Luzern, KKL, GURRE-LIEDER - A. Schönberg, IOCO

KKL - Luzern: Mit einem kraftvollen Hymnus auf die Wunder einer im Werden und Vergehen ergriffenen Natur schließt das KKL SOMMERFESTIVAL in Luzern: Mit Arnold Schönbergs Gurre-Lieder ....

Luzern, KKL, GURRE-LIEDER - A.          Schönberg, IOCO
KKL Luzern @ wikimedia commons

LUZERN FESTIVAL 2024 - KONZERTSAAL KKL / LUZERN / 15.09.2024 – Arnold Schönberg: GURRE-LIEDER, Op. 22 (1913) --Symphonisches Oratorium in drei Teilen nach den Liedern von Gurre von Jens Peter Jacobsen - in der deutschen Übersetzung von Robert Franz Arnold für Solisten, Chöre und großes Orchester.

von Peter Michael Peters

 Tove                    Christina Nilsson, Sopran,

Waldemar          Simon O’Neill, Tenor

Waldtaube         Jamie Barton, Mezzo-Sopran

Klaus der Narr   Michael Schade, Tenor

Bauer                  Michael Nagy, Bariton

Erzähler              Thomas Quasthoff, Sprecher

NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg, NDR Vokalensemble, MDR Rundfunkchor, Rundfunkchor Berlin, Alan Gilbert - Musikalische Leitung

Blaues Selbstporträt (1910) von Arnold Schönberg ©Wikimedia commons

DAS MYSTERIUM DES EWIGEN LEBEN…

 Die Zeit ist um!

Mit offnem Munde ruft das Grab,

Und die Erde saugt das lichtscheue Rätsel ein.

Versinket! Versinket!

Das Leben kommt mit Macht und Glanz,

Mit Taten und pochenden Herzen,

Und wir sind des Todes,

Der Sorge und des Todes.

Ins Grab! Ins Grab! Zur träumeschwanger’n Ruh‘.

O, könnten in Frieden wir schlafen!

Gurre-Lieder / III. Teil (Auszug)

 

Die Geschichte von Liebe und Tod…

Mit einem kraftvollen Hymnus auf die Wunder einer im Werden und Vergehen ergriffenen Natur schließt das KKL SOMMERFESTIVAL in Luzern mit Arnold Schönbergs (1874-1951) Gurre-Lieder, einem Werk, das nichts Geringeres als das Mysterium des ewigen Lebens thematisiert. Rund 300 Interpreten, 6 Solisten, 3 Chören und das große NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg unter der Leitung  des amerikanischen Dirigenten Alan Gilbert, erzählen Jens Peter Jacobsens (1847-1885) in der deutschen Übersetzung von Robert Franz Arnold (1872-1938) die tragische Geschichte von König Waldemar und seiner Geliebten Tove, die von der eifersüchtigen Königin Helvig ermordet wird. Fast 10 Jahre hat Schönberg an dieser gewaltigen Partitur gearbeitet, die eine ganz spätromantische Tonsprache spricht und mit einem triumphalen Sonnenaufgang endet. Doch auch hier trieb ihn seine Neugier zu spannenden Experimenten, etwa zu expressionistischen Melodramen, bei denen die Gesangsstimme nicht gesungen wird: Hier vom berühmten Bariton Thomas Quasthoff, der seine Gesangskarriere 2012 tatsächlich beendete. Bei der Uraufführung der Gurre-Lieder im Jahre 1913 jubelte das Wiener Publikum Schönberg frenetisch zu. Doch er war nicht zufrieden: „Ich sah voraus, dass dieser Erfolg keinen Einfluss auf das Schicksal meiner späteren Werke haben würde“. Man soll die guten Dinge feiern, wenn sie passieren!

Eine leidenschaftliche romantische Geschichte…

Die Gurre-Lieder oder Lieder von Curre oder noch besser das Lied von Gurre, was diesem Wort seine epische Bedeutung verleiht, wurden von Schönberg nach den inspirierten Texten des dänischen Dichters Jacobsen vertont. Überaus romantisch sind auch die Gedichte des Dänen, eines Schriftstellers, den Rainer Maria Rilke (1875-1926) für „so wichtig wie die Bibel“ hielt! Es ist ein leidenschaftliches Oratorium mit einer Romantik, die direkt von Tristan und Isolde (1865) von Richard Wagner (1813-1883) geerbt wurde.

