LOHENGRIN: Ein Schwanenritter für alle Fälle - Teil 2, IOCO Essay, 06.12.2021

LOHENGRIN: Ein Schwanenritter für alle Fälle - Teil 2, IOCO Essay, 06.12.2021
LOHENGRIN - Gemälde von August von Heckel © Wikimedia Commons
LOHENGRIN - Gemälde von August von Heckel © Wikimedia Commons

LOHENGRIN: Ein Schwanenritter für alle Fälle - Teil 2

Lohengrin -  Essay Teil 1 - Der Ritter mit dem Schwan - eine mittelalterliche Legende - link HIER!

von Peter Michael Peters

Schwanenmythen

Seit jeher übten Schwäne, diese imponierend majestätisch wirkenden Schwimmvögel, auf die Menschen vieler Kulturen, von Skandinavien bis Kleinasien, von Persien bis China, eine große Faszination aus und regten ihre Phantasie lebhaft an. In den verschiedenen überlieferten Mythen, Sagen und Märchen umgab den Schwan stets eine Aura des Außergewöhnlichen, geheimnisvoll Wunderbaren und dämonisch Zauberhaften; häufig wurden ihm übernatürliche Eigenschaften zugeschrieben und man glaubte in ihm ein gleichsam nichttierisches Geschöpf, ja sogar die Inkarnation eines höheren Wesens zu erblicken.

Neben der aufgrund ihres ausgeprägt erotischen Reizes in zahlreichen Darstellungs-Varianten, vor allem der bildenden Künste verbreiteten Geschichte von Zeus, der sich aus Liebe zu Leda in einen Schwan verwandelte und in solcher Gestalt mit ihr die Dioskuren Castor und Pollux sowie Helena zeugte, dürfte auch heute noch die bekannteste Legende sein, dass der Schwan in Ahnung seines Todes zu singen anhebe. Bis in die Gegenwart werden daher die letzten Worte oder Werke eines Menschen, hauptsächlich die eines Künstlers, gern metaphorisch als Schwanengesang bezeichnet. In der Tat geht Schwan etymologisch auf das indogermanische Wort svéno (tönen, klingen) zurück, welches im lateinischen sonare gleichbedeutend wiederkehrt, während der Schwan bei den Römern entweder cycnus oder olor hieß.

Spuren und Wurzeln der Schwanen-Mythen lassen sich bis weit in das antike Zeitalter zurückverfolgen und vom nördlichen Europa bis nach Asien entdecken. Insbesondere der „singende Schwan“ fesselte die Einbildungskraft und wird schon bei Hesiod (VIII. Jahrhundert v. J.C.) erwähnt: „Cycnus (…) stimmt sogar sterbend noch Trauergesänge an.“ Die Mythologie kennt mehrere Träger des Namens Kyknos bzw. Cycnus. Ovid (43 v. J.C. - 17 n. J.C.) etwa berichtet in seinen Metamorphosen (II. Buch / 8 n. J.C.) zum einen von Cycnus, dem Sohn des König Sthenelus, der über das Volk der Ligurer in Italien herrschte. Er war ein Cousin und Freund des Phaeton, dem unglücklichen Lenker des Sonnenwagens, den Jupiter mit einem Blitz erschlug, da er Himmel und Erde bei seiner Fahrt in Brand gesetzt hatte. Cycnus trauerte tief und beklagte den Verlust des Phaeton so sehr, dass ihn die Götter aus Mitleid in einen Schwan verwandelten: „Neu wird Cycnus als Schwan, und er traut nicht Jupiters Himmel, / Stets gedenkend der Glut, die jener gesendet mit Unrecht; / Weiher bewohnt er und offene Seen; und hassend das Feuer, / Hat er gewählt zum Sitze das Wasser, feindlich den Flammen.“

Zum anderen schildert Ovid in den Metamorphosen (VII. Buch) jenen Cycnus, der ein Sohn des Apollo und der Hyrie war und seinen Freund Phyllius so lange quälte, bis dieser sich von ihm abwandte. Um ihn zu kränken, stürzte sich Cycnus von einem Felsen, wurde aber noch im Flug zu einem Schwan verwandelt. Und schließlich erscheint bei Ovid ein dritter Cycnus oder Cygnus in den Metamorphosen (VII. Buch), ein Sohn des Neptun von diesem unverwundbar gemacht für menschliche Waffen. Als neugeborenes Kind war er heimlich an der Meeresküste ausgesetzt worden, doch Schwäne hatten ihn gefunden und Fischer ihn aufgezogen. Während des Trojanischen Kriegs kämpfte er gegen die Griechen und versuchte deren Landung zu verhindern. Jedoch gelang es Achilles ihn zu betäuben und mit dem Riemen seines eigenen Helmes zu erwürgen. Neptun verwandelte den Leichnam seines Sohnes daraufhin in einen Schwan und entzog ihn so weiterer Misshandlungen.

