Montpellier, Opéra Berlioz, LA BOHÈME - Giacomo Puccini, IOCO

LA BOHÈME in Montpellier: Wie kann man in einer der berühmtesten Opern aller Zeiten etwas Neues finden? Vor dieser Herausforderung stand die irische Regisseurin Orpha Phelan in ihrer Neuinszenierung der Oper La Bohème .......

Montpellier, Opéra Berlioz, LA BOHÈME - Giacomo Puccini, IOCO
Opéra Berlioz - Le Corum - Montpellier @ Peter Michael Peters

LA BOHÈME (1896) - Giacomo Puccini, Szenen aus Henri Murgers La Vie de Bohème, in vier Bildern von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica

von Peter Michael Peters

ÜBER NOSTALGIE UND REUE…

Domandatelo a me.

Il suo nome è Musetta;

cognome: Tentazione!

Per sua vocazione fa la Rosa dei venti;

gira e muta soventi

e d’amanti  e d’amore.

E come la civetta è uccello

Sanguinario;

il suo cibo ordinario è il cuore…

Mangia il cuore!

Per questo io non ne ho più…

Passatemi il ragù! (Szene des Marcello / 2. Akt)

Rebellion als Lebensstil und Initiation…

Als Giacomo Puccini (1858-1924) in Turin im Jahr 1896 La Bohème uraufführte, inszenierte er ein Lebensgefühl, das Jugendliche bis heute als Rebellion gegen das Establishment stilisieren. Die vier jungen Männer, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen, nehmen sich die Freiheit, auf geregelte Arbeit zu verzichten und stattdessen für ihre Passionen zu leben: Marcello versucht sich in der Malerei, Schaunard in der Musik, Rodolfo in der Dichtkunst und der etwas blass geratene Colline befasst sich mit Runengrammatik und anderen abseitigen Feldern der Wissenschaft. Erfolg ist keinem von ihnen beschieden und so ist die Armut ihre ständige Begleiterin. Sie frieren, hungern und sehen sich immer wieder aufs Neue davon bedroht, das bescheidene Dach über dem Kopf wegen fehlender Mietzahlungen zu verlieren. Ein Überleben ist nur mit List und kleinen Tricks möglich, humorigen Gaunereien, die ihre demonstrative Antibürgerlichkeit mit einem kleinen Schuss Subversion würzen.

LA BOHÈME - montpellier - youtube Opéra orchestre national de Montpellier

Zwei Szenen machen dies deutlich: Als Benoit, Marcellos Wirt, von diesem den ausstehenden Mietzins verlangt, laden die vier ihn scheinheilig zum Trinken ein und verstehen es, das Thema Geld geschickt zu umschiffen. Stattdessen bringen sie den immer betrunkener werdenden Hausbesitzer dazu, mit seinen außerehelichen Abenteuern zu prahlen, um ihn kurz darauf mit gespielter Empörung über seine schmutzigen Begierden, der Stube zu verweisen. Mit dem Wissen um Benoits Untreue hat Marcello ihn in der Hand und das Quartal ist sozusagen bezahlt.

Die zweite Szene, in der finanzielle Probleme die Freunde in ernste Schwierigkeiten zu bringen drohen, wird nicht weniger unorthodox gelöst. Sie befinden sich in einem Café im Quartier Latin und bestellen üppige Gerichte  und erlesene Getränke wie wohlhabende Herren. Langusten, Hirschbraten und Truthahn werden aufgefahren, dazu genießt man Weine und Likör. Aber als es daran geht, die Zeche zu begleichen, stellt sich heraus, dass niemand Geld hat! Glücklicherweise ist Musetta in der Nähe, eine junge Dame der Halbwelt, die einst mit Marcello liiert war und diesen noch immer liebt. Musetta ist in Begleitung eines älteren Herren, den sie schikaniert und demütigt, der ihr aber trotzdem verfallen scheint. Unter einem Vorwand schickt sie ihn weg, um ihm in seiner Abwesenheit die Kosten der fidelen Bohémiens mit auf die Rechnung setzen zu lassen. Dann verschwindet sie mit diesen!

