MÉLISANDE - klangvolle Melancholie ohne Worte, IOCO Essay, 02.11.2021
« Et tous ces souvenirs, c’est comme si j’emportais un peu d’eau dans un sac de mousseline. »Maurice Maeterlinck (1862-1949)
ein poetisches Essay von Peter Michael Peters
Mélisande - oder das Geheimnis der Männer
Offenbar keine Frage! Eine banale Geschichte, ein gemeinsames Trio: Der Ehemann, die Ehefrau, der Liebhaber, eine Affäre von Ehebruch! Nehmen wir die Wälder, das verlorene Schloss, die Nebel des Nordens, die geheimnisvollen Brunnen. Dazu das falsche Mittelalter und den Bataclan von 1900, der nach der Blütezeit einer vertrauten Symbolik riecht und betrachten wir gleichzeitig die Struktur: Ein Tenor mag eine Sopranistin, an der Leine gehalten von einem Bariton - das alles nach dem unveränderlichen Gesetz der Oper, schon von George Bernard Shaw (1856-1950) definiert. Ein Dreieck, genauer gesagt noch mit der Struktur von Tristan und Isolde (1865) in Verbindung zu bringen, von der wir wissen, dass Claude Debussy (1862-1918) die Geschichte neu schreiben wollte. Denn der Ehemann-Bariton und Tenor-Liebhaber sind verbunden und es ist daher Ehebruch und Inzest! Die Stimmen der beiden Männer, die hohe und die tiefe, werden durch ein Verhältnis des Altersunterschiedes und hierarchischer und familiärer Abhängigkeit gleichgesetzt: Tristan, Neffe und Vasall von König Marke. Pelléas, Halbbruder von Golaud, der die affektive Macht im Königreich von Allemonde führt. Eine verbotene Begegnung zwischen zwei gleichaltrigen jungen Leuten, einer eifersüchtig, der andere naiv: der Tod ist unausweichlich für die Liebenden. Transparente Struktur! Doch alles ist verschoben, nicht nur Frankreich und Teutonia, nicht nur die melodische Kontinuität und thematische Behandlung, sondern auch der kulturelle Spiegel, die die beiden Werke wiederspiegelt. Pierre Boulez (1925-2016) beendet damit einen Text über Pelléas: „Kein Zweifel für mich: Er steht auf dem höchsten Niveau, welche von einer Kultur erreicht wird, ihre Verklärung in einem privilegierten Spiegel zu erkennen“.
Pelleas und Melisande hier Elena Tsallagova als Melisande youtube Trailer Opéra national de Paris [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Platz, Richtung und Freiheit
Im Tristan ist alles richtig herum, sichtbar, blendend! Wollen wir echte Liebe, wollen wir die unmögliche Verschmelzung von zwei Personen, die narzisstische Fata Morgana zweier Subjekte, die sich nicht austauschen, sondern sich gegenseitig töten, von denen jeder behauptet, der andere zu sein: Wir sind mit dem Liebestod bedient, das heißt der mörderische Höhepunkt der Romantik. In Pelléas steht alles auf dem Kopf! „Die Kehrseite des Schicksals“, von der der alte Arkel spricht, ist ein geheimer Schlüssel, der selbst vom Geheimnis spricht. Sehen wir, hören wir Pelléas zu: Wir werden kaum wissen, was vor sich geht. Wir werden nichts über Mélisandes Alter wissen. Woher sie kam oder ob die beiden Liebenden schuldig waren.
Unser Platz als Zuschauer, also unser Platz als Zuhörer ist derselbe, den Golaud in der Oper einnimmt: Der! Der es nicht wissen wird! Ungewissheit ist seine Musik, Geheimhaltung bleibt der Handlungsstrang einer rätselhaften Geschichte. Wie Golaud treffen wir Mélisande und werden nie wissen was sie sagt, was sie denkt, ob sie die Wahrheit sagt, warum sie sterben wird! Bei Pelléas dreht sich alles um diese weibliche Figur und sie macht den Unterschied, die Kehrseite und Richtung zu Tristan und Isolde.