GURRE-LIEDER - Simon O'Neill (Waldemar), Cristina Nilsson (Tove), NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg © Peter Fischli / Luzern Festival

Die dänische Gurre-Burg war der Zufluchtsort der heimlichen Liebe von König Waldemar und seiner Geliebten Tove. Doch die eifersüchtige Königin Helvig ließ diese ermorden. Die Waldtaube unterrichtet Waldemar über die genauen Umstände des Verbrechens: Wahnsinnig vor Trauer wird der König von strahlender Erinnerungen überwältigt. Seine Ahnungen täuschen ihn nicht und vermischten den bitteren Geschmack des Todes mit den Freuden, die die Stunden mit Tove bereiteten. Die Verzweiflung erstickt Waldemar: Er verliert den Verstand und lästert laut! Zur Strafe wird er zu einer fantastischen Verfolgungsjagd verurteilt, die das ganze Land in Angst und Schrecken versetzt. Der Narr Klaus beklagt, dass er gezwungen ist, dieser wilden Jagd zu folgen. Und schon bald verstärkt ein weiteres Schreckensthema die Angst des Bauern: Diesmal ist es der Sommerwind, der aufkommt und die Armee der Toten wütend dazu zwingt, zu den Gräbern zurückzukehren, aus denen sie gekommen sind. Auch der Frieden kehrt zurück und die Natur erblüht wieder! Die Menge der Vögel bewegt sich im Wald. „Die Blume schüttelt den Tau aus ihrem lockigen Haar und sucht die Sonne. Blumen, erwachen in Freude“. Aber auch die Verklärung dieser Liebe ist eine große pantheistische Hymne auf Leben und Natur.

Der unvergleichliche Erfolg des Komponisten besteht darin, all dies nahtlos in einem einzigen Musikstück zusammengefasst zu haben, einer kontinuierlichen Entwicklung basierend auf diskreten und suggestiven Leitmotiven, in der die intensivste Lyrik mit der schönsten poetischsten, die schwindelerregendste existentielle Spirale mit der höchsten übereinstimmt mit Gelassenheit: „Denn wir gehen zum Grab wie ein Lächeln, das in einem Kuss stirbt“, sagt Tove. So kurz ist der Tod, wie ein friedlicher Schlaf von der Dämmerung bis zum Morgengrauen.

GURRE-LIEDER - NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg, Solisten, Alan Gilbert, Dirigent ©Peter Fischli / Luzern Festival

Man könnte befürchten, dass Schönberg seine gigantischen Mittel für spektakuläre Masseneffekte einsetzen würde, denn es gibt welche, doch im Gegenteil sind es die Flexibilität der Lyrik, die Subtilität des Satzes und der Modulation, die erneute Erfindung der Orchestrierung, die überrascht und erfreut während der gesamten Arbeit. Der Komponist brauchte all diese Tastaturen, um die zarte und starke Lyrik dieser langen Gedichte zu vereinen, in denen sich die Projektion der Liebe im Kosmos mit den schrecklichen Geheimnissen des Todes verbindet und den kleinsten Grashalm bei Tagesanbruch vergöttert.

Die Unermesslichkeit der Natur…

Dieser Rahmen ermöglicht es Schönberg, die Themen der leidenschaftlichen, aber unmöglichen Liebe, den Aufstand gegen göttliche Ungerechtigkeit, Tod, ewiges Wandern und Terror wie die Jagd im dritten Teil zu vermischen und mit einer großen pantheistischen Hymne an die Unermesslichkeit der Natur und der nie endenden Liebe zu enden…

Schönberg begann unmittelbar nach Vollendung des Werkes Die verklärte Nacht, Op. 4 (1902) mit der Komposition dieses Werks von außergewöhnlichem Ausmaß. Wir haben im Zusammenhang mit den Gurre-Liedern vom Gigantismus gesprochen! Das Werk erfordert tatsächlich fünf Solisten und einen Rezitator, vierstimmige Männerchöre, einen achtstimmigen gemischten Chor und das gewaltige Orchester besteht aus vier kleinen Flöten, vier großen Flöten, drei Oboen, zehn Hörnern, vier Harfen, einer Celesta und dem Streichquintett proportional erhöht. Wenn Gigantismus vorliegt, bietet die Dosierung der Geräusche nichts Ungewöhnliches. Wir befinden uns hier sicherlich vor einem einzigartigen Werk, aber nicht mehr als bestimmte Seiten von Wagner, Hector Berlioz (1803-1869) oder Anton Bruckner (1824-1896). Ganz im Gegenteil!  