Die eigentümliche Mischung aus Elend und angenehmstem Lotterleben gehört untrennbar zur Selbstinszenierung von Bohémiens und anderen Mitgliedern spätadoleszenter Subkulturen bis in die heutige Zeit hinein. Weil sie kein Brennholz besitzen und es in ihrer Dachkammer so bitterkalt ist, verheizt Rodolfo im ersten Akt seine Manuskripte und gibt ein Bild tiefster Verelendung ab. Kurze Zeit später jedoch wendet sich das Blatt. Schaunard betritt den Raum und mit ihm zwei Laufburschen, die Zigarren, Wein, Pasteten und andere Leckereien hereintragen. Ein gut entlohnter Dreitagejob hatte ihn in die Lage versetzt, die Köstlichkeiten zu erwerben. Bourgeoise Genüsse, so erfahren wir, wechseln bei Bohémiens mit absolutem Mangel und Völlereien kontrastieren mit Entbehrungen. Eigentlich ist der Bohémien ein Genussmensch, einer der seine Zeit im Caféhaus verbringt, die Muße pflegt und seinen Geist mit ausgesuchten Alkoholika oder anderen Drogen entspannt. Der Bordeaux, den Schaunard gekauft hat, ist ein Symbol für diesen Hang zum guten Leben.

LA BOHÈME - Szenephoto - Dominic Sedgwick (Schaunard), Mikolaj Trabka (Marcello), Long Long (Rudolfo), Yannis François (Benoît), Dongho Kim (Colline) c Marc Ginot

Im gewissem Sinn erweisen sich die lebensfrohen Antihelden Puccinis hier als unmittelbare Nachfolger der adligen Libertins, deren Zeit mit der Französischen Revolution abgelaufen war. Sie hatten bis zu ihrer endgültigen Entmachtung durch das aufstrebende  Bürgertum, den Topos des Grenzüberschreitenden und Provokativen, des sexuell Ungebundenen und geistig Aufrührerischen verkörpert und die moralischen Gesetzte der feudalen Ordnung immer wieder durch ungebührlichste Handlungen erschüttert. Adlige Damen gingen in Männer-kleidung nächstens ihren erotischen Abenteuern nach und die Herren pflegten den sexuellen Verkehr mit Knaben ebenso wie mit den Töchtern des Dienstpersonals. Die wild gewordenen Mitglieder des höchsten Standes urinierten in Kirchen, lasen Teufelsmessen und produzierten ein eigenes literarisches Genre, das sich der detaillierten Schilderung erotischer Vergnügungen widmete. Der wohl bekannteste Vertreter dieser Literaten, dessen Werk durch die penible und geradezu buchhalterisch genaue Aneinanderreihung aller nur möglichen Tabubrüche besticht, war Donatien Alphonse François Marquis de Sade (1740-1814), der mit seinem Roman Histoire de Juliette, ou les Prospérités du vice (1797) eine der extremsten Phantasiegestalten einer weiblichen Freiheitsliebenden erschaffen hat. Allein die Rebellion der Libertins konnte im besten Fall ein Sturm im Wasserglas sein, gehörten doch die Rebellen gegen die herrschende Ordnung eben dieser Ordnung selbst an.

Der Bohémien dagegen war tendenziell ein Außenseiter! Ihm fehlte idealiter das sichere finanzielle Polster der Libertins ebenso wie die gesellschaftliche Einbettung in eine Ständegesellschaft. Nicht immer allerdings resultierte das materielle Elend aus der ärmlichen Herkunft! Manch ein verarmter Künstler entstammte einem wohlhabenden Elternhaus und kehrte, nachdem er seinen schöngeistigen Ambitionen einige Jahre gefrönt hatte, wieder in den Schoß des Bürgertums zurück. Andere wurden mit der Kunst erfolgreich oder verfielen in reiferen Jahren auf eine gewinnbringendere Profession.