Sie ist es auch, die die mythische Verbindung herstellt: Denn Mélisande kommt wie Isolde von woanders her, sie ist die fremde im Haus, gewaltsam entzückt, gewaltsam verheiratet! Erobert! Dies ist das sichere Zeichen, mit dem sich die Frau mit den langen Haaren als Hexe bezeichnet: Vom Himmel gefallen, ohne Herkunft, grundlegende Störerin, die Unordnung selbst. Isolde verleiht dem Mythos die beiden Getränke: Liebe und Tod! Die Fabel ist mit der richtigen Seite nach oben, klar gewebt: Isolde ist eine heilende und wohltuende Hexe, deren Reize nur wegen ihres Exils unheilvoll sind. Mélisande hat nichts von ihr, der Mythos verdunkelt sich über Jahrzehnte: Aber immerhin hat sie eine unbekannte Herkunft.
Denn Mélisande ist frei und sie ist eine Hexe! Wild, gefunden wie ein Tier tief im Walde in der Nähe eines Brunnens. Eine mythische Erbin der Licorne-Jungfrauen, aufgenommen von einem Jäger im Walde! Hexe, mit ihren langen aufgelösten Haaren, ihren Antworten, die es nicht gibt, ihren unaufhörlichen Rätseln, ihren zu klaren Augen. Eine Hexe ist diese Frau, die aus dem Unbekannten kommt! Das Geheimnis ist so stark, dass wir manchmal den gerissenen Faden, den vom Nordwind hinweggefegten Jungfrau-Faden neu binden wollten: Die Geschichte von Mélisande und die von Blaubart wurde grob wiederholt: Als ob die blonde Jungfrau nichts anderes wäre als die siebente Frau des schrecklichen Mörders mit sieben verschlossenen Türen. So geschmückt mit einer Vergangenheit, auf die sie weder musikalisch noch dramatisch vorbereitet wurde, wird alles erklärt: Wir wissen, sie ist ein armes kleines Opfer und es ist kein Wunder, dass sie immer Angst hat, das arme Mädchen! Alles wird klar: Mélisande, unschuldiges Opfer, konventionelle Figur, eine Rose im Schatten, mit falscher Haarperücke, was Boulez als „…unblutige und dumme Postkartenromantik“ bezeichnete.
Unendliches Haar
Mélisande ist frei! Gefangen, seit der Jäger sie aus dem Walde statt eines Wildschweins, das ihn in die Irre führte, einfing! Gefangene in einer Welt ohne Himmel und Sonne, aber frei in ihren Gedanken, in ihrer Gedankenflucht…! Sehen wir uns das näher an! Und sprechen wir über ihre Haare, denn durch sie manifestiert sie all ihre Freiheit. Ah! Mélisandes Haar, Pelléas am Fenster, diese Blondheit, ein fadenziehender Komet wie der von Bérénice am ägyptischen Himmel… Die Haare sind das Fell! Und durch dieses haarige, poetische, sublimierte Element reiht sich Mélisande in das seidige Fell der Tierfrau ein, die sie nie aufgehört hatte zu sein. Durch das Fell das ihren Kopf umgibt macht Mélisande den Männern ein Zeichen: Golaud sieht nicht ihr Gesicht! Pelléas ist von Herzen berührt, wenn ihr Haar in den Brunnen fällt und vom Wasser umspielt wird: Er umschlingt und versteckt sich in den Haarfluten! Sein Kopf taucht wie ein Liebhaber in das Fell seiner Geliebten. Da wir weit entfernt von der kleinen Unschuldigen sind, meine Herren! Da wir dem wildesten, dem transvestitischen der fleischlichsten Erotik nahe sind wie nie zuvor. Kein Wunder, dass Golaud sie an den Haaren packt, denn dort hält man sie tatsächlich gut fest: Vorwärts und rückwärts, wie ein Mann einen anderen Mann hält und keine Frau: „Absalon, Absalon“. Schließlich werden sie für etwas verwendet: Man könnte nicht besser sagen, dass sie bei Golaud jedoch nutzlos waren! Wie jede Frau, aber noch mehr eine Frau im Walde gefunden, nimmt Mélisande ihren Teil an Teufel und Tier, von oben und nach unten: Ganz nah an den primitiven Empfindungen, an die allein die Haare des Körpers die Männer erinnert. Denken wir daran: Als Golaud sie das erste Mal trifft, weiß er nicht was da am Wasserrande stöhnte? Was da stöhnt ist nicht ganz eine Frau, nicht ganz menschlich und es wird: „… ein kleines Mädchen, das am Rande des Wassers weint“. Es ist in der Tat die bestmögliche Transmutation zwischen einer Hexe und einem Tier: Es weint, es ist unbestimmt, formlos. Das Geheimnis schlechthin!
