Minden, Stadttheater Minden, Götterdämmerung - Der Ring des Nibelungen, IOCO Kritik, 24.09.2019
Götterdämmerung - Ringzyklus am Stadttheater Minden
- "Starke Scheite schichtet mir dort!" -
von Sebastian Siercke / Patrik Klein / Karin Hasenstein
Minden, die Stadt im Osten Nordrhein-Westfalens, die hauptsächlich für ihren Dom und die Nähe zur Porta Westfalica und dem Kaiser Wilhelm Denkmal bekannt ist, macht in diesem Jahr erneut auf sich aufmerksam mit Werken Richard Wagners im beschaulichen 528 Zuschauer fassenden Stadttheater an der Weser. Nicht nur eine Produktion, sondern gleich vier Werke des berühmten deutschen Komponisten stehen erstmalig auf dem Programm, nachdem sie in den Jahren zuvor jeweils für sich alleine neu aufgeführt wurden.
Götterdämmerung - Erster zyklischer Ring in Minden - Fulminantes Ende
2018 fasste man folgerichtig den wagemutigen Entschluss, Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen in 2019 zyklisch zu präsentieren. Das ist für ein Haus dieser Größe wahrlich "ein Wunder". Und das schien noch nicht genug, denn man entschied, 2019 sogar zwei Ring-Zyklen innerhalb von je 11 Tagen aufzuführen. So etwas kann nur funktionieren, wenn alle normalen Rahmenbedingungen einer Kleinstadt ausgehebelt werden und besondere Energien am Werke sind. Dem Richard Wagner Verband Minden ist dies in ungeahnter Weise vorzüglich gelungen, alle Kräfte der Stadt zu bündeln, Gelder durch Sponsoren aufzutreiben und vorhandenes Personal zu nahezu übermenschlichen Leistungen zu motivieren. Richard Wagner hätte das sicher gefallen.
IOCO - Kultur im Netz ist beim ersten Ringzyklus 2019 vor Ort, kann die ganz besondere Atmosphäre erleben, von den Ereignissen berichten. Sowohl in den sozialen Medien, als auch bei den Kollegen von ioco-wordpress-production-assets.s3.eu-central-1.amazonaws.com, dreht sich für die Zeit, in der auf dem Dach des Stadttheaters eine Wagnerflagge weht und die Stadt voller Besucher erscheint, alles um den berühmten Komponisten aus Leipzig. Ein Rahmenprogramm mit Vorträgen und Ausstellungen lockt die einquartierten Besucher und die Einwohner von Minden zu umfangreicher Beschäftigung mit dem Komponisten. Ganz Minden ist plakatiert mit Ringmotiven. Wotans Auge scheint einen jeden jederzeit und überall zu verfolgen.
Am Nachmittag der Vorstellungen erblickt man gut gekleidete Zuschauerinnen und Zuschauer, die durch den Ort schlendern und zu den hell leuchtenden weißen Fassaden des schmucken Stadttheaters pilgern. Man erblickt Damen in Abendgarderobe, Herren in Smoking und sogar Gehrock, erlebt auf dem Balkon des Stadttheaters den Posaunenchor der Schaumburg-Lippischen Landeskirche, der ganz wie in Bayreuth mit jeweils drei Fanfaren die Pausen beschließt. Im Foyer wird man von freundlichen Helfern begrüßt und bekommt ein Programmheft, das Maßstäbe setzt und allerlei Merchandising-Produkte angeboten. Man darf sich beinahe wie auf dem Grünen Hügel in Oberfranken vorkommen.
Alles das wäre wenig, wenn nicht auf der Bühne aufregendes, spannendes Musiktheater gespielt und dazu auf einem hohen Niveau musiziert würde.
Man betritt den Zuschauerraum und steht vor der Bühne. Kein Orchestergraben trennt das Publikum vom Geschehen. Die Bühne wird umrahmt von einem großen Quadrat, in das ein Kreis eingestellt ist, was unmittelbar an die Gestaltung der LP-Boxen des alten Solti - Ringes erinnert. Die eigentliche Bühne, die Fläche, die dort hauptsächlich bespielt wird, hat die Grundfläche eines wohlbemessenen Wohnzimmers. Das Orchester sitzt dahinter, auf der Bühne, abgeteilt durch einen Gazevorhang, der auch als Projektionsfläche für die handlungsunterstreichenden Videos dient.
Das Stadttheater Minden hat nicht nur kein eigenes Ensemble, es hat auch kein eigenes Orchester. Dazu kommt die Nordwestdeutsche Philharmonie aus Herford, ein Landesorchester Nordrhein-Westfalens, ein Klangkörper aus der ersten Liga der deutschen Orchesterlandschaft.
