Mörbisch, Seefestspiele Mörbisch, Anatevka - Wenn ich einmal reich wär.., IOCO Kritik, 30.07.2014

Mörbisch, Seefestspiele Mörbisch, Anatevka - Wenn ich einmal reich wär.., IOCO Kritik, 30.07.2014
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Musical Anatevka von Jerry Bock Aufforderung zu Menschlichkeit, Humor und Aufbruch

Panorama des Bühnenbilds Anatevka © Seefestspiele Mörbisch
Panorama des Bühnenbilds Anatevka © Seefestspiele Mörbisch

Sommerzeit ist Festspielzeit.  Millionen von Menschen besuchen jeden Sommer spannendes, originelles, kultiges Theater. 600.000 Besucher verzaubert seit 1913 jedes Jahr der Belcanto in der Arena di Verona, Königin aller Festspiele. 58.000 verklärte Wagner-Fans besuchen seit 1876 jährlich die Festspiele Bayreuth. Doch auch die Seefestspiele Mörbisch, malerisch am Neusiedler See, sind mit großen Operetten- oder Musicalproduktionen in der Liga großer Festspiele seit Jahren fest etabliert. 2014 wird dort vom 10. Juli bis 23. August das melancholische Musical Anatevka  aufgeführt.

Seefestspiele Mörbisch / Anatevka / Bühne und Seekulisse © IOCO
Seefestspiele Mörbisch / Anatevka / Bühne und Seekulisse © IOCO

200.000 Besucher jährlich, 6.000 open-air Besucherplätze, eine riesige 2.600m² fassende Bühne und 62 Meter Portalweite sind markante Eckpunkte der Seefestspiele Mörbisch. 140 Lautsprecher ermöglichen „richtungsbezogenes Hören“. Orchester und Chor produzieren aus einem separierten Orchestersaal ein Klangerlebnis  in Studioqualität. Dazu Wasserfontänen, 16 Meter hohe Kulissen und mehr… Dies alles ohne öffentliche Subventionen!

Anatevka und Wasserfontänen © IOCO
Anatevka und Wasserfontänen © IOCO

Als Anatevka 1968 im Hamburger Operettenhaus mit Shmuel Rodensky in der Hauptpartie seine deutsche Uraufführung hatte, war es bereits weltbekannt; als Fiddler on the Roof hatte es 1964 in New York seine spektakuläre Uraufführung. Choreograph und Regisseur des Stücks, Jerome Robbins, hatte bereits mit Leonard Bernsteins West Side Story (1957) Welterfolge produziert. Joseph Stein schrieb die Handlung zu Anatevka, Jerry Bock die den Ostjuden so typische Musik und Sheldon Harnick die Liedtexte.

Seefestspiele Mörbisch / Anatevka Fiedler auf dem Dach © Seefestspiele Moerbisch
Seefestspiele Mörbisch / Anatevka Fiedler auf dem Dach © Seefestspiele Moerbisch

Anatevka alias Fiddler on the Roof ist die 1905 entstandene Geschichte über Menschlichkeit, Humor und Vertreibung. Der 1859 in der Nähe von Kiew geborene Yakow Rabinowitz beschreibt in seinem Buch Tevje, der Milchmann Leben und Vertreibung einer jüdischen Enklave aus ihrer Heimat, dem ukrainischen Ort Anatevka, zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Russischen Zarenreich gehörig. Rabinowitz nahm später den Künstlernamen Scholem Alejchem an: Hebräisch für „Friede sein mit Euch“. Als sein Stück um 1916 erstmals erschien hatte Scholem Alejchem wegen judenfeindlicher Pogrome seine russische Heimat längst verlassen. In New York fand der Bewahrer jiddischer Kultur seine neue Heimat und literarischen Erfolg. Sein Buch „Tevje“ war die Basis für Stein, Bock, Sheldon und Robbins und ihr erfolgreiches Musicals. Für den deutsche Sprachraum bedeutet Anatevka mehr als ein Musical: Nach Jahren der Unsicherheit beflügelte Anatevka  seit 1968 im deutschen Sprachraum den entspannten Umgang mit jüdischen Künstlern und jüdischer Kunst.