Mittagszeit
Aber von ihren Haaren macht sie Gebrauch! Wenn sie für sich selbst entscheidet! Sie bindet, sie kämmt! Der einzige Moment in dem sie singt – allein - endlich allein für sich selbst, sie die ständig von Männern umgeben ist: Das ist der Moment der Freiheit, des Narzissmus! Sie kämmt sie, sie spricht über sie, sie singt sie: “Mein langes Haar geht bis an die Schwelle des Turmes hinunter“. Folgen wir der Reihenfolge: Zuerst die Haare, dann die Schutzheiligen, dann die Stunde und der Tag ihrer Geburt. Aber welcher Ruf! Daniel der Heilige des Ofens, Michael der Drachentöter, Raphaël der Erzengel, Bezwinger des Teufels. Wie das alles nach Himmel und Hölle riecht, wie schnell der Angelismus umgekehrt wird… Mélisande beschwört die Erzengel, die die Schlange und die Frau besiegten: Ganz nah am Himmel und in der Unschuld klarer Augen spielt sich die unbewusste Provokation ihrer aufgeflochtenen Haare ab: Die Schlangen-Liane, die bald Pelléas stark fesseln wird! Und dann… und dann: „Ich wurde an einem Sonntag geboren, einem Sonntagmittag“. Ein frommer Hinweis auf den Tag des Herrn, am Ende der Messe zur heiligen Stunde. Doch im Süden Italiens, wo einst griechische Reisende und Passagiere die Magna Graecia (Groß-Griechenland) im Herzen Apuliens installierten, gibt es ein seltsames kollektives Phänomen. Dort werden Frauen von giftigen Vogelspinnen gestochen, die den verrückten Rundtanz, die Tarantella, verursachen. Aber diese Spinnen existieren nicht, noch ihre Bisse, alles ist erfunden und doch sagen die Frauen mit ihren leidenden Körpern genau die Stunde, den Tag und die genaue Stelle des Spinnenbiss voraus. Und es ist fast immer „Sonntagmittag“! Die Stunde der Löwen-Sonne, die Stunde des Fluches: Die heilige und verrückte Stunde! Diese Frauen sind die letzten Bacchantinnen und um aus der seltsamen Mattigkeit der Spinnenbisse herauszukommen, bleibt ihnen kein anderer Ausweg als ein unheimlicher und verrückter endloser Tanz, umgeben von einem Zuhälter-Publikum. „An einem Sonntagmittag“ sehen wir unter Mélisandes Erstarrung und den wieder eingetretenen Wahnsinn, dass Unglück das nicht gesagt werden kann, den Körper der es nicht mehr aushält: Die kleine Bacchantin mit ihrem verrücktem Haar!
