BRNO, Mahen-Theater, ABEND-LIEDER - VEČERNÍ PÍSNĔ, IOCO
MAHEN-Theater Brünn: Liederabend: Neben einheimischen Werke wird der heutige Liederabend auch durch den Dichter Vítězslav Hálek (1835-1874) miteinander verbunden. Diese führende Persönlichkeit der tschechischen Poesie und Vertreter der Májovci-Gruppe (Mai-Schule)
09.11.2024 / 9. INTERNATIONALES FESTIVAL JANÁČEK BRNO 2024 - VEČERNÍ PÍSNĔ – ABEND-LIEDER - Adam Plachetka, Bass-Bariton, David Švec, Klavier - Lieder und Klaviermusik von Smetana, Dvořák, Suk, Fibich, Janáček.
von Peter Michael Peters
EIN MÄRCHENRITTER IN NÄCHTLICHEN TRAUMSTUNDEN…
Als ich zum Himmel aufschaute
Durch diese goldenen Sterne,
es schien mir, dass du ein Heiliger wärst
und ich ein heiliger Engel.
(Auszug aus ABEND-LIEDER, Op.31
„Vision des Himmels, die ich liebevoll male“
Von Dvořák nach einem Gedicht Vítězslav Hálek)
Ein tiefsinniger Abend-Strauß von dunklen Nachtblumen…
Neben der Präsentation einer Auswahl ausschließlich einheimischer Werke wird der heutige Liederabend auch durch den Dichter Vítězslav Hálek (1835-1874) miteinander verbunden. Diese führende Persönlichkeit der tschechischen Poesie und Vertreter der Májovci-Gruppe (Mai-Schule) wird meist mit seinem Zeitgenossen Jan Neruda (1834-1891) verglichen, der oft als Begründer der modernen tschechischen Poesie gilt. Ein flüchtiger Blick auf ihr Werk kann jedoch nicht umhin den Eindruck erwecken, dass Neruda zwar weitaus stärker im allgemeinen Bewusstsein verankert ist, Hálek aber auch einen außerordentlich vielseitigen Beitrag geleistet hat. Im Gegensatz zu Nerudas Perspektive eines rein urbanen Künstlers finden wir in Hálek ein weitaus gründlicheres und realistisches Eintauchen in die ausgesprochen vielfältigen generationsübergreifenden und sozialen, städtischen und ländlichen Widersprüche seiner Zeit. Sein Gefühl für die innere Einkapselung dieser sozialen Uneinigkeit ist zweifellos ein naturalistischer Ausdruck, der mit dem seiner Zeit offensichtlich bekannteren zeitgenössischen Émile Zola (1840-1902) vergleichbar ist. Gleichzeitig unterdrückt Háleks Werk jedoch nicht die Lyrik und Sensibilität, die aus der Neo-Romantik stammen und seinen Gedichten einen einzigartigen Ton verleihen.
Diese Gedichte konnten daher von Lieder-Komponisten nicht unbemerkt bleiben. Im Mittelpunkt dieses Konzerts steht die Vertonung von Teilen der Liebes-Gedicht-Sammlung aus Večerní Písně (1859) von Bedřich Smetana (1824-1884), Antonín Dvořák (1841-1905) und Zdeněk Fibich 1850-1900). Obwohl ihre Intimität, Einfachheit und vielleicht sogar eine gewisse Naivität eher auf die romantischen Quellen von Háleks poetischem Vokabular verweisen, fördert ihre Struktur direkt eine musikalische Gestaltung. Der kleine Zyklus von Smetana aus dem Jahr 1879 mit einer Auswahl von fünf Gedichten ist ein wichtiges Beispiel für das Gesangswerk des Komponisten, in dem sich die lyrische Qualität der Verse von Hálek mit der musikalischen Sensibilität von Smetana verband. Das Ziel ist ein klassischer romantischer Stil mit Schwerpunkt auf dem dramatischen und emotionalen Ausdruck des Textes. Smetana verwendet oft recht komplexe harmonische Strukturen und Modulationen, die seinen Liedern eine tiefe Emotionalität verleihen und er zeigt eine Tendenz zu einer eher dramatischen Gestaltung des Textes mit Schwerpunkt auf den Ausdrücken und Stimmungen jedes Wortes oder Verses.
