Monte-Carlo, Théâtre des Variétés, FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO 2023, IOCO Kritik, 24.3.2023

Monte-Carlo, Théâtre des Variétés, FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO 2023, IOCO Kritik, 24.3.2023
Théâtre des Variétés, Monte-Carlo © Peter Michael Peters
Théâtre des Variétés, Monte-Carlo © Peter Michael Peters

FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO 2023

- Surrealistisches Film-Konzert - QUATUOR ÉNÉIDE-

von Peter Michael Peters

QUATUOR ÉNÉIDE

François Salès, Englischhorn, Duduk, EWI und Theremin.

Hervé Cligniez, Klarinette und Bass-Klarinette.

Michaël Chanu, Kontrabass und Elektrik-Bass.

Claudio Bettinelli, Schlagzeug und Objekte.

DIE HAUPTPRINZIPIEN DES SURREALISMUS

    • Le sang ne fait
    • qu’un tour
    • Quand le
    • dukduk se
    • deploie sur la
    • péninsule de la
    • Gazelle
    • Et que la jungle
    • s’entrouvre sur
    • cent soleils levants
    • (Dukduk /Auszug aus Clair de terre (1923) von André Breton)

Surrealistische Filme aus Europa und Amerika…

QUATUOR ÉNÉIDE - François Salès - Englisch Horn © Alice Blangero
QUATUOR ÉNÉIDE - François Salès - Englisch Horn © Alice Blangero

Der Surrealismus hat mit dem Barock viel gemeinsam, dass sowohl eine historische Epoche als auch einen Geisteszustand bezeichnet. Historisch gesehen entstand der Barock Ende des 16. Jahrhunderts in Italien und der Surrealismus in den 1920er Jahren in Paris, im Geiste bezeichnet der Barock etwas Skurriles, Extravagantes und Unregelmäßiges, der Surrealismus das Delirierende, Unberechenbare und gegen jegliche vernünftige Logik.

Das Projekt dieses Filmkonzerts ist es nicht nur Filme direkt aus der historischen Periode des Surrealismus zu präsentieren, sondern auch Werke entweder vor oder nach dieser Periode, deren Geist jedoch zweifellos surrealistisch erschienen. Diese Programmierung erstreckt sich somit von 1906 bis 2023.

Aber was ist Surrealismus? Im allgemeinen Sprachgebrauch ist die Qualifizierung einer Situation als surreal nicht immer eine Garantie für ein Kompliment. Oft halten wir die Affäre für unverständlich und absurd, sogar für moralisch skandalös oder offen gesagt sogar unfähig. Und das Urteil fällt: „Es ist unfassbar!“ Also ja: „was unverständlich ist!“ könnte ein erster Einstieg in den surrealistischen Geist sein. Aber das reicht natürlich noch lange nicht! Surrealismus ist auch der Traum von Macht, das Fehlen der Kontrolle der Vernunft, das Diktat des Denkens, das von moralischen oder ästhetischen Gedanken befreit ist. Surrealismus ist also unendlich zu definieren!

Wenden wir uns also lieber an Gott als an seine Heiligen und lassen André Breton (1896-1966) zu Wort kommen. Der erste Film dieses Programmes  ist L’Alchimiste Parafaragamus ou La Cornue infernale (1906) von Georges Méliès (1861-1938), hören wir uns Breton zu diesem Thema an: „Die surrealistische Forschung stellt mit der alchemistischen Forschung eine bemerkenswerte Zweckanalogie dar: Hier ist der Stein der Weisen nichts anderes als das, was die Vorstellungskraft des Menschen zulassen will, um sich an allen Dingen blendend zu rächen.“ Könnte der Surrealismus die schillernde Rache der Phantasie an allen Dingen sein?

Wie wir sehen können, ist der Geist des Surrealismus flüchtig, er ist sowohl eine Aktion als auch eine Reaktion, sowohl eine Konstruktion als auch eine Zerstörung und er ist sicherlich nicht so unlogisch, wie wir glauben möchten. Aber eines ist für ihn unabdingbar: souveräne Freiheit möglichst gepaart mit einer gehörigen Portion Subversion! Neben dieser nicht verhandelbaren Freiheit sind hier zwei große Achsen als Kriterien für die Auswahl der Filme dieses Programms favorisiert: Eine nichtlineare Erzählung (oder sogar ein völliges Fehlen von Erzählung!) und ein Verhältnis zur Zeit, das sich den Gesetzen des gesunden Menschenverstandes widersetzt. Deshalb wird keiner der Filme, die hier präsentiert werden, in wenigen Sätzen zusammengefasst sein. Denn dies sind weniger Geschichten, denen man folgen muss, als eher physische oder spirituelle Erfahrungen: Die es zu erleben gilt!

