Montpellier, Opera Berlioz, LA FORZA DEL DESTINO - Giuseppe Verdi, IOCO
LA FORZA DEL DESTINO, Montpellier: Bestimmen wir unser Leben selbst oder wird es vom blinden Spiel des Zufalls bestimmt? In dieser über viele Jahre hinweg verfolgten Geschichte erbitterter Rache trägt Giuseppe Verdis (1813-1901) Oper die Hauptlinie bereits im Titel.
LA FORZA DEL DESTINO (1862/1869) - Giuseppe Verdi, Melodrama in vier Akten. Libretto von Francesco Maria Piave nach dem Schauspiel Don Alvaro, ó La fuerza del sino von Angelo Perez de Saavedra.
von Peter Michael Peters
VOM EWIGEN GLAUBEN UND FANATISMUS…
Bestimmen wir unser Leben selbst oder wird es vom blinden Spiel des Zufalls bestimmt? In dieser über viele Jahre hinweg verfolgten Geschichte erbitterter Rache trägt Giuseppe Verdis (1813-1901) Oper die Hauptlinie bereits im Titel. Leonora verliebt sich in Don Alvaro, doch ihr Vater verbietet ihnen die Heirat. Sein Unfalltod zwingt die beiden jungen Menschen zur Flucht, während das unerbittliche Drama der Besessenheit in einer Tragödie endet. Nach Rigoletto (1851) und Il Trovatore (1853) kehrt Verdi hier zu Fluch-Geschichten zurück, inspiriert von einem spanischen Melodrama. Der Erfolg des Werks verdankt sich zu einem großen Teil der melodischen Erfindung, während die Einfügung großer malerischer Szenen einen eindrucksvollen Kontrast von beeindruckender dramatischer Wirksamkeit schafft. Eine Produktion, die den Amtsantritt des afro-amerikanischen Dirigenten Roderick Cox als musikalischer Direktor und die Rückkehr des griechischen Bühnenbildners und Regisseurs Yánnis Kókkos nach Montpellier markiert, Autor einer Turandot (1926) von Giacomo Puccini (1858-1924), die 2016 gefeiert und mehrfach für die Exzellenz seiner Arbeit ausgezeichnet wurde. Eine Koproduktion: Fondazione Teatro Regio de Parma und Opera National Orchestra Montpellier Occitanie.
Da un lustro ne vo’in traccia,
ti trovo finalmente.
Col sangue sol cancellasi
l’infamia ed il delitto,
ch’io ti punisca è scritto
sul libro destino.
Tu prode fosti, or monaco,
un’arma qui non hai,
deggio il tuo sangue spargere,
scegli due ne portai.
(4. Akt / Szene 3 / Don Carlo di Vargas)
Eine musikalische Balladen-Romantik…
Keine Stoff- und Formenwelt hat die Oper von Verdi so nachhaltig beeinflusst und geprägt wie die Balladen-Romantik von Victor Hugo (1802-1885) und fast noch mehr seiner Schüler Antonio Garcia y Gutiérrez (1813-1884) und Angelo Perez de Saavedra (1791-1865). Das Theater dieser romantischen Autoren erstrebte Volkstümlichkeit im bunten Wechsel von grotesken und erhabenen, furchterregenden und lustigen, tragischen und komischen Elementen mit der Erzählung von Märchen in der Abfolge von spektakulären Momentaufnahmen. Verdi fand in diesem Theater ein nachgerade optimales Reservoir an Gesten, Bildern und Zeichen für seine Absichten. Nicht zufällig fallen seine politischsten Stücke in die Zeit seiner Opern nach Vorlagen von Hugo, Garcia y Gutiérrez und de Saavedra. Zwar lässt sich bei La forza del destino besonders leicht über die Unvernunft des Geschehens spotten. Sobald man jedoch bereit ist, Personen und Handlung als irreale Metaphern der Wirklichkeit zu verstehen, ergeben sich aufregende Perspektiven, etwa über den Umgang von Etablierten mit in Religion und Rasse anderen, über den Zynismus jedweder Kriegsgeschäfte oder auch über das fatale Nebeneinander von Krieg und Kirche, Beten und Hurra-Geschrei in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.
Verdi ist selten eine ähnliche kontrastreiche und bunte Revue gelungen. Was Rigoletto oder auch Il Trovatore sozusagen auf einen Punkt beziehen, bereitet La forza del destino in den unterschiedlichsten Ebenen aus. Neben der Tragödie des Außenseiters Alvaro steht der praktische Alltag Fra Melitones, der den Realismus und den Witz von Falstaff (1893) vorwegnimmt. Das nicht nur mit der Kapuziner-Predigt des Abraham a Sancta Clara (1644-1709), sondern insgesamt Friedrich von Schillers (1759-1805) Wallensteins Lager (1798) nachgestaltete Finalbild des 3. Aktes zeichnet ganz unabhängig von der Geschichte der Protagonisten ein grelles Abbild der lebensfeindlichen Vergnügungssucht des Krieges. Im nimmermüden Wüten des Rachefanatikers Don Carlos scheint ein fast Samuel Beckett- (1906-1989) scher Irrsinn auf. Die Protagonisten wechseln von Bild zu Bild die Kleider, sind wieder andere und drehen sich doch im Kreise eines Immer-wieder-Gleichen. In einer zeitlich unendlich weit gespannten Handlung tauchen – fast wie Fragment-Fetzen eines Films – Bruchstücke einer Lebenschronik oder sogar einer Gesellschaftsbiographie auf Modern Times (1936) Film von Charlie Chaplin (1889-1977) in den Bildern einer spanischen Ballade mit dem Vokabular einer Verdi-Oper.