Ganz in der Nähe einer anderen verlorenen Verrückten, einer Prostituierten, einer Unschuldigen, geschrieben von einem Frauenkenner: Madame Edwarda (1941) und Georges Bataille (1897-1962). Zufällig in einem Bordell gefunden, eine Frau die zuvor von vielen Männern besucht wurde, wir wissen nicht wie viel und wer. Wie Mélisande! „Ihre Stimme war wie ihr schlanker Körper obszön“, schreibt der Schriftsteller. „Fast kindisch“. Eine obszöne Stimme suggeriert das Schreiende, Antiquierte und Alte, das genaue Gegenteil der melodischen und reinen Stimme, die Generationen von Sängerinnen der Mélisande verliehen haben. Obszön ist aber auch im ursprünglichen Sinne das „schlechte Omen“ und die Umkehrung der Stimme. Von Madame Edwarda bis Mélisande spricht man viel über die vermeintliche Reinheit: Schlechtes Omen, diese Stimme, die niemals schwankt, die „lügt-sagt-wahr-und-antwortet-nicht“ und singt nur wirklich um ihre Haare zu lösen. Ihre Fetzen. Ihr Geschlecht. Diese Stimme, die in Golaud eine Krise erregt, dann noch eine, bis zur tödlichen Gewalt! Diese Stimme, die Pelléas tötet, diese Stimme die wie Madame Edwarda durch und durch nur „von sich selbst spricht“. Es wird nur anders, wenn sie im Moment ihres Sterbens über dieses kleine Stück ihres Körpers spricht, dass ihr unmerklich abgefallen ist: Über ihre kleine Tochter: „Es tut mir leid um sie!“ Dies sind ihre letzten Worte! Der Stimmen-Blick wendet sich dem geheimen Inneren zu, dem Körperknoten, das nur das lose Haar deutlich bezeichnet: Engels-Stimmen, Teufelin-Stimmen. Madame Edwarda verfolgt die gleiche Suche nach ihrer geheimen Identität und versucht in exzessiven Lustfreuden, um dasselbe Geheimnis zu verbergen: „Ein Hintergrund der Morgendämmerung geht davon aus, eine Transparenz, in der ich den Tod lese“. Doch die beiden Schlanken, die beiden Verrückten entgehen auch endlich den vielen Blicken! In den Augen der Männer: Denn schließlich haben Bataille, Maeterlinck und Debussy diese Traumwesen geboren! „Frauen-Kinder“, die von allen Seiten gefesselt und versklavt wurden, so dass Schuldbilder, Verführungen, Lügen, Fiktionen, Phantasien von Männern zurückgeschickt wurden. Mélisande ist eine männliche Phantasie!
Stimmen – Geigen – Vergewaltigungen!
Auch Mélisande wird, wie eine Hexe, unaufhörlich der Frage unterworfen! wir sehen die Beharrlichkeit von Golauds Fragen in der gesamten Oper. Dies wird bei ihrem erstem Treffen schon deutlich sichtbar, schon in der ersten Szene spürbar. Zuerst sieht er sie nicht einmal, denn alles ist tief dunkel! Auch ist es dunkel, als Mélisande endlich außerhalb der Burggrenzen auf Pelléas trifft. Eine dunkle Frau, die das Licht nicht ertragen kann und stirbt, denn sie hat die Sonne nie gesehen. Golaud begegnet zuerst einem unsichtbaren Gesicht, einer Geigenstimme, die leise stöhnt. Und sofort stellt er Fragen: „Warum weinen Sie? Warum weinen Sie hier, ganz allein? Hat jemand Ihnen wehgetan? Wer? Welcher Schaden wurde Ihnen zugefügt? Woher kommen Sie? Von wo sind Sie weggerannt? Woher kommen Sie? Wo sind Sie geboren? Was glänzt so am Grund des Wassers? Wer hat ihnen eine Goldkrone geschenkt? Sind Sie schon lange auf der Flucht? Schließen Sie nie die Augen? Warum sehen Sie so überrascht aus? Wie alt sind Sie? …“ und zum Schluss die entscheidenden Fragen: „Möchten Sie mit mir kommen? Wie heißen Sie?“ Alles wird gespielt! Sie ihrerseits fragt ihn: „Warum sind Sie hierhergekommen?