Teilweise wird erzählt, dass Neptun den Cycnus als Sternenbild an den Himmel versetzt habe; eine andere Version bezieht sich dagegen auf den Phaeton-Mythos, indem die Götter, berührt von den Klagen des Cycnus, ihm einen Platz am Firmament gaben und den Schwänen seitdem einen letzten Gesang erlaubten, bevor sie starben.

LEDA und der Schwan Gemälde PP Rubens © Wikimedia Commons
LEDA und der Schwan Gemälde PP Rubens © Wikimedia Commons

Vergil (70-19 v. J.C.), der übrigens späterhin den blumigen Beinamen Schwan von Mantua erhielt, schreibt in seiner Aeneis (29-19 v. J.C.): „Cycnus schwang von der Erde sich auf und folgte mit Sang den Gestirnen.“ Auch der gelehrte Aristoteles (384-322 v. J.C.) weiß von den Schwänen zu sagen: „Melodisch sind sie und singen, zumal vor dem Tod.“ Dagegen lässt Platon (428/427-348/347 v. J.C.) in seinem Phaidon (?-399 v. J.C.) eine andere Deutung jenes Gesangs geben, da die Schwäne „wenn sie merken dass sie sterben sollen, wie sie schon sonst immer gesungen haben, dann am meisten und am vorzüglichsten singen, weil sie sich freuen dass sie zu dem Gott gehen sollen, dessen Diener sie sind. (…)Weil sie dem Apollon angehören, sind sie wahrsagerisch; und da sie das Gute in der Unterwelt voraus erkennen, so singen sie und sind fröhlich an jenem Tage besonders und mehr als sonst vorher.“ Cicero (106-43 v. J.C.) greift in den Tusculanae disputationes (Gespräche in Tuskulum) diesen Gedanken auf und bekräftigt, dass die Schwäne von Apollo die Gabe der Weissagung erhielten „dank deren sie vorhersehen, was an Gutem im Tode liege, so dass sie mit Gesang und Lust sterben.“ Apollo (Gott des Lichts, der Orakel, der Künste und vor allem der Musik) und der Schwan (den der Dichter Kallimachos (305-240 v. J.C.) „des Gottes melodischer Sänger“ nannte) sind ein Ganzes seit der Geburt des Gottes, denn sein Vater Jupiter gab ihm neben der Lyra auch ein Gespann, das von weißen Schwänen gezogen wurde, die auf einem See am Tempel seines Geburtsorts schwammen - ehrfürchtig verehrt als die heiligen Vögel des Apollo. Schwäne waren aber auch in einigen Darstellungen dem Wagen seiner Zwillingsschwester Diana vorgespannt und galten ebenso als heiliges Tier der Liebesgöttin Venus, obwohl der Bedeutungskomplex des Schwans während der Antike vorherrschend unter männlichen Aspekten gefasst war. Eine eher marginale Ausnahme liefert ein Kommentar von Aischylos (525-456 v. J.C.), demzufolge die sogenannten Graien, also die drei Parzen, die Schicksalsgöttinnen, Schwanengestalt angenommen haben sollen.

In der indischen Mythologie reitet der Schöpfergott Brahma auf dem Schwan Hamsa, wobei allerdings nicht streng unterschieden wird zwischen Schwan, Gans und Pfau. Da man annahm, die Erde schwimme auf dem Wasser, sollte durch die Vereinigung Brahmas mit dem Wasservogel die zum Gedeihen und Wachstum notwendige Vereinigung der Erde mit dem Wasser symbolisiert werden. Darüber hinaus verkörpern Schwäne im Hinduismus das Ein- und Ausatmen, den Atem und den Geist. Hamsa ist der göttliche Vogel, der das Welten-Ei auf die Wasser legte, das goldene Ei der Schöpfung, aus dem Brahma entsprang. Die beiden Hälften seiner Schale bildeten danach Himmel und Erde.

Im Chinesischen gehört der Schwan dem Yang an, dem aktiven Prinzip, dem Geist, dem allgemein Positiven, das durch alles Helle versinnbildlicht wird: Mithin ist er ein Sonnenvogel!