Die Funktion der Oper als Kirchenersatz…
Verdi hat La forza del destino 1862 für das Imperiale Opernhaus St. Petersburg und sieben Jahre später für die Scala di Milano - übrigens seine erste Zusammenarbeit mit dieser Bühne nach seinen frühen Erfolgen rund um Nabucco (1842) und damit auch äußerlich sein erster Schritt hin zu Aida (1871) und dem Alterswerk - mit unterschiedlichen Akzenten versehen. Die St. Petersburger Fassung beginnt noch nicht mit der späteren Konzert-Ouvertüre, sondern mit einem kurzen „Vorhangheber“ in der Manier von Rigoletto. Die Kriegs-Revue steht nicht am Ende, sondern in der Mitte des 3. Aktes. Auch gibt es in diesem 3. Akt eine zusätzliche Arie mit stretta für Alvaro. Sein langjähriger erfahrener Librettist Francesco Maria Piave (1810-1876) half ihm für diese grundlegenden Änderungen der zweiten Opernfassung. Der gewichtigste Unterschied betrifft freilich den Schluss. Im Jahre 1862 wagte Verdi – ähnlich wie in der Urfassung von Macbeth (1847) – ein hartes, unversöhnliches Ende. In Übereinstimmung mit dem Schauspiel von de Saavedra ersticht Don Carlos seine Schwester nicht hinter, sondern auf der Bühne. Alvaro stürzt sich von einer Felsspitze in der Nähe von Leonoras Eremitenklause in den Tod. Für Mailand 1869 schrieb Verdi dagegen – in deutlicher Übereinstimmung mit der Funktion der Oper als Kirchenersatz im säkularisierten Italien seiner Zeit – ein versöhnliches Final-Terzett, das im Augenblick des Todes die Schönheit der Liebe und die Tröstungen des Glaubens feiert.
Die selbstmörderische Konsequenz der Petersburger Fassung, die der Schwierigkeit unserer Gegenwart, in einer immer absurder werdenden Welt Zusammenhänge zu erkennen, durchaus nahesteht, hat erst in jüngster Zeit Aufmerksamkeit und Interesse gefunden. Tatsächlich ist die ursprüngliche Version von La forza del destino eine eigene Lesart des Stücks, die eine eigenständige Beachtung verdient. Die Rezeptionsschichte der Oper blieb jedoch bisher, abgesehen von einer Rekonstruktion des Originals in einer Aufnahme von BBC London, weitgehend auf die Mailänder Bearbeitung beschränkt. Sie machte La forza del destino in Italien überhaupt erst richtig bekannt! Johann Christoph Grünbaums (1785-1870) deutsche Übersetzung der Oper von St. Petersburg erlebte eine Aufführung erst nach der Angleichung an die Mailänder Fassung durch Georg Göhler (1874-1954), den Kapellmeister der deutschsprachigen Erstaufführung von 1913 in Hamburg. Grünbaums erste ganz opernpraktische Übertragung ist dennoch bis heute die Grundlage der meisten deutschen Aufführungen geblieben. Die literarisch ambitionierte Bemühung Franz Werfels (1890-1945), der 1926 Die Macht des Schicksals für das Nationaltheater München neu übersetzte und damit eine Aufführungswelle des Stücks in fast allen wichtigen deutschen Opernhäusern auslöste, hat daran langfristig nichts ändern können. Sicher nicht zuletzt deshalb, weil Grünbaums Naivität unbewusst die dramaturgische Modernität dieser Opern-Übersetzung als ein Spiel über das Absurde eher freilegt als Werfels nach Verbesserungswegen suchender literarischer Ehrgeiz. Auch die musikalische Welt La forza del destino, die in ihrem Neben- und Beieinander von Frivolität und Gebet, hm-ta-ta und Kantilene, Oper, Operette und Revue die Kompositionstechniken von Montage und Collagen ahnen lässt, fühlt sich am wohlsten mit einer Sprache, die nichts entschuldigt oder glättet.