“ Als ob sie ihn fragen würde: „Haben Sie mich gesucht?“ Aber Golaud weiß nichts von seinen eigenen Fragen und von dem, was ihn an der unbekannten Frau reizt. Und weil er nichts davon weiß, ist die Verirrung im Walde für ihn schon eine unlösbare Frage. Für ihn, den so selbstsicheren Jäger, ist dort ein Jagdgegenstand, der sich weigert und widersetzt und somit wird er ein Jäger der Geheimnisse. Er nimmt sie mit, er nimmt Mélisande auf sein Schloss und um das Geheimnis besser zu wahren, heiratet er sie. Ketten! Eisenketten! Die Fragen werden nie enden, sie werden nie beantwortet und das nicht einmal auf Mélisandes Sterbebett. „Waren Sie schuldig?“ Ach, das ist die eigentliche Frage, die gleiche Frage von Anfang an und diese kann nicht beantwortet werden! Das durch einen stillen Tod, kommentiert von Männern, die an ihrer Stelle vom Tode Mélisandes singen und nicht einmal sehen, dass es schon vorbei ist. Die schweigenden Dienerinnen müssen niederknien, damit alle diese Männer sehen und verstehen, dass die Stimme schon geflohen ist… Unschuldig, schuldig, das ist die Frage der Männer! Mélisande antwortet an anderer Stelle immer: „Mir wird kalt…“ Sie bewegt sich, sie flieht! Sie entkommt, sie stirbt!
Sie behält ihre Vorsicht! Ihre ersten Worte sind heftig und defensiv: „Fass mich nicht an! Fass mich nicht an … oder ich stürze mich ins Wasser!“ Manchmal antwortet sie! Oder besser gesagt, gibt sie vor zu antworten. Es ist die Liebe mit Pelléas! Ja, natürlich antwortet sie, wenn er sie fragt: „Seit wann liebst du mich? – Schon immer… Seit ich dich gesehen habe…“ So vereinfacht dieses Wort, so gebräuchlich, dass Mélisande hier den Liebescode aufgreift, geschaffen von Nicht-Hexen, von anderen normalen Frauen. Wir müssen glauben, dass diese Antwort einen Teil der Ausflucht enthält, da sich Pelléas sofort Sorgen macht und fragt: „Du wirst doch nicht vor mir weglaufen?“ Natürlich ja! Und das geht durch den Blick. „Wo sind deine Augen?… Du sahst wo anders hin, in die Ferne…“
Ansteckung
Hier ist das Verbrechen, die Anschuldigung! Um herauszufinden ob eine Frau eine Hexe war, in den Tagen als sie zu Tausenden lebendig verbrannt wurden, nur um das christliche Land zu säubern. Also wurden die Inquisitoren angewiesen – es steht im Handbuch des Hexen-Hammer (Malleus Maleficarum / 1486) -, besonders auf den Blick zu achten und Sprache und Stimme der Frauen. „Wenn also eine Seele stark zur Bosheit neigt […] wird der Blick dieser Person giftig und schädlich… Die Augen durchdringen die Luft, um sich bis zu einem bestimmten Ort nieder zulassen“. Durch Ansteckung überträgt der Blick die teuflische Infektion: Buchstäblich die Teuflische, die Abweichende! Mélisande antwortet Pelléas: „Ich habe dich woanders gesehen…“ Aber ob sie uns ins Gesicht schaut, ob sie den Kopf abwendet oder wir ihr Gesicht nicht sehen: Mélisandes ansteckender Blick verurteilt sie! Genau wie ihre Stimme: „Von Natur aus Lügnerin, sie ist in ihrer Sprache, sie sticht dabei charmant“, sagen die Inquisitoren wieder. Und was immer sie sagt, Wahrheit oder Lüge, was auch immer seit sie spricht, schlimmer noch: Sie singt, seit wir in der Oper sind! Sie spricht eine Sprache, die zum Anklagen gemacht ist, eine schuldige Sprache, zweideutig und charmant. Unausweichlich und ansteckend! Niemand wird es schaffen, ihr das Geheimnis zu entreißen.