QUATUOR ÉNÉIDE - Claudio Bettinelli © Alice Blangero
QUATUOR ÉNÉIDE - Claudio Bettinelli © Alice Blangero

Dieses Programm wechselt zwischen europäischen und nordamerikanischen Werken. Tatsächlich wurde der Surrealismus, der in Paris geboren ist, sehr schnell in die  USA exportiert. Ab 1939 schifften sich Breton, Max Ernst (1891-1976) und der in Amerika geborenen Man Ray (1890-1976) in Marseille für New York ein und brachten dort die amerikanische Künstlerszene durcheinander. Aber in Wahrheit war in der amerikanischen Kunst ab 1930 eine starke surrealistische Strömung präsent, insbesondere mit der bedeutenden Persönlichkeit von Joseph Cornell (1903-1972) oder die schwer fassbare Mary Ellen Bute (1906-1983). In diesem Film-Konzert werden Filme dieser beiden Künstler präsentiert, sowie auch von dem unvermeidlichen Ray, ohne den kanadischen Pionier des animierten Films Norman McLaren (1914-1987) zu vergessen.

Auch dem belgischen Surrealismus, dessen Bedeutung nicht mehr demonstriert werden muss, wird mit einem besonderen interessanten Werk vertreten sein: Monsieur Fantômas (1937) von Ernst Moerman (1897-1944), ein Wunderwerk an Unverschämtheit und Erfindungsreichtum, durchdrungen von solarem Dilettantismus.

Dass der Geist des Surrealismus noch lebt, zeigen die neuesten Arbeiten in diesem reichhaltigen Programm, mit Filmen mehr oder weniger underground wie der hypnotische Film Necrology (1970) von Standish D. Lawder (1936-2014) oder dem eiskalten TX-transform (1998) von dem Österreicher Virgil Widrich (*1967), ein Virtuose des verschachtelten Bildes oder auch eine Minute absoluter Mysterien in Lumière et Compagnie (1995), signiert von dem berühmten David Lynch (*1946). Dazu ein paar Überraschungen in Erstaufführungen!

All dies beweist, dass das surrealistische Abenteuer „attitude inexorable de sédition et de défi“ (Breton) mit dem erklärten Ziel „changer le monde“ (Arthur Rimbaud / 1854-1891) nie zu Ende ist! Musikalisch fügt sich das Quartett Énéide bereitwillig in diesen Geist freudiger Freiheit ein und wagt sich auf schmalstem Grade die surrealistischen Wege zwischen geschriebener und zeitgenössischer Musik zu finden. Dazu auch mit generativer Improvisation zwischen traditionellen Instrumenten und wilden erfindungsreichen Instrumenten-Phantasien! Die Aufzählung des Instrumentariums, ein verrücktes Inventar à la Jacques Prévert (1900-1977), genügt um sich zu überzeugen: Eine Bassklarinette, eine E-Gitarre, ein Duduk, ein Theremin, ein EWI (Electronic Wind Instrument), Salatschüsseln, ein rosa Gummi-Schwein und vielleicht noch mehr…

„Ma fin est mon commencement“ opus 2

Bruno Mantovani, der französische Komponist und künstlerischer Leiter des FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO, setzt das im Jahre 2022 begonnene Thema „Mein Ende ist mein Anfang“ nach einem Rondo von Guillaume de Machaut (um 1300-1377) mit einem Opus 2 fort. Um gewissermaßen eine Konfrontation zwischen dem ersten und dem letzten Werk eines jeweiligen Komponisten und Schöpfer zu definieren. Das Festival, das vom 8. März bis 2. April 2023 stattfindet, bietet ein abwechslungsreiches Programm unter anderem mit amerikanischer Musik: Aaron Copland (1900-1990), Elliott Carter (1908-2012), Steve Reich (*1936) und Betsy Jolas (*1926). Gleichzeitig öffnet es sich auch für andere künstlerische Ausdrucksformen wie Kino, Literatur und Malerei. Eine Ausstellung ist dem amerikanischen Maler Robert Guinan (1934-2016) gewidmet, der besonders für seine Porträts der turbulenten New Yorker Jazz-Szene, den verrauchten Bars, den Schwarzen und Ausgeschlossenen bekannt ist.

Anmerkung: Wir werden über das nächste Konzert vom 11. März 2023 berichten: Melodien- und Lieder-Abend mit Edwin Crossley-Mercer, Bariton und Michel Dalberto, Klavier.