Die Nordwestdeutsche Philharmonie hat unter der Leitung von Frank Beermann einmal mehr ihren Ruf als Spitzenorchester bestätigt. Absolut souverän und hoch konzentriert führte Beermann die 80 Musiker durch die über fünf Stunden Musik. Dabei lotete er gekonnt alle dynamischen Anforderungen der Partitur vom zarten Pianissimo des Englischhorn zu Beginn im Gesang der Nornen über das Forte im vierstimmigen Herrenchor in zweiten Aufzug bis hin zum Fortefortissimo im Trauermarsch im dritten Aufzug. Die scharfen Staccato-Akkorde im schweren Blech ließen den Zuschauerraum erzittern und man wünschte sich dieses Orchester in einem größeren Theater oder Konzertsaal. Die NWD Philharmonie überzeugte mit großem Farbenreichtum in den Holzbläsern ebenso wie mit außerordentlicher Brillanz im Blech. Insbesondere die Hörner, zum Beispiel der Siegfriedruf, ein heikles Horn-Solo sowie die zusätzliche Bühnenmusik ließen keine Wünsche offen.
Frank Beermann begleitete die Solisten einfühlsam und mit großer Kenntnis der Partitur. Dass er dabei die Solisten im Rücken hatte und nicht wie sonst im Opernbetrieb vor sich auf der Bühne, führt dazu, dass diese das Dirigat nur vom Monitor abnehmen können, was für die Sänger nicht so ungewöhnlich ist, was aber auch bedeutet, dass der Dirigent die Sänger nicht sieht. Trotzdem waren alle Einsätze sicher und präzise und die gesamte Darbietung wirkte enorm harmonisch und perfekt eingespielt.
Auch die Dynamik innerhalb des Orchesters hat Beermann gut ausbalanciert. Wo Solostimmen, z.B. Flöte oder Klarinette, vorkommen, waren sie zu hören und gingen nicht im Orchesterapparat unter. Zauberhaft auch die Harfe zum Ende des dritten Aufzuges.
Als Fazit bleibt festzustellen: dieser wunderbare Klankörper sollte viel häufiger große romantische Oper spielen!
Die Inszenierung des Abends gestaltet Gerd Heinz, der hauptsächlich vom Sprechtheater kommt und offensichtlich eine ganz andere Herangehensweise ans Musiktheater hat, als der übliche Opernregisseur. Hier wird das Werk auf die Bühne gebracht. Kein Umdeuten in abstruse oder andere Richtungen, kein „Wir verlegen die Handlung in eine andere Zeit“, die dann gerne mit wohlbekannten Uniformen bebildert wird, keine abgegriffene Kapitalismuskritik. Diese Götterdämmerung spielt im Jetzt. Ein zeitloses Irgendwann-Jetzt, sind doch Handlung und Aussage des Werkes ebenso zeitlos und allgemeingültig. Jede kleinste Bewegung, jede Geste, jedes Minenspiel ist feinst durchdacht, die Sänger auf der Bühne dadurch fast noch mehr Schauspieler als Sänger. Ein solches Zusammenspiel von Musik und Geschehen auf der Bühne hat man selten erlebt!
Da der kleine Orchestergraben nicht als solcher benutzt werden kann, ragt in ihn die Bühnenkonstruktion hinein, mit rege bespielten Treppen nach unten ergibt sich eine ungewohnte Dreidimensionalität der Bühne. Das Publikum sitzt quasi mitten im Geschehen, unmittelbar vor den Protagonisten des Dramas auf der Bühne.
Die Sängerriege ist exquisit besetzt. Große Stimmen sind es – allesamt. Siegfried und Brünnhilde, zwei Mörderpartien, die so manchen Weltstar gelegentlich in die Knie zwingen, werden hier dargebracht, als gäbe es kaum Leichteres zu singen auf der Welt.
Thomas Mohr gibt nicht nur den Siegfried in der Götterdämmerung, nein er ist an allen vier Opernabenden dabei. Beim Rheingold gibt er den Loge, bei Die Walküre schlüpft er in den halbstarken Siegmund, in Siegfried ist er der junge Gesandte Wotans, der Brünnhilde aus magischem Schlaf erweckt. Thomas Mohr singt und gestaltet mit durchschlagskräftigem Tenor, der genauso die zarten Partien fein nuanciert bieten kann, wie die wütenden Ausbrüche ohne dabei forciert oder auch nur angestrengt zu klingen. Eine schier unglaublich große Leistung!