Dvořáks Vertonung, die heute in einer Neuausgabe zu hören ist, entstand offenbar zwischen 1876 und 1882. Die drei Opus-Nummern und ein nicht nummeriertes Werk umfassen insgesamt zwölf Gedichte aus Háleks Zyklus. Dvořák ist melodisch tendenziell lyrischer und zugänglicher und ist oft von Volksmusik inspiriert. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass eine gewisse Inspiration durch die damals beliebten Werke von Franz Schubert (1797-1828) und Robert Schumann (1810-1856) entstand, die in diesem Sinne als verbindendes Element unter den tschechischen Komponisten fungierten. Dvořáks Lieder zeichnen sich durch reichhaltige und harmonische Melodien aus, wobei der Schwerpunkt auf der gesamten Melodien-Linie und den Harmonien liegt und dadurch eine einfachere harmonische Struktur entsteht, die die lyrische Schönheit des Textes hervorhebt.
Ein gedankliches Sprungbrett ist im Frühwerk der Fünf Lieder, Op. 5 von Fibich, der Háleks Gedichte 1871 vertonte. Fibichs Herangehensweise zeichnet sich durch seinen akribischen Respekt vor dem Text und die Art und Weise aus und wie er Struktur und Rhythmus befolgt, um einen natürlichen Fluss von Musik und Worten zu ermöglichen. Dynamischer Wechsel und Ausdrucksnuancen werden bewusst eingesetzt, um dramatische Höhepunkte und ruhige Passagen im Text hervorzuheben. Der Klavierpart in seiner musikalischen Vertonung ist nicht nur eine Begleitung, sondern auch gleichzeitig ein aktiver Partner der Stimme, der eine reiche und fesselnde Atmosphäre schafft.
Wir können sehen, dass alle drei oben genannten Komponisten die Vertonung von Večerní písně /Abend-Lieder auf ihre ganz eigene Weise angehen und dabei den romantischen und emotionalen Charakter von Háleks Gedichten beibehalten. Aber auch andere Gedichte desselben Autors erwiesen sich als Inspirationsquelle, wie z. B. die Vertonung des Gedichts Noc byla krásná / Die Nacht war wunderschön (1891) von Suk mit subtilen harmonischen Verschiebungen. Suks Vertonungen von Háleks Gedichten verleihen dem tschechischen Liedschaffen eine neue Dimension und bereichern die von Smetana und Dvořák begonnene Tradition.
An diesem Abend stehen aber auch noch drei weitere Werke auf dem Programm, von denen wir nur kurz erwähnen wollen das Po zarostlém chdnicku / Auf einem überwucherten Pfad (1905). Dieser zweiteilige Klavierzyklus ist bei den diesjährigen Festspielen mehrfach zu hören, allerdings noch nie in dieser Form mit lyrischen Kontexten. Es gibt auch eine bemerkenswerte Parallele zwischen Janáčeks breitem musikalischen Verismus und Háleks spätem poetischen Naturalismus. Wir könnten hinzufügen, dass diese Version angesichts der Fähigkeiten von Janáček als Geschichten-Erzähler einzigartige Möglichkeiten für viele Nuancen bietet, die möglicherweise selbst von den erfahrensten und sachkundigsten Zuhörern des (Klavier-) Werks des Komponisten zuvor nicht bekannt waren...
PROGRAMM DES LIEDER-ABENDS:
Smetana: Večerní písně / Abend-Lieder, BJ 1:116 (1879).
Vollständiger Zyklus nach Gedichten von Hálek.
1 Er der die goldenen Saiten spielen kann.
2 Steinige die Propheten nicht.
3 Ich habe einmal geträumt.
4 Oh, was für eine Freude beim Tanzen.
5 Ich werde die aus meinen Liedern einen Thron bauen.
Dvořák: Noční cestou / Nachtreise.
