulis als ideales Libretto für die reformierte Oper! Im Februar 1757 präsentiert Denis Diderot (1713-1784) die Iphigenie von Racine als ideales Libretto für eine neue Opernreform und zitiert sogar zwei Zeilen von Klytämnestra. Er beschrieb auch die entsprechenden musikalischen Effekte einschließlich des italienischen obbligato Rezitativ und der Arie. Später in diesem Jahr löste das im Pariser Salon ausgestellte Gemälde Le sacrifice d‘Iphigénie (1757) von Charles André van Loo (17O5-1765) einen riesigen Pamphleten-Streit in den gehobenen Kreisen aus.
Aber trotz dieses starken Interesses an Aulis wurde die Auseinandersetzung nicht radikalen Versuchen einer lyrischen Reform unterzogen. Es passte nicht ideal zur neoklassischen Ästhetik: Die Handlung war zu komplex und moralisch zu zweideutig. Andererseits wird Tauride zum empfohlenen Stoff für eine reformierte Oper! Es enthielt keine zweideutigen Charaktere und die heroische Freundschaft von Orest und Pylades sprach Neoklassiker an. Tauride war auch Gegenstand einer gesprochenen Tragödie (Paris, 1757) von Claude Guimond de la Touche (1723-1760). In seinem Bericht über den erstaunlichen Erfolg dieses Stücks lobte Melchior Grimm (1723-1807) De la Touche für seinen großen Mut, „…eine episodische Liebe von Racine zu streichen, die dieser wie gewohnt in seinen Dramen hinzusetzte“. Die Parodie Iphigénie (1779) von Charles-Simon Favart (1710-1792) über das Stück von Racine, aufgeführt in der Comédie Italienne in Paris, spottete auch über die vielen Klischees und bewunderte gleichzeitig die vielen Innovationen von De la Touche. Sie zitiert sogar die letzte Zeile, die für die Aufklärungs-Bewegung sehr teuer war: „Das Gesetz der Natur ist damit das Gesetz des Himmels“.
Im Jahre 1761 wurde die Tragödie von De la Touche in Wien aufgeführt! Wo dann 1763 die erste reformierte Oper zum gleichen Thema entstand: Ifigenia in Tauride von Tommaso Traetta (1727-1779). Ausserdem wurde eine weitere Ifigenia in Tauride im Jahre 1764 in Mannheim produziert von Gian Francesco de Majo (1732-1770). Diese drei Werke sollten Gluck in seiner Behandlung des Themas beeinflussen!
Im Jahre 1770 bot der französische Librettist Bailli du Roullet (1716-1786) Gluck seine Mitarbeit an einer Oper für Paris an. Sie begannen somit die französische Öffentlichkeit mit Briefen im Mercure de France zu umwerben. Sie wollten sowohl Progressive wie Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Grimm und Diderot als auch konservative Liebhaber der französischen Kultur erfreuen. In diesen Briefen nutzt Gluck besonders seine vielen Diskussionen mit Rousseau! Das Thema Iphigénie en Aulide entsprach den Vorschlägen von Francesco Algarotti (1712-1764) und Diderot und auch gleichzeitig mit der Tragödie von Euripides als eine tadellose klassische Abstammung bekundeten: Desgleichen auch ihren Respekt vor der französischen Kultur, indem sie das Libretto als eine Adaption von Racine nannten. Wie Du Roullet sagte: „stellte der Autor, indem er Racine folgte (…) die Wirkung seiner Arbeit sicher“. Im Libretto zitiert Du Roullet selten Racine, greift aber die von Diderot empfohlenen Passagen aus Iphigénie auf. So wurde die Oper gekonnt zusammengestellt, um allen zu gefallen: Iphigénie en Aulide war ein sehr großer Erfolg! Die Oper wurde jedoch später oft für einige nicht sehr markanten Stellen viel kritisiert: z. B. die zu großen Ballett-Einlagen à la Français im zweiten Akt und auch die dramatischen Konflikt-Auflösungen der Tragödie insgesamt!