Dieser Umstand bringt das Phänomen der Bohéme in die Nähe eines anderen, das der Ethnologe Max Gluckman (1911-1975) in Rituals of Rebellion in South-East Africa (1954) nannte. Er meinte damit das zeremonielle Durchbrechen gesellschaftlicher Regeln, die einem Teil der Bevölkerung zu einer bestimmten Zeit erlaubt wird. Untergebene dürfen den König beleidigen, Frauen verhöhnen die Männer und ein neuer Häuptling wird von seinen Untertanen wie ein Aussätziger behandelt. Gluckman hatte seine Beispiele aus dem südlichen Afrika gewählt  und die These aufgestellt, dass durch die erlaubte Überschreitung tabuisierter Grenzen ein kathartischer Effekt erzielt werde, der die Mitglieder unterprivilegierter Gruppen danach umso besser in das Gefüge der Macht eingliedere. Ein Schüler von Gluckmans, Victor Turner (1920-1983), hatte diese Theorie mit einem entwicklungs-psychologischen Modell verknüpft, das der Soziologe Arnold van Gennep (1873-1957) Anfang des 20. Jahrhunderts entworfen hatte. Van Gennep war überzeugt, dass Menschen in so genannten „Übergangsituationen“ Rituale brauchen, um von einer Phase ihrer Existenz in eine andere zu wechseln. Neuansiedlungen sind solche Übergänge, aber auch Hochzeiten, Geburten und das Erwachsenwerden von Jugendlichen. Den Übergang nannte Turner „liminale Phase“ und sah ihn als eine Zeit, in der Regeln und Werte außer Kraft gesetzt werden und die Welt auf dem Kopf steht.

LA BOHÈME - Szenenphoto - Long Long (Rodolfo), Adriana Ferfecka (Mimi) @ Marc Ginot

In den meisten nichtindustrialisierten Gesellschaften existieren spezielle Rituale, die es Jugendlichen ermöglichen, die Transition zum Erwachsenen so zu bewältigen, dass aus ihnen gut integrierte Erwachsene werden. Vielerorts fasst man die Initianden zu diesem Zweck in einer Gruppe  zusammen und gestattet ihnen besondere Freiheiten. Bei den ostafrikanischen Massai zum Beispiel ziehen die Moran, die unverheirateten jungen Männer, für eine Zeit in den Busch: Wo sie sozusagen „wild“ werden. Die Zwänge ihrer Gesellschaft besitzen für die Zeit ihrer Seklusion keine Gültigkeit! Sie leben ein freies, aufregendes Leben als Krieger, Jäger und Viehdiebe und sie verführen mit großer Freude die jungen Ehefrauen respektabler Dorfältester. Am Ende der Initiation, wenn sie zurück-kehren, schneidet man ihnen die langen, rot gefärbten Haare, Zeichen ihres Kriegerstatus ab und verheiratet sie. Der Ernst des Lebens hat begonnen! Das wilde, ungezügelte Leben und die Privilegien der Jugend, sexuelle Promiskuität, Respektlosigkeit und die Befreiung vom Joch täglicher Arbeit enden abrupt. Die Initiation ist nur eine Phase und niemand würde erwarten, dass man sie beliebig ausdehnen kann! Die hitzköpfigen Moran verwandeln sich in gesetzte Familienväter wie die Jugend-lichen anderer Hirten- und Bauernvölker auch. Sie mögen wehmütig auf die Vergangenheit blicken, doch sie werden niemals versuchen so zu tun, als ob sie noch immer ungebunden und frei wären. Sie sind sich bewusst, dass sie das Zentrum der Gesellschaft darstellen und würden es als absurd erachten: Gegen dieses Zentrum zu rebellieren!

Diese Haltung, das Sich-einfügen in die kulturell definierten Abschnitte des Lebens und die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung, hat die Menschheit die längste Zeit ihres Bestehens begleitet. Sie wurde erst dann in Frage gestellt, als es nicht mehr notwendig war, dass jeder sich mit der Kraft seiner eigenen Hände ernährte, als mit fortschreitender Stratifizierung und der Konsolidierung von Herrschaft, ein Teil der Bevölkerung von der täglichen Sorge um das Überleben befreit war. Feudale Herrschaftssysteme schufen Freiräume für Angehörige der oberen Schichten, die diese mit Müßiggang  und der Entwicklung von Freizeitbeschäftigungen ausfüllten. An den Höfen entstanden die schönen Künste ebenso wie ein Lebensstil , der vom Streben nach Differenz geprägt war. Man suchte sich zu unterscheiden, nicht nur vom einfachen Volk, sondern auch innerhalb der eigenen Klasse. Moden entstanden und Individualität bekam einen Wert. Ruchlosigkeiten konnten einem Fürsten zu besonderem Ruhm verhelfen wie auch praktizierte Tugend, Intrigantentum und Skrupellosigkeit ebenso wie Sanftmut und christliche Nächstenliebe. Die Geschichte ist voll von den Exzessen der herrschenden Geschlechter, nicht nur in Europa, sondern gleichermaßen in Asien, im Nahen Osten und im südlichen Amerika.