LA FORZA DEL DESTINO - Opéra Berlioz - Montpellier - 22. September 2024
Eine dunkle blutige und kriegerische Rache-Oper…
Der Sonntag markierte die Saisoneröffnung in Montpellier mit der monumentalen Oper La forza del destino in der Fassung von 1869. Nachdem wir den Dirigenten hier schon in der La Boheme (1896) gehört hatten, ahnten wir aus Erfahrung, dass das, was uns erwartete, unseren Erwartungen gerecht werden würde. Wir haben uns nicht geirrt, ganz im Gegenteil! Aber vielleicht sollte der Dirigent noch ein wenig mehr persönliche und glaubwürdige Visionen in die Interpretation bringen? Sobald sich das Thema der ersten Töne entfaltet, kommt das Orchestre National Montpellier Occitanie, um das Publikum zu fesseln und es in die schillernde Reflexionen von Verdis Partitur zu entführen. Bewegungen und Farben vermischen sich in einer geschickten Balance, die der Dirigent bei jeder Note und selbst in der leisesten Stille aufrechterhält. Wir werden uns nicht an die wenigen sehr seltenen Noten erinnern, die aus der „Herde“ hervorstechen und die er wie ein wahrer „Hirte“ zurückbringt! Im ständigen Zuhören dirigiert er jedes Pult so, dass es seinen Platz im Gesamtbild einnimmt, für das er verantwortlich ist, für eine schöne Homogenität voller Leben und einer gerade genug gemessenen Dynamik. Aber Cox ist ein Dirigent, der auch weiß, wie man der Bühne zuhört: Er schafft es hervorragend, genau die richtige Amplitude des Orchesters beizubehalten, um Stimmen entsprechend ihren Bedürfnissen passieren zu lassen, insbesondere Preziosilla – wir werden darauf zurückkommen. Ein großer musikalischer Erfolg, der vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen wird und dem sich natürlich auch die Chöre des Hauses sowie die der Opéra den Toulon, vorbereitet von der französischen Chorleiterin Noëlle Gény und dem französischen Chorleiter Christophe Bernollin, anschließen.
Inmitten all diesem Pathos streuen leichte, ja sogar komische Episoden in die Tragödie ein, als wollten sie deren dramatischen Aspekt durch Kontrast betonen. Zwei Charaktere, die Zigeunerin Preziosilla und der Mönch Melitone, bieten einen burleskeren Atem, der Jacques Offenbachs würdig ist. Pater Guadiano ist eine zentrale Figur der Handlung und verkörpert Weisheit und Menschlichkeit.
Die mexikanische Sopranistin Yunuet Laguna verkörpert perfekt die tragische und kraftvolle Donna Leonora. Die Stimme ist perfekt platziert, die Höhen sind weitgehend von mitreißenden piano geprägt, die den Tiefen eines Mezzo würdig ist, nichts nehmen. Sie verkörpert ihren Charakter und macht ihren Schmerz glaubwürdig, sodass wir die Kuriositäten des Librettos vergessen. Ihr gegenüber fällt es dem französisch-tunesischen Tenor Amadi Lagha schwerer, in die Handlung einzusteigen und Don Alvaros Leidenschaft zu verkörpern. Der 1. Akt überzeugt nicht sehr, die Stimme ist etwas nasal und es fällt ihm schwer, Tiefe zu finden. Was folgt, wird diesem ersten Eindruck widersprechen: Die letzten beiden Akte werden ihm große lyrische Möglichkeiten bieten! Wir haben sie 2023 in La vie Parisienne ( ) von Offenbach sehr geschätzt: Die korsische Mezzo-Sopranistin Elénore Pancrazi porträtiert eine funkelnde und provokante Preziosilla, ohne jemals in karikierte Vulgarität zu verfallen. Ihre Rolle ist beeindruckend, aber sie erliegt keinen technischen Fallstricken und nähert sich der Partitur mit bemerkenswerter Leichtigkeit und Brillanz. Eine der phantastischen Überraschungen des Abends.
Zwei weitere freudige Überraschungen stellt der armenische Bass Vazgen Ghzarryan dar, der Verdi wirklich kennt. Seine Inkarnation von Pater Guardiani ist ein Musterbeispiel an Technik und darstellerischer Tiefe. Er verleiht der Figur den ganzen Adel und die Güte und verkörpert so die Universalität einer Botschaft. Der italienische Bariton Stephano Meo schließlich ist ein Don Carlo di Vargas, dem es im ersten Teil an Präsenz mangelt, der aber durch die Dramaturgie der folgende Akte wird. Die große Rachearie im letzten interpretiert äußerst brutal und furchterregend, indem er doch noch nach anfänglichen Schwächen eine überzeugende Leistung liefert. In den kleineren Rollen fiel uns angenehm auf: Der junge französische Tenor Yoann Le Lan in der Rolle des Trabuco, desgleichen der französische Bass Jacques-Greg Belobo als Le Marquis de Calatrava. Die restlichen Interpreten ob Sänger oder Tänzer boten alle eine außergewöhnliche Leistung.
Als Wahl-Pariser mussten wir eingestehen, dass trotz einer Überfülle an kulturellen Ereignissen in der französischen Hauptstadt: Es sich doch ab und zu lohnt einen Sprung in die Provinz zu machen! Es war ein ereignisreicher Abend mit vielen Überraschungen trotz einiger kleiner Schwächen. Bravo an alle Mitwirkenden… (PMP/27.09.2024)