Bei den Kelten besitzt der Schwan eine uralte, tiefreichende mystische Bedeutung. Da der Schwan in sich die beiden Elemente Luft und Wasser symbolisch vereint, ist er in besonderer Weise der Vogel des Lebens und entsprechend üben die keltischen Schwanengottheiten einen wohltätigen Einfluss aus, denn sie besitzen die heilende Kraft der Sonne und der Gewässer. Vielfach werden sie mit dem Sonnenwagen assoziiert und stellen gleichermaßen Wohlwollen und Güte dar, wie Liebe und Reinheit. Ihre Musik hat Zauberkraft! Die Kelten glaubten, dass Schwäne mit goldenen und silbernen Ketten um den Hals die übernatürlichen Erscheinungen von Gottheiten seien. Aus der Haut und den Federn des Schwans fertigten sie den tugen des Dichters, einen feierlichen Umhang, der das Zeichen seines Amtes war und den Zusammenhang zwischen seiner Funktion und der Sprache der Vögel mit ihren geheimnisvollen Formeln herstellte. Es gibt in den keltischen Mythen die Geschichte von Lir oder Ler, der vier Kinder hatte, die von ihrer Stiefmutter in Schwäne verwandelt wurden und so Hunderte von Jahren lebten, bis sie durch einen Heiligen befreit wurden, der ihnen silberne Ketten umhängte und sie unterrichtete.

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Eine große und wichtige Rolle spielt der Schwan in der germanischen Mythologie. Schon im Urbrunnen der drei Nornen, aus dem die Weltesche getränkt wird, schwimmen zwei Schwäne, und die Nornen selbst singen in Schwanengestalt, auch darin den antiken Parzen sehr ähnlich. Die geretteten Seelen Verstorbener verwandelten sich angeblich zu Schwänen, Elfen und erschienen häufig als Schwan. In späterer Zeit dienten Schwäne den Feen als Zugtiere ihrer Gefährte, was wie ein Bezug auf den Wagen der Venus anmutet. Zu allen Lichtgottheiten die in Luft und Wasser walten, steht der Schwan in der germanischen Welt in engster Beziehung, ebenso besitzt er die Gabe der Weissagung. Noch im heutigen Sprachgebrauch widerspiegelt dies zur Andeutung einer (meist schlimmen) Vorahnung die Wendung „es schwant mir“. Von den nordischen Valkyrien (Walküren), die das Schicksal der Schlachten bestimmen, heißt es „dass sie durch Luft und Wasser ziehen“, also über die Fähigkeit zu fliegen und zu schwimmen verfügen. Darum nehmen sie „oft den Leib eines Schwans“ an, weshalb sie auch Schwanenjungfrauen genannt werden. Gern ruhen sie an Seeufern und wenn sie baden, so legen sie ihre Schwanenhemden oder den Schwanenring ab. Wer einen der Gegenstände raubt hat sie in seiner Gewalt! Es existiert eine Vielzahl von einschlägigen Mythen und Sagen, deren populärste gewiss die von Wieland (Völundr) dem Schmied ist, wie sie die Edda berichtet. Weniger bekannt dagegen dürfte sein, dass Wagner 1850 einen Dramenentwurf Wieland der Schmied verfasste.

Obwohl nicht ausdrücklich die Rede von Schwanenjungfrauen ist, treffen im Nibelungenlied die Burgunder an der Donau auf solche Wesen, deren Hagen das Gewand zunächst wegnimmt, aber auf ihr Angebot hin, die Zukunft vorherzusagen, zurückgibt. Sie weissagen den Tod der Burgunder. Meist verheißt der Schwan zwar Gutes, vor allem gilt er Seeleuten als freundliches Omen, da er sich in Küstennähe aufhält, nur einmal kündet er in einer Erzählung den Weltuntergang, indem er einen Ring, den er im Schnabel hält, fallen lässt. War der skandinavische Schwanenmythos im Gegensatz zum griechischen vorwiegend von weiblichen Elementen gekennzeichnet, so unterlag er bis zum Mittelalter der Veränderung, dass aus dem ursprünglichen Schwanenmädchen allmählich der Schwanenritter wurde, geleitet von dem Vogel, der seinerseits zumeist ein verwandelter Mensch war.