Dara Hobbs als Brünnhilde überflutet das Werk mit ihrem wundervoll geführten Sopran, der bruchlos von der Tiefe bis in die Spitzen kommt und dabei noch beachtliche Ausdrucksmöglichkeiten bietet. Dazu kommt bei ihr eine bewundernswerte Textverständlichkeit. Selbst wenn man den Text nicht mittlerweile auswendig kennt, kann man jedem Wort folgen. In der zweiten und dritten Szene des dritten Aufzuges, gegen Ende eines sehr langen Abends, präsentiert Dara Hobbs ihr “Starke Scheite schichtet mir dort”, als hätte sie soeben frisch ausgeruht die Bühne betreten. Mit großer Ruhe und reichlich Reserven singt sie diese lange und anspruchsvolle Szene. Ihr dramatischer Sopran ist extrem fokussiert und perfekt geführt und auch in der hohen Lage noch warm timbriert. Dara Hobbs begeisterte das Publikum mit ihrer kontinuierlich grosartigen Leistung und erhielt verdient unzählige Bravi.
Renatus Mészár als Gunther, der genau wie Thomas Mohr an jedem der vier Abende zu sehen und zu hören ist, nämlich als Wotan und Wanderer bildet mit Magdalena Anna Hofmann als Gutrune, einen stimmlich wie darstellerisch sehr kontrastreichen Gegenpart zu dem Heldenpaar. Die Schwärze in seiner Stimme als Wotan und Wanderer reduzierend, kann Renatus Mészár als Gunther die schlankeren Töne wirkungsvoll erklingen lassen. Auch Magdalena Anna Hofmann, die in der Walküre bereits als lyrisch-dramatische Sieglinde überzeugt hat, gelingt eine eindrucksvolle Interpretation der Gutrune. Das Gibichungenpaar steht Brünnhilde und Siegfried in der Bühnenwirkung in nichts nach.
“Schläfst du, Hagen, mein Sohn?” Nein, ganz und gar nicht! Andreas Hörl ist als Hagen stets hellwach. Sein voluminöser Bass ist gut geführt und er verleiht dem Widersacher Siegfrieds mit viel Variabilität eine große Glaubwürdigkeit. Andreas Hörl verfügt über einen dunkel gefärbten Bass, den er sehr flexibel einzusetzen weiß. Er scheut sich nicht, die ganze Bandbreite von Schönklang bis hin zu “schmutzigen” Tönen auszunutzen und erzielt damit eine große Überzeugungskraft. Nicht nur stimmlich beeindruckt Hörl, auch darstellerisch besticht er durch enorme Bühnenpräsenz vom ersten bis zum letzten Moment, als Hagen erkennen muss, dass der Ring an die Rheintöchter verloren ist.
Im zweiten Aufzug tauchen im Hintergrund in den oberen Bereichen die Mannen der Gibichungen auf. In dunkler Kleidung gehalten, stehen sie hinter dem Gazevorhang und singen kraftvoll und artikulationsgenau von der Jagd und vom Kampf. Der Herrenchor setzt sich zusammen aus dem Wagner Chor Minden 2019 und dem Ersten Deutschen Freien Opernchor (Coruso), Einstudierung Thomas Wirtz.
Sensationell an diesem denkwürdigen Abend der Ringvollendung ist die Waltraute von Kathrin Göring. Als Fricka im Das Rheingold und Die Walküre, in der Kathrin Göring zusätzlich eine der acht Walküren übernahm, fegt sie panisch und angstzerfressen auf und über die Bühne und bietet eine Dramatik in der Stimme, wie man sie selten live erleben kann. Schauer konnten einem bei ihrer Erzählung über den Rücken laufen, eine ganz große Leistung!
Bösewicht und Nibelungenzwerg Alberich, dargestellt von Heiko Trinsinger, lässt seinen schwarz gefärbten Bariton wort- und stimmgewaltig, anknüpfend an die Leistung beim Rheingold und im Siegfried verströmen.
Tiina Pentinen, Christine Buffle und Julia Bauer als Nornen und Rheintöchter runden das Ensemble sehr wohlklingend und ansehnlich ab.
Folgerichtig ist das Publikum nach dem langen Abend enthusiastisch infiziert, dankt mit Jubel, herzlichem Applaus, Bravorufen und "Standing Ovations" den über sich hinausgewachsenen Musikern und Sängern am Stadttheater Minden.
Man mag den Beteiligten und den Verantwortlichen wünschen, dass der Kater nach solch berauschenden Stunden und Tagen schnell vergehen wird und dass man sich für alle Wagnerfreunde in und um Minden in den nächsten Jahren überlegt, doch erneut ein bislang noch nicht aufgeführtes Werk in Minden zu wagen. Wie wäre es mit einem Parsifal?
---| IOCO Kritik Stadttheater Minden |---