In der ersten Version der Oper von 1774 folgen Gluck und Du Roullet genau Racine und vermieden das Erscheinen von Diana in der Auflösungs-Szene. Der Priester Calchas verkündigt plötzlich, dass die Götter ihm befohlen haben, Iphigenie zu verschonen, während der Altar in Flammen aufgeht und der Wind zu wehen beginnt. Die dramatische Schwäche des göttlichen Eingreifens ohne jegliche Maschinen-Magie macht diesen Kompromiss unglücklich. Dieser Schluss wurde als sehr schwach empfunden: Manche wollten einen dea ex machina in der Tradition der großen Oper sehen, andere fanden es lächerlich: Der strengste Opfergeist, der übrigens der beste Mensch der Welt sein kann, wenn er Angst hat. Denn sehend ändert er seine Meinung! Auf der einen Seite der Rächer des Opfers und auf der anderen Seite die Blitze und das Ungewitter!
Für die Wiederaufnahme von 1775 überarbeiteten Gluck und Du Roullet das Ende wie folgt: Diana erscheint und erlaubt Ighigenie den Held Achilles zu heiraten. Dieses Ende funktioniert vielleicht besser, aber es folgt nicht Euripides und kündigt auch nicht die Fortsetzung der Missgeschicke von Achilles und Iphigenie an.
In Iphigénie en Tauride verbindet Gluck die Kenntnis seines Publikums mit seiner Beherrschung der idealen lyrisch-dramatischen Wirkung. Der Haupt-Librettist war der junge Nicolas-François Guillard (1752-1814), aber auch Gluck und Du Roullet waren beteiligt. Die Oper erblickte am 18. Mai 1779 das Rampenlicht!
… vom ewigen Fluch des Tantalos!
Das Libretto basierte auf der von De la Touches Tragödie für das Sprech-Theater. Grimm hatte ihre neoklassizistische Einfachheit gelobt und zweiundzwanzig Jahre später wiederholten Kritiker über Glucks Oper dies: „Das Interesse zeigt sich nur in dem Zustand, in dem sich Orest und Pylades befinden. Die große bekannte Freundschaft dieser beiden Helden, über den Kontrast zwischen dem edlen und zärtlichen Charakter von Iphigenie und dem grausamen Dienst, den sie als Priesterin erfüllen musste. Und schließlich über die Art und Weise, wie Bruder und Schwester sich wieder erkannten (…). Wir halten es nicht für sinnlos zu bemerken, dass das Wort „Liebe“ im gesamten Verlauf der vier Akte, aus denen dieses Stück besteht, nicht einmal ausgesprochen wird. Es ist zweifellos das erste Beispiel dieser Art, das im Théâtre Royal de l’Opéra gegeben wird“.
Da er die Opern gut kannte, die sich zuvor mit diesem Thema befasst hatten, änderte Gluck mit Hilfe von Guillard das von De la Touche vorgeschlagene Szenario und übernahm Passagen aus seinen früheren Werken, insbesondere das Ballett Semiramis (1748). Wir werden uns auf drei zentrale Episoden der Oper konzentrieren: Die Einleitung, die Vision der Furien von Orest und die Erkennungsszene zwischen Schwester und Bruder.