Übergangsrituale existierten im feudalen Adel nicht, sieht man einmal von einer Phase klösterlicher Unterweisung ab, die vor allem Mädchen traf. Das Übermaß der Macht und die Ausbeutung der Bauern schufen die Basis, um die Kultivierung juveniler Wildheiten während des gesamten Lebens bei zubehalten. Sexuelle Übergriffe auf Abhängige waren an der Tagesordnung und manches Mitglied des Adels schrieb sich durch das Exerzieren ausgesuchter Grausamkeiten sogar bis in das Gedächtnis der Nachwelt ein.

Ein expliziter Lebensstil sollte daraus aber erst zum Ende der feudalen Epoche werden, als neue Kräfte am Horizont der Geschichte erschienen und ein an Einfluss und Reichtum zunehmendes Bürgertum in den expandierenden urbanen Zentren sich anschickte, die politische Macht zu übernehmen. Der Libertin war eine Antwort auf die Forderung nach Liberté. Verhaftet in den Privilegien seines Standes, brüskierte er diesen gleichzeitig und formierte sich zu einer ständischen Subkultur, die nicht unwesentlich zur Erosion dieses Standes beitrug. Ein Zwitterwesen der Zeitgeschichte, das mit seinen exzessiven Handlungen einerseits auf die unbeschränkte Macht der feudalen Oberschicht pochte, aber durch die Betonung des freien Geistes andererseits  ein politisches Risiko darstellte. Ein gutes Beispiel dafür ist der bereits erwähnte Marquis de Sade, der mit den Republikanern sympathisierte und für die Abschaffung des Privateigentums argumentierte, seine eigenen Ländereien und Anwesen aber davon ausgenommen wissen wollte. De Sade verfasste glühende Traktate für die Emanzipation der Frau und nutzte im wirklichen Leben seine überlegene Macht, um sie seinen erotischen Perversionen zu unterwerfen.

LA BOHÈME - Szenenphoto mit Julia Muzychenko (Musetta), Mikolaj Trabka (Marcello), Ensemble @ Marc Ginot

Der Libertin wurde abgelöst durch den Bohémien und den Dandy, beides Figuren die wie der Libertin, mit Jugend assoziiert wurden, obgleich ihre Protagonisten nicht immer jung waren. Beide sind Rebellen gegen die herrschende Ordnung, wenn auch von rechtunterschiedlicher Warte aus. Der Dandy, attraktiv und gut gekleidet, bekämpfte das bürgerliche Leben aus einer aristokratischen Perspektive. Britischen Ursprungs, gab er sich antidemokratisch und elitär! Geschäfte waren ihm ebenso verhasst wie die Ehe und nicht selten gebärdete er sich als eingefleischter Frauenfeind. Obwohl er in der öffentlichen Meinung mit Homosexualität in Verbindung gebracht wurde, tolerierte man ihn mehr als den Bohémien, der aufgrund seiner sozialkritischen Grundhaltung eher umstürzlerischer Ambitionen verdächtigt wurde.

Schon der Begriff der Bohème enthält das Zeichen des Suspekten. Bohemia/Böhmen ist eine Provinz im heutigen Tschechien und gehörte bis 1918 dem von der habsburgischen Dynastie regierten Kaiserreich Österreich-Ungarn an. Im 15. Jahrhundert wanderten Zigeuner in Bohemia ein, die alsbald als Bohemianer bezeichnet wurden. Nach diesen Zigeunern benannte man später all diejenigen, die gegen die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft opponierten und ein selbstbestimmtes, freies Leben suchten. Die Exotisierung des Zigeuners als ambivalente Figur, die sowohl im Positiven wie im Negativen für den gesellschaftlichen Outlaw an sich steht, entsprach die Selbststilisierung junger Künstler  und Literaten im nachrevolutionären Paris, die sich keinerlei Zwängen zu beugen glaubten und die selbst die Armut noch glorifizierten.

