Monte-Carlo, Auditorium Rainier III, FELIX MENDELSSOHN-BARTHOLDY - Kantaten, IOCO Kritik, 07.04.2023

Monte-Carlo, Auditorium Rainier III, FELIX MENDELSSOHN-BARTHOLDY - Kantaten, IOCO Kritik, 07.04.2023
Auditorium Rainier III , Monto-Carlo © Wikimedia Commons
Auditorium Rainier III , Monto-Carlo © Wikimedia Commons

FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO 2023

von Peter Michael Peters

FELIX MENDELSSOHN-BARTHOLY

KANTATE - VOM HIMMEL HOCH Texte: Martin Luther (1409-184)</p

DIE GEBURT CHRISTI – DAS LEIDEN CHRISTI Auszüge aus CHRISTUS, ORATORIUM Op. Post. 97, Originaltitel: Erde, Hölle und Himmel (unvollendet)

NUNC DIMITTIS „Herr, nun lässest du“, Nr. 1 Auszug aus DREI MOTETTEN, Op. 69,  (Evangelium nach Lukas 2, 29-32)

AM KARFREITAG „Um unsere Sünden“, Op. 79, (Brief vom Heiligen Apostel Paulus an die Philippiner 2, 8-9)

DIE ERSTE WALPURGISNACHT, PROFANE KANTATE Op. 60 Texte von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Ouvertüre: Das schlechte Wetter – Der Übergang zum Frühling.

  1. Es lacht der Mai – 2. Könnt ihr so verwegen handeln? –
  2. Wer Opfer heut zu bringen scheut – 4. Verteilt euch, wackre Männer, hier –
  3. Diese dummen Pfaffenchristen – 6. Kommt mit Zacken und mit Gabeln –
  4. So weit gebracht, dass wir bei Nacht – 8. Hilf, ach hilf mir, Kriegsgeselle –
  5. Die Flamme reinigt sich vom Rauch.

Wolfgang Rihm: FRAGMENTA PASSIONIS„Da schrien alle“ (Auszug)

ZWISCHEN LUTHER UND DER AUFKLÄRUNG

Felix Mendelssohn Bartholdy © IOCO
Felix Mendelssohn Bartholdy © IOCO

Am 11. März 1829 spielte der junge zwanzigjährige Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) in Berlin in Anwesenheit von König Friedrich-Wilhelm III von Preußen (1770-1840), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Heinrich Heine (1797-1856) und anderen Koryphäen die in völlige Vergessenheit geratene Matthäus-Passion, BWV 244 (1727) von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Das Konzert zog tausende von Zuhörer in die Berliner Singakademie. Daher wurde eine zweite Aufführung am 21. März, dem Geburtstag des Kantors aus Leipzig und eine dritte am Karfreitag, dirigiert von Mendelssohns erstem Lehrer, der in dieser Zeit sehr berühmte Komponist und Goethe-Freund Carl Friedrich Zelter (1758-1832). Im Alter von sieben Jahren zur protestantischen Luther-Konfession konvertiert, bemerkte Mendelssohn selbst sehr erstaunt, das wohl die größte christliche Musik des gesamten Abendlandes von ihm, einem Juden und einem Schauspieler von hugenottischer Herkunft, Philipp Eduard Devrient (1801-1877), der die Stimme von Christus interpretierte, wieder gefunden wurde.

Nach dieser einmaligen Wiederentdeckung beginnt die große Europa-Tournee, bei der er in Rom mit großem Interesse die Polyphonie von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) zum ersten Mal hörte. Von seinen fruchtbaren jungen Jahren an der Singakademie Berlin bis zu den späteren Aufträgen des Königs von Preußen für den Berliner Dom, hat Mendelssohn somit eine große Reihe von Motetten, Kantaten und anderen religiösen Werken in deutscher und lateinischer Sprache, a cappella oder mit Instrumenten-Begleitung  im Laufe seines kurzen Lebens geschrieben.