GURRE-LIEDER - Simon O'Neill (Waldemar), Christina Nilsson (Tove), Alan Gilbert, Dirigent © Peter Fischli / Luzern Festival

Gurre-Lieder Konzert - 15. September 2024 - Konzertsaal KKL

Wagner: Musik hört dort auf, wo die Macht der Worte beginnt…

In diesem Jahr feiern wir den 150. Geburtstag von Schönberg und pünktlich zum Abschlusskonzert des LUZERN FESTIVAL 2024 kommt das NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg unter der Leitung von Alan Gilbert mit mehr als dreihundert Musikern, um die so selten aufgeführten kolossalen Gurre-Lieder zu interpretieren.

Der Komponist Franz Schreker (1878-1934) hatte die Uraufführung am 23. Februar in Wien dirigiert. Schönberg war damals vom Stil und Charakter des Stücks desillusioniert und sogar gleichgültig gegenüber seiner positiven Aufnahme: „Ich war eher gleichgültig, sogar ein wenig wütend. Ich rechnete damit, dass dieser Erfolg keinen Einfluss auf das Schicksal meiner weiteren Werke haben würde“. Später milderte er sein Urteil in einem Brief an Wassily Kandinsky (1866-1944): „Ich verachte diese Arbeit sicherlich nicht, wie Journalisten immer annehmen. Denn obwohl ich mich seitdem stark weiterentwickelt habe, habe ich mich nicht verbessert, aber mein Stil hat sich einfach verbessert… Ich halte es für wichtig, dass die Leute an die Elemente dieses Werks glauben, die ich durch die Fortsetzung bewahrt habe.“

Es versteht sich von selbst, dass die Wiedergeburt – ja die Auferstehung – dieser Gurre-Lieder einfach einmalig, vielleicht sogar historisch ist! Sicherlich hat das Werk den Ruf, sehr schwierig zu sein und es erfordert ein über alle Massen lobenswertes übergroßes Orchester, außergewöhnliche Sänger, eine imposante Chorkraft, aber es ist nicht unspielbar. Es braucht unbedingt eine luxuriöse Besetzung! Die großen Erwartungen wurden übertroffen, wie wir sehen werden.

Schönberg hält die Essenz der Legende in drei ungleichen Teilen fest: Der erste, eine Erweiterung der Tristan-Chromatik ein Liebesduett zwischen Waldemar und Tove, dann die Ankündigung des Todes von Tove, ermordet von Waldemars Frau. Der zweite Teil: Waldemars Klage. Der dritte Teil: Waldemar wird sehr verzweifelt und verflucht Gott, wodurch er zu einer endlosen Geistersuche verdammt ist, bevor er das Erwachen der Natur heraufbeschwört. Die Komposition spiegelt diese hektische Fahrt und die Qualen wider, die sie hervorruft, mit Momenten roher Kraft wie dem Sommerwind, der alles wegfegt, was sich ihm in den Weg stellt. Allerdings spinnt Schönberg einen Faden der Hoffnung durch diese dunklen Szenen, die in einer Ruhe gipfeln, in der die Natur selbst zu heilen und wiedergeboren zu werden scheint, die ultimative Katharsis der Menschheit selbst.

Die Gurre-Lieder gelten allgemein neben dem Werk: Die verklärte Nacht als das bedeutendste Tonwerk des Komponisten. Es wird oft als postromantisch, lyrisch, bombastisch beschrieben und konnte das Wiener Publikum von 1913 äußerst erfreuen, aber es enthält mehrdeutige Elemente, Experimente und Wagemut, die sich zwischen den beiden entwickeln. Der erste und der letzte Teil bilden eine Art direkten Übergang zur Atonalität und folgen gleichzeitig markant dem Weg, den Kandinsky in der Malerei eingeschlagen hat. Dieses Werk, ein wahres Labor eines neuen Musikstils, wurde von der illustren Phalanx aus Hamburg voll und ganz hervorgehoben. Es wird schwierig sein, diesem Konzert hier eine erschöpfende Hommage zu erweisen, da den wunderbaren Momenten die Wunder und betörenden Zauber einer üppigen Partitur folgten.