Henri Murger (1822-1861) popularisierte den Begriff  des Bohémien im 19. Jahrhundert durch seinen Roman Scènes de la Vie de Bohème (1851), der im Deutschen interessanterweise oft als „Zigeunerleben“ übersetzt wurde. Autobiographisch gefärbt, ist es ein Bekenntnisroman, der zunächst als Fortsetzungsgeschichte in einer Zeitschrift veröffentlicht, den spätadoleszenten Aufstand gegen die ältere Generation feiert. Die Helden des Quartier Latin sind jung, wild und respektlos, fast wie die Moran in Ostafrika oder Jugendliche in anderen indigenen Gesellschaften, die das Leben vor dem Eintritt ins Erwachsenendasein noch einmal aus vollen Zügen genießen. Ist Scènes de la Vie de Bohème eine Initiationsgeschichte? Ja und nein! Unbestritten sind die Protagonisten jugendliche Rebellen, die die Normen und Werte der Gesellschaft negieren. Anstatt einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, sitzen sie in Cafés herum, statt sich mit einer Gewinn versprechenden bürgerlichen Laufbahn zu befassen, geben sie sich brotlosen Künsten hin. Sie sind weder fleißig noch sparsam! Obwohl ihre Geldbeutel leer sind, trinken sie Rheinwein und Bordeaux, rauchen Zigarren und füllen ihre Bäuche mit ausgesuchten Delikatessen. Sie leben von kleinen Betrügereien und Gelegenheitsaufträgen und hoffen insgeheim auf den grossen Durchbruch als Künstler. Bei Gelingen wäre das Ende der Initiation erreicht und der Außenseiter würde sich zum anerkannten Mitglied der bürgerlichen Gemeinschaft wandeln. Murger selbst hat diese Transformation vollzogen. Ihm gelang der Aufstieg vom kleinen Schreiber zum bewunderten Literaten. Und auch Puccini ist ein Produkt einer bohemianischen Einweihung. Als Student am Mailänder Konservatorium führte er das Leben eines Bohémien, doch bereits kurz nach seinem Abschluss konnte er große  öffentliche Erfolge feiern.

So weit könnte man die Bohème mit gutem Recht als bürgerliches Initiations-modell bezeichnen. Wären da nicht einige Einschränkungen! Anders als bei den Übergangsritualen indigener Gesellschaften war es nämlich keineswegs gesichert, ob der jugendliche Outlaw sich tatsächlich zum respektablen Bürger wandelte. Manch einer kam niemals heraus aus den ungeheizten Zimmern und fristete sein gesamtes Leben als armer Dichter oder verkannter Maler. Mit fortschreitendem Alter verliert so seine Existenz natürlich den Glamour, den Murgers und Puccinis Helden verbreiten und eine ähnliche Geschichte über einen fünfzigjährigen Rodolfo und eine betagte Mimi wäre nur eine sozialkritische Tragödie. Allein im Gewand des Revoluzzers, einer dem Bohémien verwandten historischen Gestalt , die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immens an Bedeutung gewinnen sollte, konnte der Lebensstil des wilden Underdog zum nicht an Jugend gebundenen Muster für Freiheit werden. Caféhaus und Dachkammer, Wein und Armut erfuhren hier eine neue Romantisierung, die damit einherging, dass das Anliegen des Revolutionärs nicht die eigene Person, sondern die mögliche Transformation der ganzen Gesellschaft betraf. An Stelle des individuellen Übergangs in eine neue Lebensphase wurde der kollektive Übergang  auf eine neue Entwicklungsstufe proklamiert. Dabei fungierte der Revolutionär sowohl als Initiand, der sich in unentwegten Diskussionen und Überprüfungen des eigenen Handelns dem Ideal des neuen Menschen anzunähern trachtete, als auch als Initiator: Der die von ihm initiierten großen historischen Prozesse dirigierte und in eine bestimmte Richtung lenkte. In der revolutionären Propaganda wurden kalte Kammern und leere Geldbeutel zu Insignien der revolutionären Klasse, die man als Ganzes zur Rebellion und Wildheit zu führen gedachte, um in einer gewaltigen Erhebung die Vertreter der herrschenden Ordnung nicht nur herauszufordern wie die Untertanen südafrikanischer Könige, die Gluckman beschrieb, sondern sie auch für alle Zeiten hinwegzufegen. Im Bewusstsein dieses Unterschiedes hatte Gluckman seine rituellen Rebellionen kategorisch von so genannten „wirklichen“ Revolutionen industrieller Gesellschaften abzugrenzen gesucht. Indes die saubere Trennung ist kaum mehr als eine Fiktion, denn einerseits endete vieles, was im zeremoniellen Rahmen begann, mit einer realen Erhebung und andererseits war es den meisten hoffnungsvollen Revoluzzern, wie wir aus der Geschichte wissen, niemals vergönnt: Die Massen tatsächlich zum Aufstand zu führen! Sie verbrachten ihr Leben im Caféhaus anstatt auf der Barrikade und wurden zu lebenslänglichen Bohémiens, wenn sie sich auch niemals als solche verstanden.