Aus dem Klavierzyklus Tonbilder, Op. 85. (1889)
Dvořák: Večerní písně / Abend-Lieder, Op. 3, 9, 31. (1879/1880).
Vollständiger Zyklus nach Gedichten von Hálek.
In einer Neuausgabe herausgegeben von Bärenreiter, 2024.
Op. 3 (1876, rev. 1881)
1 Die Sterne , die am Himmel funkeln.
2 Ich habe letzte Nacht geträumt.
3 Ich bin ein Märchenritter.
4 Als Gott in guter Stimmung war.
Ohne Opus-Nummer:
1 Wie der Mond.
Op. 9 (1879-1880)
1 Das Rauschen der Bäume hat aufgehöhrt.
2 Der Frühling kam aus der Ferne geflogen.
Op. 13 (1882)
1 Visionen des Himmels, die ich liebevoll male.
2 Das würde ich jeden kleinen Vogel fragen.
3 Wie eine Linde bin ich.
4 All die Arbeit kommt zu mir.
5. Die ganze Nacht hindurch wird ein Vogel singen.
Suk: Noc byla krásná / Die Nacht war wunderschön. (1891)
Aus Drei Liedern nach Gedichten von Hálek.
Fibich: Patero písní z Večerních písní / Fünf Lieder aus Abend-Lieder, Op. 5 (1871)
Kompletter Zyklus vertont nach Gedichten von Hálek.
1 Das Rauschen der Bäume verstummte.
2 In einem Himmel voller Sterne.
3 Du besonders schönes Mädchen.
4 Dein Auge ist ein wunderschöner See.
5 Der Frühling ist aus der Ferne gekommen.
Janáček: Po zarostlém chodníčku / Auf einem überwucherten Pfad (1900/1911) - Auswahl aus der Neuauflage von Jiřiho Zahrádky, G. Henle Verlag, 2022.
1 Unsere Abende, Serie 1, N° 1.
2 Piu Mosso, ursprünglich für Serie 1 komponiert, unveröffentlicht.
3 Allegro, ursprünglich für Serie 1 komponiert, unveröffentlicht.
Dvořák: Cigánské melodie / Zigeuner-Lieder, Op. 55. (1880)
Nach Gedichten von Adolf Heyduk (1835-1923).
1 Mein Lied klingt nach Liebe.
2 Hah, wie mein Triangel erklingt.
3 Der Wald ist überall ruhig.
4 Lieder die mir meine Mutter sang.
5 Die Saiten sind gestimmt.
6 Weite Ärmel
7 Gib einem Falken einen Käfig.
ZUGABEN:
Franz Schubert: Im Abendrot, D 799 (1824)
Richard Strauss (1864-1949): Die Nacht, Op. 10 (1885).
Nach einem Gedicht von Hermann von Gilm (1812-1864).
ABEND-LIEDER - Mahen-Theater - Brno - 9. November 2024
Weitaus mehr als nur mährische Abend-Stimmungen…
Der international bekannte tschechische Bass-Bariton Adam Platchetka begleitet von dem tschechischen Pianisten David Švec übereichten dem Publikum einen verträumt-duftenden Strauß von dunklen Nachtblumen. Wie schon im Voraus angedeutet, wurde besonders der große tschechische Dichter Vítězslav Hálek gefeiert, der wohl in keinem Liedzyklus der berühmten tschechischen Komponisten fehlt. Wie schon gesagt der Leitfaden des Abends ist verlorene oder vergessene Liebe im Schatten der aufkommenden Nacht, aber auch neu entdeckte Liebe und natürlich die unersetzlichen Schlaflieder. Wohl alles inspiriert von – ja man kann es ohne weiteres sagen – der so erdrückenden deutschen Romantik.