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Auf den Flügeln von Bach…

Johann Sebastian Bach Foto IOCO / HGallee
Johann Sebastian Bach Foto IOCO

Das große Interesse von Mendelssohn an der Musik von Bach bezeugt sich besonders für seine religiöse Musik, sowohl in ihren Formen (Oratorium, Kantate, Motette) als auch in ihrem Inhalt, der sich auf den Stil seines musikalischen Vorgängers bezieht, ohne aber jemals bis zum Pastiche zu gehen. So schrieb er 1831 an seinen Freund Devrient , wenige Monate nachdem er die Kantate Vom Himmel hoch fertiggestellt hatte: „Wenn ich mehrere religiöse Musikstücke geschrieben habe, dann weil ich das Bedürfnis danach verspürte. (…) Wenn mich die Texte genauso beeindruckt haben wie  den alten Bach, muss ich dann nicht mehr als glücklich sein: Denn du denkst doch wohl nicht, dass ich einfach nur seine Formen kopiert habe, ohne wirklich etwas wirklich eigenes von mir hinein-zustecken“. Der Bezug auf alte Musik durchdringt die Sätze uneinheitlich: Es fehlt in der Arie der Sopranistin, die über einer Orchestrierung von großer Leichtigkeit schwebt, halb luftig, halb flüssig, wie es im großen Eröffnungschor allgegenwärtig ist. Er zitiert den dem Werk titelgebenden Choral, der Luther zugeschrieben ist und von Bach viele Male benutzt wurde.

Lediglich die ersten beiden Teile des Oratoriums Christus, das Mendelssohn bereits 1844 ins Auge gefasst hatte, aber bei seinem Tod 1847 unvollendet blieb, sind teilweise vertont. Sie erinnern an die Passionen von Bach: Wir hören einen Solosänger (Sopran für dir Geburt Christi, Tenor für die Passion), der auch die Funktion eines Evangelisten-Narrator hat, dazu die großen Chöre (Turba bei Bach) und die Chöre, die die Gemeinde repräsentieren. Wie schön leuchtet der Morgenstern, das nach dem Trio der Heiligen drei Könige den ersten Teil beschließt, ist einer der berühmtesten Weihnachts-Choräle. Die weiter entwickelten Chöre des zweiten Teils stechen sehr hervor: Das …kreuzige ihn macht einen chromatischen spannungsreichen Einsatz, vorangetrieben vom Orchester, das einen großen Zorn voller Konsonanten zum Ausbruch bringt. Derjenige, der dem Schlusschoral vorausgeht, ist dagegen voller Zärtlichkeit und Beklemmung, ausgedrückt in langen Legato-Phrasen.

Mendelssohn orientierte sich wie auch Wolfgang Riehm (*1952) an den alten Formen, indem er sich auf die Motetten à cappella konzentrierte. Das Opus 69 von Mendelssohn, komponiert im Todesjahr seiner geliebten Schwester Fanny Hensel-Mendelssohn (1805-1847) enthält Hymnen, die sowohl mit  der Weihnachtszeit verbunden sind als auch mit der Idee der ewigen Ruhe. Das Fehlen von Instrumenten-Begleitung und der kontrapunktische Satz der Motette Herr, nun lässest / Nunc dimittis spiegeln in einer romantischen Farbe die alte Polyphonie wider, in der jede Zeile in Nachahmung desselben musikalischen Motivs für alle Stimmen wiederholt wird. Die Fragmenta passionis von Riehm beziehen sich auf eine entferntere Weise auf die gleiche Vergangenheit. Die grafische Kompositions-Schrift organisiert eine Polyphonie des „musikalisierten Sprechens“, die vom Flüstern bis zum schrillen Schreien reicht und die Konsonanten einer Menge, die nach einer schnell ausgeführten Kreuzigung strebt. Aber auch mit einer ungeheurigen Kraft zuschlägt, die der des Christus von Mendelssohn entspricht, wenn auch mit anderen musikalischen Mitteln. Die Hymne Am Karfreitag, ist ein kurzer à cappella Chor mit einem  Bezug zu Bach, frei von Künstlichkeit, der seine Ausdruckskraft aus seiner raffinierten Schreibweise bezieht.