Seefestspiele Mörbisch / Anatevka Tevje der Milchmann © Seefestspiele Moerbisch
Seefestspiele Mörbisch / Anatevka Tevje der Milchmann © Seefestspiele Moerbisch

Auf der großen Seebühne Mörbisch zeichnen Regisseur Karl Absenger und sein Bühnenbildner Walter Vogelweider eine mitreissende, von Menschlichkeit, Humor und Wehmut geprägte Inszenierung. Ein authentisch jüdisches Schtetl Anatevka des Jahres 1905, mit Holzhäusern, Türmen und seinen Bewohnern in damaliges Leben stimmt die Besucher ein: Betende orthodoxe Juden, Seilchen springende Kinder, lebhafte Frauen. Der Milchmann Tevje (Gerhard Ernst) erklärt mit Beginn des Stückes die Tradition als zentrales Überlebensprinzip der Ostjuden in den schon damals brisanten Zeiten. Tradition, so Tevje, erhält Gleichgewicht, Friede und Eintracht der jüdischen Gemeinde, Tradition hilft, mit dem schweren Leben fertig zu werden. Sanfter jiddischer Humor ist  in der Inszenierung allgegenwärtig, Tevje klagt: "man lernt hebräisch nur schwer als Kind". Ein Fiedler spielt dazu in luftiger Höhe Klezmermusik. Tevjes Frau Golde (Dagmar Schellenberger) macht sich derweil  kauzige Gedanken über möglichst gute Partien für ihre Töchter; „..willst Du einen mit Haaren, so heirate einen Affen..“; und beschwört die Heiratsvermittlerin Jente (Maria Mallé): „Jente, o Jente, bring uns einen Mann..“. Während Tevje seine Alltagssorgen mit Hilfe des Himmels heilen möchte, „Herr, schick uns die Medizin, die Krankheit haben wir schon!“ träumen die heiratsfähigen Töchter (Chava, Iris Graf; Hodel, Maria Ladurner; Zeitel, Bele Kumberger) von Heiratswünschen, welche denen der Eltern so gar nicht entsprechen. Bedrohliche Pogrom-Meldungen aus dem Nachbardorf, dort wurden alle Juden vertrieben, gehen unter im bunt gelassenen dörflichen Treiben. Melancholisch jiddischer Humor mit häufigem wie liebevollem Widerspruch zum „guten Buch“, der Bibel, machen die Inszenierung zu einer Erfahrung höchster Toleranz: „Moses hat allerhand geredet...“; „Gott hat gesagt, es werde Licht! …Aber nicht zu Dir!“; „Was lehrt die Bibel? Traue nie deinem Arbeitgeber!“; „Gott, wenn Du in der Nähe bist, mein Pferd lahmt noch!“.

Seefestspiele Mörbisch / Anatevka Tanz der Dorfbewohnerinnen © Seefestspiele Moerbisch
Seefestspiele Mörbisch / Anatevka Tanz der Dorfbewohnerinnen © Seefestspiele Moerbisch

Doch dann häufen sich im Leben des Schtetl Anatevka unerwartete Wendungen: Tochter Zeitel fleht darum, nicht den vom Vater erwählten Mann heiraten so hören; und wird erhört. Die dann folgende Hochzeitsfeier Zeitels mit dem armen Schneider Mottel (Erwin Belakowitsch) wird jedoch von marodierenden Soldaten gestört. Auch die beiden anderen Töchter von Tevje setzen ihre Liebesheiraten, selbst mit Andersgläubigen durch. Doch die Pogrome bedrohen nun auch Anatevka, die jüdischen Bewohner müssen ihr Dorf binnen drei Tagen verlassen. Tevje und die Dorfbewohner stellen sich den Gefahren pragmatisch wie weise. Sie entscheiden nicht zu kämpfen sondern Anatevka auf immer zu verlassen. „Was ist Anatevka? Nur ein Dorf! Vielleicht haben wir Juden deshalb immer einen Hut auf!“ Einer: „Wir ziehen nach Amerika!“, ein anderer, „Wir ziehen ins gelobte Land!“. Das Musical endet mit dem Abschied einer immer um körperliche wie kulturelle Existenz ringenden Dorfgemeinschaft aus Anatevka. Doch die Bewohner werden von Vertreibung nicht nieder gerungen: "Anatevka ist nur ein Dorf!"

Seefestspiele Mörbisch / Anatevka Tanz der Flaschentraeger © Seefestspiele Moerbisch
Seefestspiele Mörbisch / Anatevka Tanz der Flaschentraeger © Seefestspiele Moerbisch

Imposante Kulissen verwandeln die riesige Seebühne von Mörbisch in das Schtetl Anatevka. Originelle, große und kleine Regieeinfälle, sprachlicher Charme und perfekte, textverständliche Akustik nehmen den Besucher mit. Die Inszenierung breitet die großen wie kleinen Geschichten jüdischen Alltags filigran aus. In Anatevka mischt sich  menschlicher Alltag immer mit List, Humor und lebensfrohem Überlebenssinn, dem  kraftmeierisches „Auf-den-Tisch-hauen“ wesensfremd ist, den nur das Streben um eine bessere, harmonische Zukunft leitet.

Die Vorstellung endet gegen 24 Uhr. Ein buntes Feuerwerk vor der nächtlichen  Naturkulisse des Neusiedler See verabschiedet tausende Besucher stimmunsvoll wie nachdenklich aus Anatevka.          IOCO / Viktor Jarosch / 31.07.2014

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