Eine andere Form der Konservierung romantisierter Jugendrevolte wurde von denen gepflegt, die kraft ihrer gesellschaftlichen Stellung seit langem im Zentrum des Establishments angekommen waren. Puccini selbst gehörte zu denen, die vom Ideal des wilden Jungen nicht lassen wollten und hatte sich mit einigen Gleichgesinnten zu einem Club Bohème zusammengeschlossen, um den Traum von Rausch und Freiheit weiterzuspinnen. Zu denen gehörten auch seine beiden Freunde Giuseppe Giacosa (1847-1906) und Luigi Illica (1857-1919), die äußerst talentierten Librettisten seiner Oper La Bohème.

Mit diesem leicht skurrilen Projekt hatte er eine Philosophie vorweggenommen, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur vollen Blüte kommen sollte: Die des Berufsjugendtums, dessen Anhänger die lebenslange Opposition zur Gesellschaft für sich in Anspruch nahmen. Ob Kommunarden, Hippies oder Punks, autonome Straßenkämpfer oder tanzbesessene Raver – sie alle waren und sind der festen Auffassung, einen Lebensstil für sich entdeckt zu haben, den sie für immer beibehalten würden. Diejenigen die die Reihen verlassen, weil sie ihr Studium abgeschlossen haben und eine akademische Karriere starten, weil sie eine Familie gründen oder sich ins Parlament wählen lassen: Werden von den anderen mit Argwohn betrachtet! Sie gelten im besten Fall als Angepasste, die den hehren Idealen untreu geworden und jetzt verspießert sind: Im schlimmsten Fall als Verräter! Ganz sicher ist man sich, dass man niemals so werden möchte, sondern den eingeschlagenen Weg nicht verlässt: Forever Young und immer ein Rebell! Glücklich sind die, die jung sterben, durch das Übermaß an Drogen wie Janis Joplin (1943-1970) und Jimi Hendrix (1942-1970), oder heroischer durch die Kugeln der Polizei, wie die zu Märtyrern verklärten Mitglieder der bewaffneten Oppositionsgruppen. Sie entgehen dem Schicksal eines Joschka Fischer (*1948), der vom Street Fighter zum Außenminister mutierte und sich jetzt, in fortgeschrittenem Alter, dafür rechtfertigen muss, dass er nicht schon immer italienische Maßanzüge getragen hat!

LA BOHÈME - Szenenphoto - Mikolaj Trabka (Marcello), Long Long (Rodolfo) @ Marc Gino

Doch die Vertreter der reinen Lehre selbst entgehen nur selten dem Schicksal ihrer Vorgänger und müssen irgendwann feststellen, dass sie nur eine Phase durchlebt haben, deren Konservierung weder erstrebenswert noch möglich ist. In einer entritualisierten Gesellschaft, wie sie die westliche Industriegesellschaft darstellt, entwerfen Jugendliche intuitiv Initiationsmodelle, die ihnen den Übergang ins Erwachsenenleben erleichtern. Erstaunlicherweise ähneln diese Modelle denen indigener Völker und sie betonen das Moment des Rebellischen und Zügellosen. Anders aber als die Novizen der Bauern und Hirten Afrikas, Asiens, Amerikas und Ozeaniens sind sich die westlichen Jugendlichen weder des rituellen noch des temporären Charakters ihrer Handlungen bewusst. Dieser Umstand produziert Frustrationen und unnötige Feindschaften. Dabei täte Gelassenheit Not! Wie uns die Biographien der einst aufmüpfigen 68er und 78er zeigen, kann das Durchleben eines Prozesses von Opposition und Unangepasstheit Individuen und Gesellschaft enorm bereichern, hilft es doch einer Erstarrung der Kultur und der Drosselung der kreativen Potentiale der Einzelnen vorzubeugen. Die künstliche Konservierung dieser Ideale allerdings und die Verhinderung persönlicher Entwicklung hin zum Erwachsenen erschaffen bestenfalls Absonderlichkeiten wie Puccinis Club Bohème. Erstrebenswert sind sie schon deshalb nicht, weil die Vision ewiger Jugendlichkeit längst von einer Allianz aus Kosmetikherstellern, Pharmakonzernen und plastischen Chirurgen vermarktet wird und ihr der Geruch der Rebellion gründlich abhanden gekommen ist…