Auditorium Rainier III / Mendelssohn Kantaten hier Hélène Carpentier, Sopran und Laurence Equilbey, Dirigent © Alice Blangero
Auditorium Rainier III / Mendelssohn Kantaten hier Hélène Carpentier, Sopran und Laurence Equilbey, Dirigent © Alice Blangero

Ein übernatürlicher Sabbat…

Die erste Walpurgisnacht basiert auf einem Text von Goethe mit dem Untertitel „Kantate“, der sich von Der Walpurgisnacht aus dem Drama Faust sehr unterscheidet. Dies ist einen Kantate, die abgesehen von ihrem großen Effektiv aus Solisten, Chor und Orchester nur wenige Punkte mit Vom Himmel hoch gemeinsam hat. Sie scheint eine Form des Heidentums zu verherrlichen und die  Partitur ist viel näher an einer fantastischen Oper als an religiöser Musik. Ursprünglich „dramatische Ballade“ genannt, greift Goethes Text alle Formen dieser Art auf: Mittelalterliche Zeiten, nächtliche Handlung im Wald, eine starke Präsenz des Heiligen, ein (falscher) fantastischer Sabbat. Das Thema des Textes, die Art und Weise, wie Mendelssohn es vertont, ohne jegliche Unterbrechung zwischen den Szenen, sowie die Art des Gesangs erinnern an die dramatischen Balladen für Solisten, Chöre und Orchester von Robert Schumann (1810-1856).

Die symphonische Dimension des Werks kommt von der Ouvertüre an zum Ausdruck, einem gewaltigen orchestralen Moment, das mehr als ein Viertel der Walpurgisnacht ausmacht. Es beginnt mit einem Schlag, verstörend und dramatisch! Wie in den fortlaufenden deutschen Opern von Carl Maria von Weber (1786-1826) oder Franz Schubert (1797-1828) variieren die Effektive ohne jemals den Eindruck geschlossener Szenen zu erwecken: Alles ist in der Handlung entsprechend miteinander verbunden! Dies findet in der Nacht eines heidnischen Ritus statt, der das Licht feiert, verboten von einem Christentum, das dunkler als das Heidentum ist. Die christlichen Wächter werden durch eine Dramatisierung ihrer eigenen Ängste in die Flucht getrieben, die jubelnden Heiden schmücken sich mit satanischen Attributen, um ihre bigotten Unterdrücker zu erschrecken.

Der Chor der Wächter, leicht, staccato, magisch, schnell, das Orchester mit den Höhen der Streicher und den Blasinstrumenten. Es erinnert an die große Magie im Ein Sommernachtstraum, die eines der stärksten stilistischen Kennzeichen des Komponisten darstellt. In eine ganz andere Richtung geht die Ermahnung zu dem falschen Sabbat, der die Ideen der fantastischen Sätze der Opern von Weber und Heinrich Marschner (1795-1861) aufgreift: Teuflische Triller der Blasinstrumente, viel Chromatik, Vokalsätze die die Schluss-Konsonanten fast krachmachend erklingen lässt: kommt! Aufspaltung des Chores in zwei ungemischte Chöre… Fehlte nur noch die Laut-Malerei, um auf eine Opernbühne transportiert zu werden! Dieser Moment erregte die große Bewunderung von Hector Berlioz (1803-1869), der das Werk sehr bewunderte und bemerkte, dass „sich dort in allen Richtungen die Wirkungen von Stimmen und Instrumenten kreuzen, sich widersprechen, mit einer scheinbaren Unordnung kollidieren, die der Höhepunkt der großen Kunst ist“.

  • Die Flamme lodre durch den Rauch!
  • Begeht den alten, heiligen Brauch,
  • Allvater dort zu loben!
  • Hinauf! Hinauf nach oben!
  • (Auszug aus Die erste Walpurgisnacht)
Auditorium Rainier III / Mendelssohn Kantaten hier Hélène Carpentier, Sopran; Hilary Summers, Alt; Stanislas de Barbeyrac, Ténor; Thomas Oliemans, Bariton und Laurence Equilbey, Dirigent © Alice Blangero
Auditorium Rainier III / Mendelssohn Kantaten hier Hélène Carpentier, Sopran; Hilary Summers, Alt; Stanislas de Barbeyrac, Ténor; Thomas Oliemans, Bariton und Laurence Equilbey, Dirigent © Alice Blangero

Der Sieg des Lichtes über die Dunkelheit!