GURRE-LIEDER - Simon O'Neill (Waldemar), Thomas Quasthoff (Sprecher), Michael Nagy (Bauer), Alan Gilbert, Dirigent (© Peter Fischli / Luzern Festival)

Das Präludium, ist sehr aufregend im Stil von Claude Debussy (1862-1918) und von Maurice Ravel (1875-1937): Wir bewegen uns zwischen La Mer, CD 111 (1905) und dem Morgengrauen von Daphnis et Chloé, N° 1 et 2, M 57 (1912), symbolistisch und nicht impressionistisch, wie oft fälschlicherweise angenommen wird. Es ist ein Schimmern, ein Stauben destillierter leuchtender Funken durch bereits schwebende Saiten, die aus einem Orchester hervorgehen, dessen Abwesenheit technischer Einschränkungen und unendliche Poesie wir spüren. Hier und da tauchen die Akzente des Werks Die Seejungfrau (1905) von Alexander von Zemlinsky (1871-1942), Lehrer von Schönberg, in ihrer charakteristischen sirupartigen Wiener Geschmeidigkeit auf, aber schon fühlen wir uns in eine andere musikalische Welt geführt, von einem Orchester, dessen Cremigkeit und Sinnlichkeit einfach himmlisch sind. Wir denken an die Worte der Sopranistin im Streichquartett N° 2, Op. 10 (1907/08) von demselben Schönberg, der die Worte von Stefan George (1868-1933) vertonte: “Ich fühle die Luft anderer Planeten, der Boden entgleitet, ich gehe hindurch. Über der letzten Wolke“. Auf dieser Reise zu den Toren des übernatürlichen, diesem destabilisierenden Aufstieg zu einer unglaublichen Sphärenharmonie bietet das Orchester in der Schwerelosigkeit eine kaleidoskopische Klangodyssee, geschmückt mit unbeschreiblichen Farben, mit unerforschten musikalischen Dimensionen, in denen Ausdruck herrscht und überschreitet die Grenzen des Unbekannten, um das Unbeschreibliche zu berühren. Der Abend würde mehr als unvergesslich werden!

Das Liebesduett, das dem Präludium folgt, bezieht sich sowohl auf Gustav Mahlers (1860-1911) Das klagende Lied (1901) als auch auf die erstickende Tristan-artige Feuchtigkeit. Der in diesem Werk erfahrene neuseeländische Tenor Simon O’Neill (Waldemar) singt mit größer Überzeugung und Ausdauer, mit einer Stimme, die in den sehr hohen Tönen manchmal etwas forciert ist. Seine Farbe erinnert mitunter auch an den großen John Vickers (1926-2015) hinsichtlich seiner Tapferkeit und an René Kollo (*1937) hinsichtlich seines Tons. Er verfügt über die unbestreitbare Bandbreite des erforderlichen spezifischen Heldentenors, zwischen Wagners Tristan und Isolde und dem Kaiser von Richard Strauss (1864-1949) in Die Frau ohne Schatten, Op. 65 (1919). Die schwedische Sopranistin Christina Nilsson (Tove) scheint eher im Hintergrund zu bleiben, aber sie liefert eine äußerst ehrenvolle Gesangsdarbietung ab, mit einem bemerkenswerten Orgasmusanfall, wenn sie den Kuss der Liebenden heraufbeschwört. Allerdings ist es ein wenig schade, dass die beiden Sänger auf dem Podium getrennt werden, denn dieser erste Teil der Gurre-Lieder muss viel Leidenschaft, das Aufkommen der Sehnsucht zum Ausdruck bringen, fast in Wellen, es ist ein langes, üppiges Liebeslied, mit leidenschaftlichem Versprühen, Orchesterfarben, die offensichtlich an Wagners Chromatismus angelehnt sind, aber mit einer noch raffinierteren, Strauss-Schreibweise, die aber ein gewisser Giacomo Puccini (1858-1924) wegen des unvollendeten Finales von Turandot (1926) nicht desavouiert hätte. Wir nehmen die unbestreitbare Prägung von Mahler und Strauss wahr, mit einer postromantischen Palette und einer durchsetzungsfähigen Klangstruktur. Die Komposition wagt sich an chromatische Mäander und harmonische Schichten heran, die sich als Reaktion auf den Reichtum der Instrumentalfarben subtil verwandeln. Die Streicher  und Bläser sind einfach magisch! Bravo Hamburg!