LA BOHÈME - Szenenphoto - Julia Muzychenko (Musetta), Adriana Ferfecka (Mimi), Long Long (Rodolfo) @ Marc Ginot

LA BOHÈME - Premiere - Opéra Berlioz / Le Corum / Montpellier - 22. Mai 2024

La Bohème: Glanz und Elend der Jugend…

Wie kann man in einer der berühmtesten Opern aller Zeiten etwas Neues finden? Vor dieser Herausforderung stand die irische Regisseurin Orpha Phelan in ihrer Neuinszenierung der Oper La Bohème. Indem sie die Oper in dem Paris der verrückten 20er Jahren versetzte zwischen zwei verheerenden Weltkriegen… Das alleine ist keine besondere Neuheit, denn diese Oper wurde schon an vielen Orten und Zeiten gespielt! Auch das Bühnenbild und die Kostüme der irisch-englischen Bühnen- und Kostümbildnerin Nicky Shaw weißt im ersten Moment eine äußerst starke  konventionelle Arbeit vor… d. h. für uns keine sehr guten Vorzeichen…  

Aber sehr schnell reagierte die realistische Bühne und die Kostüme im Einklang mit einem irrsinnig verrückten phantastischen Regie-Theater, wie wir es lange nicht gesehen haben. Man erinnert sich spontan an die Arbeiten des großen französischen Regisseurs Patrice Chéreau (1944-2013), der fast immer seine unvergessene reiche Schauspielführung praktisch in „altmodische“ konventionelle realistische Bilder ansiedelte. Aber das war jedes Mal so stark, dass man alles um sich herum vergaß! Übrigens Phelan sagte in einem Interview in Montpellier, man könne diese Oper wo immer man auch will: Versetzen, verschieben, transportieren… „sogar auf den Mond!“ Es ist wirkt immer wunderbar und ohne Probleme! Obwohl sie selbst La Bohème nur in die Golden Twenties mit Erfolg verrückt hat, jedoch ihre so hingeworfenen Worte „sogar auf den Mond!“ sind nicht ohne Antwort geblieben. Denn an der Opéra National de Paris konnten wir mit großer Begeisterung der La Bohème auf den Mond folgen. Diese tollkühne Inszenierung des deutschen Regisseurs Claus Guth (*1964) zeigte uns wieder einmal, wie ein gutes Regie-Theater zarte Poesie und Verzauberung vermitteln kann (Siehe IOCO -LA BOHÈME - 16.05.2023 - link HIER!).

LA BOHÈME - Szenenphoto @ Marc Ginot

Der Regisseurin gelang es mit ihren Kollaboratoren uns viele emotionsgeladene, meisterhafte und sehnsüchtige Bilder zu erschaffen wie in einem dieser klassischen Tränenfilme dieser Zeit. Vergessen wir auch nicht die schönen lyrischen Lichtmalereien des englischen Lichtbildners Matt Haskins. Die Konzeption des Werks von Phelan ist getreu und dennoch einfallsreich und betont  sowohl die amüsanten als auch die tragischen Elemente: Wie sie eben auftauchen! Shaws Bühnenbild und Kostüme sind genau richtig und fangen die düstere La Bohème-Atmosphäre gekonnt ein. Eine beeindruckende zweistöckige Außenwand, gesäumt von Bögen und Fenstern, dient sowohl als heruntergekommenes verarmtes Künstleratelier als auch als fröhliche kommerzielle Kulisse für das Café Momus. Im dritten Akt dreht sich dieselbe Wand, um die Perspektive einer langen Straße zu schaffen und vermittelt auch in Verbindung mit dem fallenden Schnee das kalte nackte Elend: Das den Liebenden bevorsteht! Das einzige Rätselhafte an den Bühnenbildern im ersten Akt war die Einbeziehung großer Fotos von Händen, die wohl die Malerei von Marcello darstellen sollten, aber auch ebenfalls eine symbolische Rolle zu spielen schienen. Aber welche?

Die Kostüme sind lebendig und nachvollziehbar, Mützen und Westen sind an der Tagesordnung und einige wunderbare, wenn auch seltene Prunkstücke der Polizei und der Blaskapelle. Die Verwandlung Musettas im zweiten Akt vom frivolen Frack-tragenden Pseudo-Dandy mit Zylinderhut und langer Zigarettenspitze zum schillernden pailletten-geschmückten hautengen Hollywood-Vamp à la Marlene Dietrich (1901-1992) war wohl ein voller Erfolg.