Einer der stärksten Momente von Iphigénie en Tauride ist die Einleitung, in der das Orchester sich wirklich teuflisch und äußerst wild entfesseln wird. Dieser musikalische Sturm zerbricht nicht nur die Schiffe von Orest und Pylades, sondern beschwört auch die innere Qual von Ighigenie herauf. Als solche liefert sie der Oper die musikalische Argumentation, die der Komponist in seinem Vorwort zu Alceste (1767) fordert. Die Ifigenia in Tauride (1764) von De Majo beginnt auch mit einem Sturm und das war es wahrscheinlich: Was Gluck unter anderem inspirierte! Der Meister übernahm hier die Musik seiner Ouvertüre, komponiert 1758 für L‘Île de Merlin ou Le Monde renversé. Die für diese Szene reservierte Musik ist jedoch originell! Während die beiden vorherigen Eröffnungen mit dem Sturm begannen und sich zu einer Flaute entwickelten: Hier kehrt Gluck die Reihenfolge um und beginnt mit „Der Ruhe“! Iphigenie und ihre Priesterinnen treten auf der Höhe des Sturms ein und bitten um die Gnade der Götter, damit sich die Wut des Windes und der Wellen beruhigen kann. Ergriffen von der plötzlichen Entfesselung des Sturms und seiner wachsenden Wut identifiziert sich der Betrachter mit Ighigenie und ihren Priesterinnen. Das menschliche Drama hat keine sichtbaren Zeichen des Zorns der Götter. Wenn sich der Sturm verdichtet, spürt der Zuschauer, dass er gewissermaßen in Iphigenies Herzen weitergehen wird. Hier der Kommentar eines zeitgenössischen Kritikers: „Das Stück beginnt sozusagen mit dem ersten Ton der Arche, die keine Symphonie hat, die eigentlich Ouvertüre heißt“. Die Ouvertüre „informiert den Zuschauer nicht nur über die Art der Handlung die dargestellt wird“, wie Gluck es empfohlen hat: Sie ist selbst die Handlung!
Alle Versionen der Geschichte enthalten eine Szene, in der Orest eine Vision von den Furien und dem Gespenst seiner Mutter erlebt. Gluck hat diese Szene subtiler komponiert, indem er Iphigenie während Orests Visionen hereingebracht hat, so dass er sie mit Klytämnestra verwechselt. In einem Brief an Guillard äußert sich Gluck gegen den zweiten Akt, der mit Orests Wahnsinns-Szene enden sollte: „Dies zerstört die Idee, dass er glaubt seine Mutter zu sehen, wenn er Iphigenie sieht. Er muss noch mit seinem Alptraum beschäftigt sein und diese Worte sagen: Meine Mutter! Himmel!“
Mit seinem tiefen Sinn für Dramatik verlieh Gluck dieser Szene eine beispiellose emotionale Kraft. Mit der Arie: Le calme rentre dans mon coeur, spüren wir den Kummer, der in Orests Geist gesät ist, bevor er zur Ruhe geht und wir werden Zeuge seines unbewussten Kampfes, als er dem Schlaf erliegt. Wir spüren wie sich die Spannung aufbaut, während sich seine gequälten Schreie mit dem obsessiven Chor abwechseln und wir erkennen den Moment der Verwirrung, der dem Schlaf vorausgeht. Auf dem Höhepunkt dieser Nummer, schreit er Himmel auf einem contre-fa aus: Nachdem er Iphigenie für seine Mutter ansieht…
Gluck und Guillard ließen sich von der Entscheidung inspirieren, den Moment der Wiedererkennung mit der Szene der Opferung von Orest zu verschieben, indem sie eine gleichwertige Lösung für die beiden Hauptquellen dramatischer Spannung in der Oper vorschlugen. Laut Dokumenten zur Entstehungsgeschichte des Werks war die Wiedererkennungs-Szene Gegenstand unterschiedlicher Text- und Musik-Versionen. Gluck scheint das richtige Gleichgewicht zwischen Klarheit der Exposition, Sparsamkeit der Mittel, musikalischer Emotion und Naturalismus der Deklamation gesucht zu haben. Seine endgültige Version dieser Szene ist sehr persönlich und ergreifend in ihrer Direktheit des Ausdrucks. Die Wiedererkennung erfolgt in einem Moment der Intimität zwischen den beiden Protagonisten, als Iphigenie das Messer erhebt und sie dem Fremden tief in die Augen sieht, an den sie sich doch sehr gewöhnt hat. Während Orest sich auf den Tod vorbereitet, indem er an seine verlorene Schwester denkt! Gluck hat die eloquente Musik eines früheren Balletts aufgegriffen, um beim Betrachter ein Gefühl der Angst zu wecken und den Moment vor dem Wiedererkennen aufzuheben. Nach langem Grübeln über den geeignetsten Musikstil entschied er sich für das traditionelle obbligato Rezitativ, den flexibelsten und natürlichsten Stil, der ihm zur Verfügung stand. Mit Zuversicht schreitet der Akt als Ganzes unaufhaltsam in Richtung der kulminierenden Ankunft von Pylades und der Göttin Diana voran.