Die Genialität von Gilberts Direktion ist in jedem Moment spürbar, da es ihm gelingt, in einem so komplexen Werk die Quadratur des Kreises zu schaffen: Die Analyse ,die Offenlegung der Details der Partitur, in ihren kleinsten Wendungen, mit Aufmerksamkeit für jedes Pult und der Geist, die Intelligenz, die Höhe des Blicks und eine Vision. Wir sind weit, sehr weit von den Klischees entfernt, die dieses als übertrieben, gigantisch beschriebene Werk manchmal umgeben. Nein! Es ist sowohl eine musikalische Synthese als auch ein synästhetisches Erlebnis, dasselbe, von dem Charles Baudelaire (1821-1867) spricht, der Höhepunkt des Gesamtkunstwerks, von dem Wagner träumte. Nach einem solchen Höhepunkt ist die amerikanische Mezzo-Sopranistin Jamie Barton in der Intervention der Waldtaube, die Turteltaube, die an den Tod von Tove erinnert, so tief sardonisch und sehr bissig wie nur möglich, mit kontrolliertem schwarzen Tönen und voll verkörperter Tiefe. Ihre tragische Deklamation, ohne Künstlichkeit oder Affektiertheit, düster, nüchtern und kraftvoll, mit überaus ausdrucksstarken Wendungen, wird unter anderem diesen Abend geprägt haben. Hier wird Musik am Ende des ersten Teils allmählich verstörender und kündigt die neuen Wege der Zukunft an. Gilbert markiert mit akribischer Aufmerksamkeit die schmerzlichen Reliefs einer Musik, die den Zufall der Vernunft in giftigen Klängen zu markieren scheint. Der zweite Teil, sehr kurz, ein herzzerreißendes Lied von Waldemar als Reaktion auf den Tod von Tove, ist ein Musterbeispiel für Gesangsdarbietung und Emotionen: O’Neill ist ideal, wir glauben, dass er sich perfekt mit Wagner-Rollen auskennt und seine Interpretation ist tiefgründig sensibel, leibhaftig und emotionell.

Das von sehr düsteren Wagner-Tuben getragene Vorspiel zum dritten Teil mit sehr wahrnehmbaren Anklängen an Die Walküre, WWV 86B (1870) aus Der Ring des Nibelungen (1876) von Wagner und den fünf Filmen Twilight (2OO8/09/10/11/12) nach den Romanen von Stephenie Meyer (*1973) ist in mehr als einer Hinsicht faszinierend: Das Orchester, so perfekt wie eh und je, beschwört das Erwachen der Gespenster herauf. Bald beginnt ein Wettlauf in Richtung des Abgrunds, der Erinnerung an Berlioz, in seinen gespenstischen Unebenheiten. Nichts Schweres, alles ist in Ordnung, gewissermaßen marmorhaft gemeißelt! Der Ton zerfällt, wie Waldemars psychisches Universum, verloren in einem tragischen Wettlauf. Der deutsch-ungarische Bass-Bariton Michael Nagy ist als Bauer ideal, in seiner knirschenden Beschwörung des Erwachens der Geister. Es fällt auf, die Symbolik zu bemerken, die in dieser Passage am Werk ist: Diese Geister sind im metaphorischen Sinne zu verstehen, was durch die Direktion von Gilbert angedeutet wird. Diese Musik wird tatsächlich buchstäblich von den Gespenstern eines reichen, aber schwerfälligen Musikdramas von der Vergangenheit heimgesucht, sie kehren zurück, jagen, quietschen und wirbeln im Kopf des Komponisten, der sie schließlich begräbt, um seinen eigenen Stil durchzusetzen. Der Auftritt der Chöre des Rundfunkchor Berlin, MDR-Rundfunkchor, NDR Vokalensemble ist spektakulär: Kraft, Diktion, epischer Atem, Poesie, alles ist perfekt und markant. Der Narr Klaus, getragen von dem ebenfalls sehr engagierten deutsch-kanadischen Tenor Michael Schade, kommentiert mit einem spöttischen Zynismus, der an Mime aus Der Ring des Nibelungen von Wagner erinnert, den Wahnsinn des Königs, kündigt die Irrtümer der Erwartung, Op. 17 (1924) an, in einer Musik, die es schafft, die Grenzen der zu erkundenden Vernunft und laut an den Mauern der Atonalität anklopft. Welche Kraft steckt in den Worten des Chors, der „Die Zeit ist um!“ singt, immer  in einer  metamusikalischen Perspektive, als würde der Komponist selbst, sowohl entschlossen als auch verängstigt, seine neue Schöpfung, seine neue Sprache kommentieren, wie die nicht-figurativen expressionistischen Formen Kandinskys, die im Raum einer Klangleinwand zu den schwimmenden Dimensionen  des Universum werden.