Die Musik ist wie verklärt beim Erscheinen des leuchtenden C-Dur, mit dem das Licht Die erste Walpurgisnacht umhüllt, das an dieser Stelle an Die Schöpfung, Hob. XXI:2 (1798) von Joseph Haydn (1732-1809) erinnert. Die musikalische Schrift wird religiöse, fast im Choralstil, der dann mit dem Glauben der Heiden in Verbindung gebracht wird. Wenn sich Mendelssohns religiöse Musik an Bachs Vermächtnis anlehnt, ist jedoch sein Christentum nicht das eines Lutheraners des 17. Jahrhunderts. Er war u.a. mit dem aufgeschlossenen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768-1834) befreundet und sein Oratorium Christus glänzt mit der gleichen Klarheit wie das der Heiden in der Nacht… Er betont unzweideutig den Sieg des Lichts über den Obskurantismus und lässt es mit voller Kraft bersten im tutti des triumphalen Ende.

„Ma fin est mon commencement“ opus 2

Bruno Mantovani, der französische Komponist und künstlerischer Leiter des FESTIVAL PRINTEMPS DES ARTS DE MONTE-CARLO, setzt das im Jahre 2022 begonnene Thema „Mein Ende ist mein Anfang“ nach einem Rondo von Guillaume de Machaut (um 1300-1377) mit einem Opus 2 fort. Um gewissermaßen eine Konfrontation zwischen dem ersten und dem letzten Werk eines jeweiligen Komponisten und Schöpfer zu definieren. Das Festival, das vom 8. März bis 2. April 2023 stattfindet, bietet ein abwechslungsreiches  Programm unter anderem mit amerikanischer Musik: Aaron Copland (1900-1990), Elliott Carter (1908-2012), Steve Reich (*1936) und Betsy Jolas (*1926). Gleichzeitig öffnet es sich auch für andere künstlerische Ausdrucksformen wie Kino, Literatur und Malerei. Eine Ausstellung ist dem amerikanischen Maler Robert Guinan (1936-2016) gewidmet, der besonders für seine Porträts der turbulenten New Yorker Jazz-Szene, den verrauchten Bars, den Schwarzen und Ausgeschlossenen bekannt ist. Reservation: printempsdesarts.mc  +377 92 00 13 70.

Auditorium Rainier III / Mendelssohn Kantaten hier Orchestré insula, Chor accentus und Laurence Equilbey, Dirigent © Alice Blangero
Auditorium Rainier III / Mendelssohn Kantaten hier Orchestré insula, Chor accentus und Laurence Equilbey, Dirigent © Alice Blangero

12. März 2023 - Mendelssohn - Konzert im Auditorium Rainier III, Monte-Carlo

Auch hier sind ganz besondere Monte-Carlo-Gewohnheiten zu berücksichtigen: Wenn wir richtig verstanden haben, kann man nicht nach einem netten Sparziergang das Auditorium erreichen! Nein! Es geht nur mit dem Auto oder einer Taxi, vielleicht noch mit einem Linienbus! Denn der Saal ist unterirdisch in einem Tunnel gebaut zusammen mit einer stinkenden Schnellstraße. Aber das Meer daneben wogt fröhlich dahin, jedoch das erkennt man erst im Foyer. Endlich können wir von der offenen Terrasse aus salzige Meerluft schnüffeln und fast die Wellen zärtlich streicheln, denn ansonsten kommt man leider in dieser paradoxen Stadt nicht an den Mittelmeerstrand.

Eröffnet wird das Programm mit der Kantate Vom Himmel hoch: In der wir hören und uns sagen können, dass Mendelssohn nicht nur die Musik des Leipziger Kantors rehabilitiert, gefördert und verbreitet hat. Auch ist es heute noch sehr schwer vorstellbar: Dass Bach fünfzig Jahre nach seinem Tod schon vergessen wurde! Der blutjunge Komponist schreibt eine kleine kurze Kantate, die aussieht wie aus einem Oratorium von Bach. Nach einer jubelnden Einleitung zitiert Mendelssohn genau den von Bach so oft verwendeten lutherischen Choral, der auch dem Werk seinen Namen gibt. Etwas problematisch erscheint der Orchester/Chor-Zusammenhalt, aber dennoch erhält er sein klares erhaltenes Anfangstempo. Die Interventionen des holländischen Bariton Thomas Oliemans, der an stimmlicher Schlankheit gewonnen hat und der jungen französischen Sopranisten Hélène Carpentier erhellen diese lebendige Hommage des jungen Mendelssohn an sein illustres Vorbild, während die 36 Sänger des accentus-Chors endlich ihre Spuren in der nicht sehr großzügigen Akustik des Auditorium Rainier III gefunden haben.