In Iphigénie en Aulide wollte Gluck das Programm seiner Opern-Reform verwirklichen und gleichzeitig auch dem französischen Publikum gefallen. Obwohl er den Konflikt zwischen dem Prestige von Racine und dem neuen Neoklassizismus überwinden musste: War seine Oper ein glänzender Erfolg! In Iphigénie en Tauride konkretisierte Gluck seine lyrischen Ideale, indem er vernünftig und weise auf seine Erfahrungen zurückgriff. Das neoklassische Werk, dass aus seiner Feder floss, ergab das klassische Musikdrama: Das allen Nationen und allen Epochen die menschlichen Wahrheiten überbringt!
IPHIGÉNIE EN TAURIDE - 21. April 2023 - Opéra Comédie Montpellier
Der tödliche Fluch des Tantalos schwebt über Mariupol…
Wie der Name schon sagt, spielt sich die Tragödie in Tauris, auf der heutigen Krim ab. Dazu kommt im Libretto eine große Spannung zwischen Skythen und Griechen sowie das große lexikalische Feld der Gewalt. Aber das gibt dem jungen spanischen Regisseur Rafael R. Villalobos die Argumente, um die Handlung in den aktuellen russisch-ukrainischen Konflikt zu versetzten.
Wenn auch diese wie alle Transpositionen natürlich ungelöste Fragen aufwirft, zeigt sie doch auch die vielen Krisen, denen die Personen im Opern-Libretto ausgesetzt sind: Geschweige den menschlichen Wahnsinn, den sie auf der Bühne darstellen. Einige von ihnen fordern tatsächlich den eigenen Tod, während Thaos im Gegenteil bereit ist, alle und jeden zu opfern um der Vorahnung und Voraussagung zu entgehen, die sein eigenes Schicksal betrifft. Es ist daher diese Vorstellung von Gewalt und Tod, die diese Inszenierung leitet: Viel falsches Blut fließt in Strömen, die Charaktere verziehen und verrenken ihre Glieder vor nie geahnten Schmerzen in dieser düsteren gewaltsamen Umgebung voller chaotischer Grausamkeit.
Diese Idee kristallisiert sich in der Figur von Thaos heraus, dem die Regie alles Übel zuschreibt und ihn in Vergewaltigungs- und Onanier-Szenen der Sexualverbrechen schuldig macht, wobei sie sich sehr stark vom Libretto entfernt: Denn obwohl barbarisch, präsentiert ihn die Tragödie tatsächlich eher wie einen Feigling hin: Der aber verzweifelt seinem Schicksal entkommen will und sich deshalb wie ein wildes gefräßiges Raubtier benimmt! Auch weigert er sich zunächst, selbst die Opfer zu bringen, die er an Iphigenie delegiert hat…
Vor den ersten Tönen der lyrischen Tragödie von Gluck deklamiert ein Schauspieler einige Sätze von Iphigenie in Tauris von Euripides und so wird es auch im zweiten Teil weitergehen, nur diesmal die gleiche Tragödie von Sophokles (495-406 v. Chr.) und gesprochen von einer Schauspielerin. Eben das Theater im Theater! Wir befinden uns im Theater von Mariupol! Wir befinden uns in der Ukraine! Wir befinden uns im Theater mit seinen beiden EXIT-Seitentüren oben auf der Tribüne, auf denen die Zuschauer einer jungen Tänzerin applaudieren. Wie der anfängliche brüllende wilde Sturm in der Partitur unterstreicht, der hier von Bombardierungen unterbrochen wird, denn es ist auch wieder einmal die Zeit eines unheilvollen Krieges: Diese Männer und Frauen sind zum größten Teil verwundet, blutig und verletzt, wie arme Flüchtlinge, die auf ihren zerfetzen Matratzen am Boden schlafen. Wir bemerken einen herabgefallenen an der Seite platzierten Kronleuchter sowie eine zerrissene Betonplatte an der Decke, die jedoch leider vom 1. Balkon des Theaters schwer zu erkennen ist und für die Zuschauer in den oberen Stockwerken wahrscheinlich völlig unsichtbar wird.