Das Urbild ist die Sage von Sceaf, der in einem Nachen von Schwänen gezogen nach dem Land Skandia kam und dort als ein Gottgesandter zum König erwählt wurde. Da seine Gattin jedoch das Gebot übertrat nach seiner Heimat zu fragen, musste er wieder scheiden. Aus der Zeit der Kreuzzüge stammt das altfranzösische Gedicht Le Chevalier au Cygne, in dem u.a. beschrieben wird, wie Helias, ein Sohn des Königs Oriant von einem Schwan gerufen wird, um eine des Ehebruchs angeklagte Fürstin zu retten. In einem Gottesgericht siegt er und erhält die Tochter der Fürstin zur Frau, der er den Eid abnimmt, niemals nach seinem Namen und seiner Herkunft zu fragen. Nach sieben Jahren bricht seine Gemahlin den Schwur, woraufhin der Schwan erscheint und ihn entführt. Der Name Helias ist ein bewusst gewählter Anklang an den biblischen Elias, dessen Name wiederum auf Christus verweist und jedenfalls die Auserwähltheit und den Gottesgesandtheit betont. In einer Vorgeschichte übrigens werden sechs der sieben Kinder Oriants durch ihre Großmutter in Schwäne verwandelt. Das siebente, nämlich Helias, erlöst schließlich seine Geschwister dadurch, dass es ihnen goldene Ketten umlegt. Schwanenring, Schwanenkette, Schwanenhemd – sie sind generell identisch mit jenem magischen Gürtel oder Kleid, die den Menschen in ein Tier verwandeln. Vielmals wurde die den lichten oder finsteren Mächten verliehene Gabe zur Verwandlung entweder ein Mittel edler oder dämonisch-düsterer Zwecke.

VENUS mit dem Schwan - um 1500 entstandenes Gemälde von Vincenzo Cartari © Wikimediea Commons
VENUS mit dem Schwan - um 1500 entstandenes Gemälde von Vincenzo Cartari © Wikimediea Commons

Schwanenrätsel – Die Seelenbühne der weißen Magie

Lohengrin, die Tragödie des Frageverbots, ist ein in historische Zeiten eingelassenes Märchen voller bösem und gutem, heidnischem und christlichem Zauber. Seine magische Wirrsal klärt sich sofort, wenn man es als die Traumerzählung nimmt, die es ist: Der Traum eines in der Blüte der Pubertät stehenden jungen Mädchens, das träumend durchlebt, wie es im Wald lustwandelnd ihren Bruder verliert, auf den sie doch aufpassen sollte und sich deswegen gescholten und verklagt sieht. Sie weiß nicht zu antworten, als sie aber unter der Wucht der Vorwürfe zu erliegen droht, kommt schwanengezogen ein schöner Jüngling und rettet sie. Der in die Silberhelle weißer Magie Getauchte wird ihr Gemahl unter einer Bedingung: Dass sie ihn niemals fragen würde, wer er sei! Das Verbot bezieht sich offenbar auf einen Umstand, würde er bekannt, den Vollzug der Ehe sofort unmöglich machte. Darum ist der Zwang es zu übertreten, noch vor diesem Vollzug, unausweichlich. Die Frage wird also gestellt, aus dem zwingenden Empfinden, dass etwas Verbotenes geschähe, wenn die Identität des Bräutigams unaufgeklärt bliebe. Die Hexe, die zu der verbotenen Frage verführend Einlass bei der Braut findet, ist ersichtlich die Stimme ihres schlechten Gewissens.

Gestaltentausch

Wieland der Schmied - Gemälde von Moritz von Schwind © Wkimedia Commons
Wieland der Schmied - Gemälde von Moritz von Schwind © Wkimedia Commons

Prompt tritt das Angedrohte ein: Der Geliebte, der dies nur sein konnte, solange er unerkannt blieb, entzieht sich nicht ohne im Entschwinden seine Identität preiszugeben. Er tut dies scheinbar mit Worten, mit Hinweisen auf ferne Ritter und einem magischen Gefäß, aber er tut es in Wahrheit durch einen Gestaltentausch: Lohengrin verwandelt sich in Gottfried, den verschwundenen Bruder, zurück. Dieser, der zum Schwan wurde, der mythisch bezeichnenden, sexuell prägnanten Zeus-Gestalt, ist Lohengrins wahre Identität. Elsa, die Schwester hat sich den Bruder in die Gestalt des erlösungsmächtigen Fremden verwandelnd über das Inzestverbot hinwegphantasiert. Aber im Untergrund ihres Traumbewusstseins blieb das Verbotene ihres Tuns in Kraft und somit muss sie fragen, was ihr in des Wortes sinnfälligster Bedeutung schwant, damit die Vereinigung nicht vollzogen werde. So entschwindet Lohengrin von der Taube, dem Antischwan über das Wasser gezogen und die Transformation des erotisch versperrten Bruders in die scheinbar erreichbare Phantasiegestalt ist zusammengebrochen. Das Tabu war stärker als der Versuch seiner Umgehung; die bange aber unvermeidliche Frage hat die Verzauberung durchbrochen. Lohengrin entschwindet „mit gesenktem Haupte traurig auf seinen Schild gelehnt“, Gottfried tritt an seine Stelle. Die Enttäuschung über die Wiederherstellung der erfindungsreich umgangenen Tabu-Realität wirft die Liebende zu Boden. Im Traum erlebt sie das Ende des Traums als ihr eigenes Ende.   PMP-30/09/21-2/14

—| IOCO Essay |—

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