Es folgt ein erster Auszug aus dem Oratorium Christus, das 1844 begonnen, aber beim Tod von Mendelssohn 1847 unvollendet geblieben ist und auch wiederum Bach und seine Passionen hervorruft. Nach einem kurzen Rezitativ von der Sopranistin gesungen, gesellen sich diesmal der Bariton und der französische Tenor Stanislas de Barbeyrac, desgleichen ein Bass des Chors zu einem erstaunlichen Trio, das an die Geburt des neuen Königs der Juden erinnert. Allmählich überwältigt uns jedoch das Gefühl einer gewissen zu großen Einheitlichkeit in der Direktion, eines zu wenig nuancierungsreichen Chorausdrucks, der in einer sogenannten weichmachenden deutschen Diktion bleibt. Besonders deutlich wird dies in der à cappella gesungenen Motette Nunc dimittis. Es bedarf eines kurzen Ausflugs in das zeitgenössische Repertoire – ein Auszug aus Fragmenta Passionis von Rihm – bis der accentus-Chor aus seiner Erstarrung zu kommen scheint, um zuerst sehr leise zu flüstern und dann plötzlich sehr beeindruckende brutale schrillende Schreie lauter und lauter kreuzige ihn, kreuzige ihn! ausstieß. Der gleiche Ruf aus der Menge findet sich im zweiten Auszug im Oratorium Christus von Mendelssohn wieder, aber auch zu sehr abgeschwächt. Der erste Teil das Konzerts endet mit einer kurzen Passage à cappella der Sechs Sprüche, die an Karfreitag erinnern.

Radikaler Wechsel der Tonalität mit einem der Meisterwerke der ersten deutschen Romantik, der sehr profanen Kantate Die erste Walpurgisnacht, die von einem Text von Goethe inspiriert ist. Diesmal kehrt Mendelsohn Bach den Rücken und komponiert in den Fußstapfen von Weber und Schumann ein gewaltiges Fresko, das eine übergroße Orchester- und Chorbesetzung sowie drei Gesangssolisten in einem unaufhörlichen Wirbelsturm umfasst. Schon in der stürmischen Ouvertüre zeigt sich die Dirigentin herrisch, manchmal auch sehr vertikal und das insula-Orchestra zeigt seine vielen Farb-Nuancen: Fruchtige zarte Streicher und wilde Blas- und Schlag-Instrumente nach jeglichem Belieben. Die folgenden neun Nummern wechseln sich mit fröhlichen Oden über die Natur bis zu dramatischen Passagen hin: Die Leichtigkeit des ersten Chors der Druiden Es lacht der Mai wird der nächtliche Schrecken der Wächter Kommt mit Zacken und mit Gabeln folgen, der erst durch die abschließende Beschwörung der Druiden in einem schillernden Choral besänftigt wird.

Unter dem Quartett der Solisten bringt die Sopranistin Hélène Carpentier viel Demut, Sensibilität, Emotion und Zartheit in das religiöse Repertoire. Aus dieser bewegenden Linie kommen auch die mit Leben erfüllten Stimm-Ausbrüche umso besser heraus. Das solare Timbre wird von einem leichten Vibrato getragen und schwimmt gewissermaßen leicht über den Orchester-Fluten. Die andere stimmliche Hauptstütze des Abends ist der Tenor Stanislas de Barbeyrac, der in großartiger Form aufgeladen durch die Kraft des Themas ist. Er entfaltet die Autorität des Evangelisten, eines Tenors mit der Projektion einer fast baritonalen Sicherheit! Mit einer Technik die hohen Töne von oben anzugreifen, immer strahlend verbunden mit einer äußerst engagierten Deklamation: Um eine intensive Klangkraft fernab von jeglicher Dezibel-Manie zu erreichen. Während sich seine Stimme trotzdem auf die hohe Spitze des großen tutti niederlässt!

