Lyon, Théâtre des Célestins, TRAUERNACHT - Johann Sebastian Bach, IOCO Kritik, 25.03.2022
Trauernacht - Johann Sebastian Bach
- Katie Mitchell inszeniert eine einfühlsame Meditation über den Tod -
von Patrik Klein
Der dritte Teil des Festival de Lyon 2022 befasst sich mit Auszügen aus Johann Sebastian Bachs (1685–1750) Kantaten (BWV 60, 46, 82, 90, 127, 146, 159, 169, 668), die zu einer knapp neunzigminütigen szenischen Aufführung der Trauernacht entwickelt werden. Dabei handelt es sich um eine Wiederaufnahme der Produktion des Festival d'Aix-en-Provence von 2014, einer Koproduktion mit dem Festival d'Aix-en-Provence, der Niederländischen Nationaloper Amsterdam und der Opéra national de Bordeaux.
Die Produktion bedient sich Auszügen einiger Kantaten von Johann Sebastian Bach (mit Ausnahme der ersten Motette "Mit Weinen hebt´s sich an" vom Organisten, Komponisten und jüngsten Bachsohn Johan Christian Bach), die sich mit dem Tod und mit den verschiedenen Stadien der Trauer befassen.
Die britische Regisseurin Katie Mitchell fokussiert in ihrer Inszenierung auf eine Ritualisierung von Bewegungen und die Einfügung eines auf das Wesentliche reduzierten kühlen Theaters. Auf der karg ausgestatteten Bühne stehen nur wenige Elemente wie Tisch, Stühle und Regale. Die Darsteller bewegen sich lautlos und barfuß mit einer stoischen Langsamkeit, wo alles symbolisch wirkt und wo die kleinste Geste isoliert und seziert in großer Stille betrachtet wird. Das Stück wird zu einer Meditation über den Tod geformt.
Tod und Trauer stehen im Zentrum, ein Thema, welches alle Menschen anspricht und vereint, sowohl auf der Bühne, als auch im Orchestergraben und im Saal. Wir alle haben Erfahrungen mit dem Tod eines geliebten Menschen erlitten, haben ihn bei alltäglichen Lebenssituationen erlebt und haben meist unsere Trauer überwunden.
Der Tod eines Familienmitgliedes in einem komplexen Beziehungsgeflecht bringt zwei Schwestern und zwei Brüder wieder an einen Tisch zusammen und lässt die Erinnerungen an den Verstorbenen aufkeimen. Jenseits des Todes scheint immer noch der Schatten des Vaters über sie zu wachen. Mit bestechender Einfachheit und Qualität kommen die Details ans Tageslicht. Die Kleidung wird sortiert und entsorgt, das Hemd, die Schuhe, der Brief werden gefunden und betrachtet. Traurigkeit und Resignation machen sich breit. Der Zuhörer wird zum Zeugen einer gemeinsamen Mahlzeit, die die vier Familienmitglieder mit allen einmal dagewesenen Ritualen wieder zusammen einnehmen. Die Teller werden gedeckt, ein Löffel fällt vom Tisch und die Suppe wird serviert. Man isst langsam, redet miteinander, fällt in wütende Rage und kommt dennoch wieder an den Tisch zurück. Jeder reagiert auf seine Weise auf das Ereignis und seiner Verbundenheit zu Kindheit, Trauer und zum Tod. Der verstorbene Vater (der Schauspieler Philippe Dusigne) sitzt im dunklen Hintergrund auf einem Stuhl direkt vor dem Dirigenten, der das kleine Barockorchester auf der Bühne hinter den Protagonisten am Tisch leitet. Gelegentlich kommt er vor an den Tisch und pfeift ein paar Noten eines Liedes. Einmal setzt er sich zu seinen Kindern und umarmt einen der beiden Söhne. Der Brief des Vaters wird geöffnet und macht die Runde unter den Kindern. Ärger, Wut und Verzweiflung über den Inhalt wird spürbar.
Dieses der drei Familiengeheimnisse beim Opernfestival in Lyon wird jedoch nicht gelüftet. Bei der Kantate "Ich habe genug" verschwindet der Vater von der Bühne. Seine Habseligkeiten werden in Kartons verpackt. Die Geschwister gehen ihrer Wege. Die isolierte Traurigkeit der vier Nachkommen bleibt.
Das traditionelle Bass-, Tenor-, Sopran- und Altquartett agiert auf der Bühne im Stil eines prägnanten Minimalismus, eingebettet in die Musik Johann Sebastian Bachs. Als Betrachter und Zuhörer nimmt man es emotional berührt ganz wie selbstverständlich wahr.
Die junge kanadische Sopranistin Elisabeth Boudreault, die u. a. an den Opernhäusern in Straßburg und Nancy Rollen wie Barberina in Le Nozze di Figaro und Gretel in Humperdincks Hänsel und Gretel sang, formte ihren Part der älteren Tochter des Verstorbenen mit großer Intensität und feinsten lyrischen Bögen. Die französische Mezzosopranistin Fiona McGown studierte u. a. an der Leipziger Musikhochschule und spielte Rollen wie zum Beispiel den Orpheus in Glucks Orpheus und Eurydike und sang in Schönbergs Pierrot Lunaire an verschiedenen Häusern in Frankreich und der Schweiz. Während der Coronapandemie machte sie sich in Frankreich einen Namen durch die Organisation von sogenannten Hauskonzerten, um Live-Musik in die Wohnzimmer der Menschen zu bringen. Mit ihrer warmen, dunkel timbrierten Mezzosopranstimme gibt sie die jüngere Tochter bei Bachs Kantaten mit tiefen Emotionen, schöner Phrasierung und klarer Diktion. Andrew Henley, junger walisischer Tenor und Gewinner des Wettbewerbs "Dunraven Young Welsh Singer of the year" von 2019, singt den jungen Sohn mit solider Gesangstechnik. Sein feines Timbre eingebettet in einen lyrischen Klang gibt seiner Rolle eine empathische Tiefe und Berührtheit.
Der Bass-Bariton Romain Bockler hatte ein Heimspiel an diesem Abend in Lyon. Der junge Franzose, dessen Repertoire von der Barockoper bis zur zeitgenössischen Oper reicht und der an den Opernhäusern in Lyon, Bordeaux, Avignon, Dijon, Reims und Caen debutierte, verkörperte den älteren Sohn. Mit farbenreicher und gekonnt einfühlsamer, behutsamer Nuancierung in seiner sicher geführten Stimme wurde er spielend mit der Rolle fertig. Das Orchester aus elf jungen Musikern spielte unter der Leitung des Dirigenten Simon-Pierre Bestion auf barocken Instrumenten. Es gelang ihnen die Kraft und die Botschaft von Bachs Musik glaubhaft und emotional zu transportieren. Die Zuhörer im leider nicht ganz gefüllten Theater hatten nach den beiden aufwühlenden Premieren an den Vortagen Zeit zu entschleunigen und zu reflektieren. Herzlicher Applaus wurde reichlich für alle Beteiligten gespendet.
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