Dieses allprojektive Geheimnis! „Die unstillbare Lust, Fragen zu stellen“, schreibt Sigmund Freud (1856-1939) um Fragen der Liebe: „…die ein bestimmtes Kindheitsalter prägt!“. Dies erklärt sich dadurch, dass sie eine einzige Frage stellen müssen, die ihnen nicht über die Lippen kommt, so erklärt sich die Redensart vieler Neurosen aus dem Druck eines Geheimnisses, das zur Kommunikation drängt und das sie jedoch trotz aller Versuchungen nicht verraten. Aber es ist Golaud, aber es ist Pelléas, die Fragen stellen; sie sind es, die nicht wissen wer sie dazu drängt: Eine unbekannte Frau zum projektiven Objekt all ihrer unbestätigten Wünsche zu machen! Für sie selbst! Für sich selbst! Mélisande ist das Traumobjekt: Im Wald gefunden, eine Hure vielleicht, was wissen wir, ein verlorenes Mädchen, ohne Alter, gut genug für alle ihre geheimen Projektionen. Der Spiegel von zwei Brüdern, die um sie kämpfen und über ihren Körper gehen, um sich zu treffen! Am Ende der Reise bleibt Golaud mit seiner einzigen Frage allein und Pelléas ist tot. Nur der alte Arkel, der nicht mehr im sexuellen Alter ist, kann sich den pseudophilosophischen Luxus von Selbstbehauptungen über Leben-Liebe-Tod, Schicksalsrückkehr und Mitleid von Gott leisten. Auf der Bühne steht immer ein alter Mann, eine alte Frau, die Zeugen einer Zeitpassage sind, um die Kontinuität eines anderen Lebens zu gewährleisten: Das nicht gesungen werden kann, das nicht dramatisiert ist und das nur ein kleines Kind aus einem Todeszimmer gerettet werden kann. Die Oper endet damit in einer engen Passage: „Jetzt ist das kleine arme Mädchen an der Reih …“ Doch zwei Männer und eine Hexe haben einen Knoten geknüpft, die Durchgangspassage ist versperrt entsprechend einer Familienstruktur: In der die Frau das Tauschobjekt war! Nichts bleibt für sie, nur ein zerrissenes Band von entfremdeten Fleisches, nur Gefangene der Fragen von Männern.
Doch trotzdem! Doch trotzdem wird sie nicht beantwortet und der privilegierte Spiegel, auf den sich Boulez bezieht, verweist auf die große Dekadenz von Isolde. Mélisande ist eine Isolde, die den Verschmelzungen der Liebe entkommt, eine entschwindende Isolde. Ihr Tod ist das Gegenteil des „Liebestod“: Am Ende ohne Stimme, ohne auf Treppen zu klettern und auf Wellen auszurutschen, stirbt Mélisande schweigend. Und ganz allein, nachdem sie vergessen hat, dass Pelléas tot ist und nicht bei ihr! Die Zauberin Isolde auf den ersten Blick schon weltentfremdet widmet sich mit ganzer Kraft dem Tod, ohne die Freiheit einer Frau. Die Zauberin Mélisande dreht die Struktur des Sterbens um, wirft den Mythos um und verändert das Spiegelbild. Durch die projektiven Phantasien ambivalenter Männer trägt sie die Spuren einer relativen Befreiung: In ihren Haaren, in ihren Lügen, im verlorenen Geheimnis ihrer Identität. Isolde und ihr Mythos dehnen und bewegen sich in diesen verschwommenen widersprüchlichen Projektionen und empörten Bildern: Stumm und grell, unschuldig und schuldig … aber freier!
Die Inquisitoren verkündeten laut in ihrem Buch die Frauen zu töten: „Eine Frau, die allein denkt, denkt schlecht!“
Mélisande, nicht existierende kleine Schwester, wenn du als Sängerin dein langes und mythisches Haar auf der Spitze eines Pappturms kämmst und herunterlässt , wenn deine Stimme ohne Orchester allein sich zum musikalischen Jubel erhebt, dann ist etwas in diesem Spiegel entgangen, entgeht etwas: Beginnt allein zu singen, allein zu denken! Gut zu denken! PMP/20.10.2021
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