Der Bariton Thomas Oliemans, der in ausgewählten Ausschnitten oft eingesetzt wird, nimmt sich die Zeit, seine Stimme und seine Deklamation während der Rezitative zu patinieren, um sie mit einem zinnenförmigen erhöhten Vibrato sehr melodiös zu machen. Er nimmt schnell eine Art religiöse und vokale Vaterschaft an, entlehnt dem Fagott für sein warmes und eindringliches Timbre: Zwielichtig, autoritär, leidenschaftlich, aber immer in der Lage das Chor-Kollektiv sicher zu führen. Schließlich überrascht die große englische Altistin Hilary Summers auf den ersten Blick, denn so sehr nähert sie sich in der Tonfarbe an einen Counter-Tenor. Die Stimme ist fein, mit einer mattsilbernen Farbe und kräftig zugleich, wird dennoch zusätzlich durch eine effektive Kontrolle des Vibratos gehalten und erweitert. Ihre großen Szene Könnt ihr so verwegen handeln? ist eine einmalige Interpretation vom stimmlichen sowie vom schauspielerischen, wenn die Sängerin sich verwegen über die gesamte Bühne bewegt ohne eine Partition in der Hand zu haben. Wie auf der Opernbühne!

Auditorium Rainier III / Mendelssohn Kantaten hier Laurence Equilbey, Dirigent © Alice Blangero
Auditorium Rainier III / Mendelssohn Kantaten hier Laurence Equilbey, Dirigent © Alice Blangero

Die französische Dirigentin Laurence Equilbey aktiviert sowohl energetische als auch geometrische Gesten. Ihre starken Kopfbewegungen markieren ihr persönliches und körperliches Engagement in Richtung der symphonischen und chorischen Massen und bringt die Eingriffe der verschiedenen Instrumenten-Gruppen, um insbesondere die Blech-Instrumente immer wieder in den richtigen Gang zu bringen. Die Dirigentin wechselt abwechselnd  mit der linken oder rechten Hand, um den Klang sowohl auf den  Boden sowie in den Himmel zu werfen. Der Takt deckt den Raum zweier Schichten ab, die sie durch ihr Können in der Proportionierung vereint, indem sie Mikro-Impulse und reichlich abgerundete musikalische Signale kombiniert.

Das Insula-Orchestra ist strahlend, kraftvoll und leuchtend klar in der Abfolge seiner Sequenzen und seinen wunderbaren tönenden Wellen bis hin zu den regelmäßigen Intervallen. Die Bläser-Gruppe nehmen die Farben der morgendlichen Sonne an, während sich die tutti majestätisch ausbreiten, ohne das die tutti vom accentus-Chor überdeckt werden. Der Gesamtklang: Orchester und Chor, übersetzt die doppelte religiöse Dimension des Programms aus Glanz und Strenge vereint, insbesondere im Bekenntnis zum Glauben. Der Kontrapunkt kreuzt Chor- und Instrumental-Linien in eine Osmose, die auf dem Inneren und gegenseitigen Zuhören jedes Musikers sowie auf den proportionalen Gesten der musikalischen Leitung ankommt.

Der accentus-Chor unter dem französischen Chorleiter Frank Markowitsch zeigt sich ausgewogen, homogen in jeder Sängergruppe und sowie auch insgesamt: Zärtlich und auch durchscheinend. Die Klangfülle immer wieder und wieder zu injizieren wie eine unendliche Spirale: Ein Schreckensträger, der dank der grossen Plastizität der deutschen Sprache mit ungeheurem Getöse, Krachen, Knallen und herzzerreißenden ängstlichen Rufen, verursacht wegen  des teuflischen Getriebes in der Nacht! Gestützt auf sein dramatisches Potenzial, das auch im Opernrepertoire zu Hause ist, kann der Chor mit Leichtigkeit dieses kleine Volk der keltischen Wälder, Elfen, Gnome und Feen mit einem übernatürlichen Klima ohne jegliches Problem interpretieren. (PMP/30.03.2023)