Man merkt es besonders bei den Dvořák-Zyklen, denn da sind die Wanderschritte von Schubert unüberhörbar! Auch die verträumten schlaflosen Nächte eines Schumann sind allgegenwärtig. Aber die gewaltige Stärke dieser wohl für uns weitgehend unbekannten Liedern ist die Aneignung und das Eindringen in die volkstümliche Seele: Das populäre Volkslied mit all ihren musikalischen Varianten. Da werden auf umgekehrter Weise ungeniert Blumen und ganze Sträuße gepflückt und abgerissen von deutschen Wanderern: z. B. Johannes Brahms (1833-1897) war wohl einer dieser Blumenpflücker…
Der Bass-Bariton Platchetka sang alle diese Kostbarkeiten mit einer gewaltigen Stimme, die Lieder wurden teilweise als große dramatische Opernarien interpretiert. Wir fragten uns den ganzen Abend, ist dass die richtige Interpretation? Denn ein Lied ist keine Opernarie! Das Lied ist eine äußert intime Angelegenheit! Und in der Vergangenheit haben wir oft Liederabende von sehr berühmten Sängern gehört: Aber ein phantastischer Don Giovanni, K. 527 (1787) von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) ist noch lange kein idealer Liedinterpret! Jedoch hier waren wir fast hilflos, denn wir kennen dieses wunderschöne tschechische Liedrepertoire sehr wenig. Wie soll gesungen werden?
Aber bewusst oder unbewusst: Am Ende des Abends half uns der Sänger selbst bei unserer delikaten Kritik. Denn die beiden Zugaben von Schubert und Strauss zeigten, das seine Stimme fähig ist für die kleinsten Nuancen und Tonveränderungen und somit auch eine intime Liedinterpretation bieten kann, wie wir sie erwarteten. Damit müssen wir annehmen, dass das tschechische Liedrepertoire im Gegensatz zum deutschen und französischen Lied völlig anders gesungen wird, denn wir selbst haben nicht die nötige Kenntnis für dieses Repertoire.
Plachetka hat ein Instrument mit einer äusserst starken und kräftigen Intonation, einer weitreichenden gehörvollen Ausstrahlung und einer gewissenhaften Wortinterpretation. Es zeigt sich für uns besonders in dem auch sehr bekannten Zyklus Zigeunerlieder von Dvořák. Hier zeigt seine Stimme eine hinreißende Sensibilität und Sensualität in der Interpretation dieser heißen und wilden temperamentvollen Lieder. Wie schon angedeutet endet der Abend mit zwei Zugaben: Im Abendrot und Die Nacht, hier sind wir auf unserem Terrain und können nur mit Begeisterung und Superlativen bezeugen: Hier haben wir einen Sänger auf der Höhe seines Könnens. Es ist ein idealer Liedinterpret und nichts entgeht seiner emotionalen Vortragsweise.
Desgleichen gilt für den extraordinären Pianisten Švec, der nicht nur ein einfacher Begleiter ist, sondern auch ein sensibler Partner und Wegbereiter mit einer unendlichen leisen Tastenbewegung und auch für die mitunter so nötigen dramatischen Ausbrüchen. Es ist ein Pianist der Extraklasse! Er zeigt es ausreichend in den beiden Klavier-Solos des Abends: In Nachtreise und besonders in Auf einem überwucherten Pfad von Janáček. Ein Klavierwerk das auch außerhalb Tschechien weitgehend bekannt ist.
Es war ein außergewöhnlicher und reicher Liederabend mit überwiegend neuentdeckten Werken, die unser neugieriges Wissen einmal mehr ausreichend gestillt hat. Dazu mit zwei einmaligen Künstlern, die uns halfen die unbekannte Route zu finden. Auf jeden Fall haben wir auf unserem nächtlichen Spaziergang neue unbekannte Nachtblumen gepflückt…. Vielen Dank an alle Beteiligten…
Gleichzeitig ist eine CD erschienen:
EVENING SONGS - Adam Plachetka David Švec
Dvořák, Smetana, Fibich und Suk.
PENTATONE Music B. V. - PMP/22.11.2024