Wenn der Regisseur in seiner Absichtserklärung an das zerstörte Theater von Mariupol erinnert, das vor mehr als einem Jahr von der russischen Armee während des Einmarsches in die Ukraine schwer bombardiert wurde, wird in seiner überzeugenden Lesart überhaupt nichts überbetont. Der Zuschauer kann sie so auf viele andere Kriege übertragen, denn die gesamte Menschheit ist wohl dem ewigen Fluch der Atriden unterworfen! Und natürlich auch die Familie von Iphigenie ist verflucht auf ewig!
Der Regisseur unterstreicht die Modernität des Mythos, während er eine mögliche Parallele zum russisch-ukrainischen Konflikt heraufbeschwört. Etwas das den Zuschauer erschaudern lässt: Würde ein Thaos von Wladimir Putin (*1952) interpretiert sein sadistisches Vergnügen daran haben, Orest und Pylades zu foltern? Würde der Zuschauer eine Bühne von russischen oder ukrainischen Flaggen massenweise übersät ertragen? Würde man die ganze Grausamkeit des Mythos noch verstehen und auch akzeptieren?
Das Bühnenbild bleibt den ganzen Abend unverändert außer im dritten Akt: Hier wird von dem italienischen Bühnenbildner Emanuel Sinisi eine hoffnungsvolle apfelgrüne Kulisse präsentiert, in der Komparsen verschiedene evozierte Themen der Vergangenheit und Zukunft darstellen (Klytämnestra… Elektra… Agamemnon…), wie auch das Überleben des Theaters im Theater trotz eines verheerenden Krieges. Die Bühnen-Beleuchtung des spanischen Lichtbildner Felipe Ramos funktionieren sehr gut. Sie bleiben der Philosophie von Gluck treu und unterstreichen die Schlüssel-Momente der Aufführung. Beachten wir zum Beispiel die zur Musik synchronisierten Blitze oder auch im vierten Akt, das von der zerrissenen Decke herabfallende Teilstück auf Iphigenie in der Mitte der Bühne: Sie verleihen ihr eine fast Christus-ähnliche Aura! Andere hingegen sind sehr aggressiv, wie die Neonlichter im dritten Akt, die die Sicht auf eine brutale Vergewaltigungs-Szene nicht gerade angenehm machen.
Durch einen Verschachtelungs-Effekt wird die Ouvertüre der Tragödie durch das allegro tempetuoso unterbrochen, das sowohl vom Regisseur als auch vom Dirigenten als eine Massen-Vernichtungs-Waffe eingesetzt wird. Nach einem gewaltigen Orchester-Schwall und den künstlichen Granaten, die durch das Hinzufügen eines perkussiven Arsenals abgefeuert werden: Können wir dann das gewaltige Ausmass des Schaden ermessen, indem wir eine durch die Explosion gesprengte herunter-hängende Decke sehen! Ein Bühnenbild, dessen ganze schroffe verletzte Schönheit sich nach dieser orchestralen und szenischen Offensive im großen Maßstab eines Richard Wagners (1813-1883) würdig ist : Überall stickige Rauchschwaden hereinlassend, das ganze Dach des Theaters ist zertrümmert und unzählige Leichen sind überall verstreut. Eben den Schrecken des Krieges mit offenem Munde anstarren! Denn es handelt sich tatsächlich um einen Krieg! Ein Krieg, der von Troja weniger weit entfernt ist, als die zeitgenössische Einrichtung vermuten lässt. Das Theater-Programm macht keinen Hehl aus dem besagten: Das das Bild des Theaters von Mariupol in Trümmern wiedergibt! Es ist der Krieg der seit Februar 2022 in der Ukraine tobt! Es ist nicht der einzige Krieg! Sondern es ist von allen Kriegen, in dem der Mensch seine eigene Existenz mit zerschmetterten Schicksalen und göttlichen Vorwänden vor sich sieht!