Die Besetzung war einmalig, fast unvergesslich und auch sehr ausgeglichen, nur die Interpretation des französischen Bariton Yannis François ließ leider zu wünschen übrig, ja man kann einfach sagen, er war nicht an seinem Platz! Jedoch hatte er nur die beiden kleinen Rollen des Benoît und Alcindoro  zu singen.

Wenn die polnische Sopranistin Adriana Ferfecka als Mimi nicht hustete, wie es ihr schwindsüchtiger Charakter erfordert, erhob sie sich anmutig und ihr goldener Sopran eroberte nicht nur Rodolfos Herz, sondern auch das des Publikums. Sie hat die großartige Fähigkeit, mit Zartheit und Zerbrechlichkeit einen hauchdünnen Melodiefaden zu weben und bei Bedarf auch sofort mit atemberaubender Kraft loszulegen. Von ihrem „Si, mi chiamano Mimi bis zu ihren herzergreifenden Momenten auf dem Sterbebett begeisterte sie unsere Ohren.

Zwischen Ferfecka und Rodolfo des chinesischen Tenor Long Long herrschte eine echte musikalische Chemie, wobei sich Long als würdiger Gegenpart erwies. Seine wohlklingende Stimme brauchte eine kurze Weile, um sich richtig zu entfalten, doch als Mimi auf der Bühne erschien, streichelte sein warmer Gesang in „Che gelida manina“ unsere Sinne. Sein Rodolfo war ein lebhafter Charakter gegenüber seinen Bohème-Kollegen, der bereit war, seinen Gesang und sein Spiel für Wärme und gute Laune zu opfern, indem er auch seine Gedichte laut Libretto verbrannte oder mit ihnen ein Baguette-Wurf-Spiel erfand.

Die russische Sopranistin Julia Muzychenko ist eine äußerst temperamentvolle Musetta, die ihr berühmtes Walzerlied mit Schwung und verführerischer Brillanz singt. Ihr Streit mit Marcello im dritten Akt bildete einen amüsanten Kontrapunkt zu den beiden Hauptliebenden. Als Marcello glänzte der polnische Bariton Mikolaj Trabka wunderbar, als er angewidert über Musettas Eskapaden im zweiten Akt schnaufte und während der gesamten Oper für viele ernsthaft-komische Erleichterungen sorgte. Ein Extralob für diesen attraktiven Bariton, er hatte uns und auch das Publikum mit seinem Charme im Sturm erobert. Der englische Bariton Dominic Sedgwick mit seiner satten Stimmfarbe als Schaunard und der südkoreanische Bass Dongho Kim mit seiner tiefschwarzen samtenen Stimme als Colline hatten beide eine sehr gute Stimme und sie integrierten  sich ohne Schwierigkeiten in die Künstlergruppe ein.

Ein großes Lob geht auch an den Chor der Opéra National Montpellier Occitanie unter Leitung der französischen Chorleiterin Noëlle Gény, der kräftig sang und für wunderbare Straßen-Szenen und Atmosphäre sorgte. Das Gleiche gilt auch für den Kinder-Chor Opéra Junior – Classe Opéra unter der Leitung der französischen Chorleiterin Noëlle Thibon. Beide Chöre schufen unwahrscheinliche  rasante und wilde Bewegungs-Gruppen mit Hilfe der sehr talentierten irischen Choreographin Muirne Bloomer.

Schließlich – und das war absolut entscheidend – hielt der afro-amerikanische Dirigent Roderick Cox im Orchestergraben alles zusammen  und dirigierte das Orchestre National Montpellier Occitanie mit grandiosen Elan. Er schöpfte aus den romantischen Wellen, die Puccinis Partitur untermalen, jedes Quäntchen herzzerreißender Leidenschaft und satter Klangfarben heraus, auch wenn sie die die Sänger in dieser schillernden Darbietung kein einziges Mal überwältigten. Übrigens  ab September 2024 wird dieser wahnsinnig talentierte junge Dirigent der neue Musikdirektor in Montpellier.

Ein ereignisreicher Abend mit vielen außergewöhnlichen Überraschungen! Wir warten mit Ungeduld auf die neue Saison 2024/2025.