QUATUOR ÉNÉIDE - Hervé Cligniez, François Salés, Claudio Bettinelli © Alice Blangero
QUATUOR ÉNÉIDE - Hervé Cligniez, François Salés, Claudio Bettinelli © Alice Blangero

10.3.2023 - Film-Konzert  - Quatuor Énéide - Théâtre des Variétes, Monte-Carlo

Surrealistische Improvisationen…

Am zweiten Abend hatten wir eine wunderbare Überraschung in diesem kleinen Theater oder besser gesagt: Filmsaal! Natürlich ist das Theater à la Monte-Carlo aus Platzmangel im tiefen Keller untergebracht und  umgeben von einem Auto-Parkplatz. Jedoch war es vielleicht der interessanteste Abend an diesem ereignisreichen  Wochenende. Denn der sehr talentierte Musiker François Salès mit seinen genialen Musiker-Freunden zündeten gewissermaßen  ein großes surrealistisches Feuerwerk an: Eine sarkastische und humorvolle Atmosphäre  schwebte unsichtbar im tiefschwarzen Saal! Im Zeichen von abenteuerlicher Risikobereitschaft versuchten sie mit Elan und Einsatzfreudigkeit die klassische und zeitgenössische Musik in einer freien Improvisation zu verflechten mit ihrer so verrückten und wilden Instrumenten-Erneuerung.  Die auf der Leinwand projektierten Meisterwerke wurden tatsächlich auf äußerst ideale Weise musikalisch und surrealistisch begleitet. Bei genauerem Hinhören erkannte man wohl fast die gesamte abendländische Musikgeschichte wieder! Die hinreißende Interpretation der Musiker mit ihren teilweise skurrilen  Instrumenten war teilweise auch ein großer optischer Genuss: Der Schlagzeuger Claudio Bettinelli musizierte mit seinen vielen Gläsern und Schüsseln eine wahre schmackhafte musikalische Feinschmecker-Show zusammen. Auch hantierte er mit viel Geschicklichkeit diverse Metall-Werkzeuge, die in einem Eimer lagen und  fabrizierte somit Musik-Krach vom Feinsten, indem er die Werkzeuge herausnahm und sie teilweise miteinander rieb oder schlug: Und somit eine gewaltige phantastische Geräusch-Fontäne kreierte. Das rosa Gummi-Schweinchen war mehr als musikalisch, wenn es vom Klarinettisten Hervé Cligniez liebevoll und sehr notenreich gedrückt und geknuddelt wurde: …quitsch …quiiitsch …quiiietsch! François Salès erbaute phänomenale Geräuschkulissen mit seinem Theremin-Instrument. Man fragte sich mitunter, was ist wohl mehr surrealistisch…? Die Filme…? Die Musik…? Die Musiker…?  Oder die Instrumente…?

…zu folgenden Filmen:

Georges Méliès (1861-1938): L’Alchimiste Parafaragamus ou La Cornue infernale (1906)

Man Ray (1890-1976): Le Retour à la raison (1928)

Mary Ellen Bute (1906-1983 ) und  Ted Nemeth (1911-1986): Synchromy n° 2 (1936)

Joseph Cornell (1903-1972): The Midnight Party (1930/1970)

Norman McLaren (1914-1987): Points (1949) / A Phantasy (1952)

Standish Lawder (1936-2014): Necrology (1970)

David Lynch (*1946): Lumière et Compagnie (1995)

Martin Reinhart (*1967) und Virgil Widrich (*1967): TX-transform (1998)

Claudio Bettinelli (*1976): Intermezzo (2020)

François Salès (?): Try again (2022) / Merz alors (2022)

Ernst Moerman (1897-1944): Monsieur Fantômas (1937)

Die vorangezeigten Erstaufführungen wie wir sahen, waren die drei sehr irrsinnigen frechen und wahnwitzigen Film-Überraschungen von zwei der Musiker dieses Abends: Claudio Bettinelli und François Salès. Einer davon ist äußerst dreist mit Merz alors betitelt! Ein besonders  feinfühliges und poetisches Werk um unweigerlich einen sogenannten Nach-Merz (1923) zu kreieren oder aber auch um eine kleine  Hommage à Karl Schwitters (1887-1948), dem großen Maler der Dada-Bewegung, zu widmen.

Auf jeden Fall war dies ein vielseitiger eklektischer musikalischer Film-Abend mit vielen neuen Hör- und Seherlebnissen und einer ungeahnten großen künstlerischen Freiheit und Kühnheit,  wie man sie selten findet kann. Viva der Surrealismus… Viva die Tollheit… Viva die Großzügigkeit und die Toleranz(PMP/23.03.2023)

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