Gluck hatte keine Ahnung, als er der Faszination seiner Zeit für mythologische Themen nachgab, wie sehr seine unglückliche Iphigenie sich in diesem Frühjahr 2023 noch immer behaupten würde: Vielleicht als Banner der Versöhnung der Völker zu dienen?
Draußen und drinnen tobt der Kampf der Kriegs-Meuten: auch auf der Bühne und im Orchestergraben! Wird der Hintergrund des Krieges hervorgehoben? Hatten wir vergessen, dass wir in der Opéra Comédie sind und nicht im großen Saal des Corum? Der Regisseur und der Dirigent haben das Potentiometer total aufgeheizt!
Musikalisch-dramatisch auf das Äußerste angeheizt von dem jungen französischen Dirigenten Pierre Dumoussaud, rückt das Orchestre National Montpellier Occitanie wie eine Armee auf dem Vormarsch vor: Obwohl es weit von der musikalischen Authentizität entfernt ist, die die jüngsten Aufnahmen des Werks offenbarten, so ist es doch ziemlich elektrisierend und auch das Publikum ist wohl sehr davon überzeugt. Der Dirigent zögert nicht, das Tempo und die Nuancen sehr großzügig zu variieren. Die vielen Rezitativ-Begleitungen sind absolut faszinierend und bieten ein starkes dramatisches und musikalisches Relief, verstärkt durch die sehr gute Akustik des Orchestergrabens. Auch der von der französischen Chorleiterin Noëlle Gény vorbereitete Chor der Opéra National Montpellier Occitanie lieferten seine musikalischen Beiträge mit viel Energie und einem unfehlbaren Zusammenhalt.
Die französische Sopranistin Vannina Santoni behauptet sich mehr und mehr als Sängerin für Rollen von Giuseppe Verdi (1813-1901) komponiert, sogar als Iphigenie sind bei ihr hörbare Effekte und Ornamente in den Gesangslinien und Rezitativen im Belcanto-Stil nicht zu leugnen. Da die Stimme relativ leicht klingt, könnte ihr das von den Puristen vorgeworfen werden! Denn die von Gluck geforderte ideale Annäherung an die gesprochene Stimme und somit an eine Deklamation der griechischen Tragödie, jedoch ist die Sängerin davon weit entfernt. Die Partitur ist voller Kontraste für ihren Rollen-Charakter, die oft von einer Emotion zur nächsten wechselt: Aber sie hat Mühe in den verschiedenen Intonationen oder manchmal sogar in der jeweiligen Technik zu transkribieren. In der Arie: O toi qui prolongeas mes jours wird beispielsweise die Progression in den extremen Höhen auf der Ebene der Strophe: J’ai vu s’elever contre moi les dieux, ma patrie et mon père sehr übertrieben geglättet und poliert, wodurch die Wirkung jedes Wortes verringert wird. Auch das schauspielerische ist leicht forciert, vielleicht aufgrund von Situationen, die durch die Regie weit vom Libretto entfernt sind und die daraus resultierenden unnatürlichen Interpretation.
Der Orest des französischen Bariton Jean-Sébastien Bou überzeugt beginnend mit dem ersten Wort! Die Stimme ist kraftvoll, ohne Zwang und Härte. Er behauptet sich in allen noch so kurzen Rezitativen durch seine Ton-Genauigkeit und auch sein szenisches Engagement. Auf der anderen Seite zwingen ihn starke Atem-Probleme, sodass er seine Stimme oft forcieren muss um seine Arien und Rezitative zu beenden. Allerdings wird er auch oft von der Regie gezwungen auf allen vieren zu kriechen oder sich unmöglich zu verdrehen und auch zusammengerollt im Liegen singen muss. Das alles ist natürlich nicht unbedingt gut für eine schöne und korrekte Stimm-Wiedergabe! Er wird insbesondere gezwungen in einer unmöglichen Haltung sein berühmtes Rezitativ zu singen: Dieux protecteurs oder auch in verrenkter Position die lang ersehnte Arie: Dieux qui me poursuivez zu interpretieren. Dies wird umso mehr durch den Kontrast mit der unmittelbar vorangehenden Arie von Pylades: Unis dès la plus tendre enfance hervorgehoben.