Das abschließende Eingreifen des Sprechers und das Ende des Werkes mit „Die höllische Jagd nach dem Sommerwind“ stellen  zweifellos den Höhepunkt dieses denkwürdigen Abends dar: Der deutsche ehemalige Bariton Thomas Quasthoff spricht sich sehr ehrenvoll aus dieser Passage aus, die im Allgemeinen Wagner-Veteranen anvertraut werden, man erinnere sich noch an den deutschen Bass-Bariton Franz Masura (1924-2020). Auch wenn diese Sänger teilweise vom Orchester verdeckt werden, um diese erwachende Natur darzustellen, die von einem Saft gewirkt wird, der nur darum bittet: Hervorzuspringen! Es ist unmöglich, nicht zur Ruhe zu kommen, denn wenn wir an den musikalischen Wagemut Schönbergs denken und wenn der Sprecher sagt: „Sieh! Nun ist auch das vorbei!“ Die wundersamen Flöten der Transparenz erzeugen ein detailliertes, präzises Bild, das an die naturalistischen Studien von Albrecht Dürer (1471-1528) ebenso erinnert wie an die kristallinen Farbtönen von Ravel in L’enfant et les sortilèges (1925) und  es ist wie ein Rascheln im Gras, eine Klangwelt voller körniger Quarzdetails, ästhetischer Disharmonien, die den Zuhörer bezaubern und faszinieren, eingetaucht in den Beginn eines neuen musikalischen Kontinents. Wir hören wirklich Sprechgesang, sehr gekonnt, denn wo Insekten, Spinnen, Frösche, Schmetterlinge, eine ganze Welt nah und fern paradieren und den belebenden Sommerwind, angedeutet von erstickend schönen Cellos. Wenn der Schlusschor „Seht die Sonne farbenfroh am Himmelsaum“ explodiert, berühren wir das Unaussprechliche, in einem inbrünstigen Schluss, in dem die Sänger, der Dirigent und die Musiker vom mystischen Erreger verklärt zu sein scheinen, einer Apotheose, die nun den Weg zu allem öffnet in einer künstlerische Revolutionen des 20. Jahrhunderts, Erleuchtung in Form eines apollonischen Triumphs, eines optimistischen Sieges, bei dem die Kunst erneut über die Schatten siegt.

Nach solch einer triumphalen Aufführung stehen wir praktisch sprachlos da: Ein faszinierendes revolutionäres Werk, wie ein neues künstlerisches Ideal, das vollständig im erhabenen Titel enthalten sein könnte des Gemäldes von Giovanni Segantini (1858-1899), das Schönberg im Quartett N° 2 von 1905 beeinflusste: „Werden – Sein – Vergehen“, ein Symbol des Übergangs, bei dem das Alte dem Neuen in einem ewigen Zyklus von Schöpfung und Transformation weicht, erleuchtet von einer neuen triumphalen Sonne, die neue Morgendämmerung folgte der Götterdämmerung (1876 / Der Ring des Nibelungen) von Wagner. Eine neue Musik wurde geboren! Bei den Kelten war Imbolc ein Fest, das die Rückkehr des Lichts feierte, die Hoffnung auf die ersten Strahlen einer regenerierten und belebenden Sonne: Es ist vielleicht kein Zufall, dass Gilbert an diesem Abend ein prestigeträchtiges Fest feiern wollte. Die Phalanx und ihre übermenschlichen Chöre versammelten sich, um dieses andere Frühlingsritual zu feiern. Wir feierten mit, mit minutenlangem Beifall… (PMP/20.09.2024)