Der französische Tenor Valentin Thill singt seine Arie in einer viel ergonomischen Position, stehend und ausnahmsweise dem Publikum zugewandt. Sowohl der Stimmfluss als auch das Volumen sind dadurch wesentlich gleichmäßiger. Sein Pylades bietet auch kristallklare Höhen und klare, präzise Gesangslinien. Der Klang erscheint sehr sauber und rein! Es entspricht der Ästhetik der Counter-Tenöre dieser Epoche und er platziert seine Stimme ohne affektierten Tonfall oder übertriebener Wirkung zur richtigen Zeit am richtigen Ort ein. Die Aussprache ist durchaus verständlich! Das szenische Duett mit Orest ist traumhaft schön und auch sehr funktional in seiner inneren Gesamtheit.
Der argentinische Bariton Armando Noguera spielt und singt die Rolle des Thaos mehr als zweihundertprozentig gut! Er lässt sich auf das Spiel eines Bösewichtes völlig ein und ist auf der Bühne äußerst präsent. Die Stimme ist kraftvoll und ausdauernd mit einem warmen Timbre und einer leichten Körnung in dem Bassbereich. Außerdem beherrscht er die französische Aussprache sehr gut.
Die Verteilung der Nebenrollen wird weitgehend durch die Solisten aus dem Chor sichergestellt, mit Ausnahme der belgischen Sopranistin Louise Foor, die die Göttin Diana und die Erste Priesterin verkörpert. Sie hat wunderschöne Mittellagen und entfaltet eine moderate aber doch ausreichende Stimmstärke. Die Zweite Priesterin wird von der französischen Mezzo-Sopranistin Alexandra Dauphin gesungen. Im ersten Akt deutet ihr Timbre auf ein wenig Säuerlichkeit hin, die aber später verblassen wird. Der französische Bariton Jean-Philippe Elleouet-Molina interpretiert einen Skythen der völlig blutbefleckt die Ankunft von zwei Griechen präzise ankündigt. Der Priester des französischen Bariton Laurent Sérou setzt seine Anordnungen mit Überzeugung durch. Die polnische Mezzo-Sopranistin Dominika Gajdzis ist die Griechin, die verkündet das Thaos von Pylades‘ Flucht weiß und sie interpretiert es mit einer Strenge und Distanziertheit, die einem Herold würdig wäre.
Die zeitlose Brutalität menschlicher Leidenschaften, die in der griechisch-römischen Mythologie universell beschrieben und von Glucks Musik sublimiert ist, wird hier allerdings in den spezifischen News über den grausamen blutigen Krieg in der Ukraine kontextualisiert. Ohne jedoch auf eine gewisse Ästhetik zu verzichten, wird hier in ihrer tiefsten schmutzigsten Niedrigkeit der Krieg und der Verursacher Mensch dargestellt, natürlich nur das Eingreifen der göttlichen Instanz der Göttin Diana kann ihn verhindern oder beenden. Bleibt der Applaus in den ersten beiden Akten sehr dezent, wird er in beiden folgenden Akten stürmisch: Denn das Publikum braucht Zeit diese so starke und ungewohnte Konzeption zu verdauen!
Diese neue Koproduktion Opéra Orchestre National Montpellier Occitanie, Theatro de la Maestranza Sevilla und Opera Ballet Vlaanderen wird noch in anderen Opernhäusern produziert. Sollten sie die Gelegenheit haben, dann zögern sie nicht! Es lohnt sich auf jeden Fall! (PMP/24.04.2023)