Linz, Landestheater Linz, PARSIFAL - Richard Wagner, IOCO Kritik, 29.3.2022
PARSIFAL - Richard Wagner
von Marcus Haimerl
Die letzte Inszenierung von Richard Wagners letzten Bühnenwerks, dem Bühnenweihfestspiel Parsifal, liegt mittlerweile 39 Jahre zurück und umfasst damit nahezu die gleiche Zeitspanne wie die Entstehungs-geschichte selbst. Bei einem Kuraufenthalt in Marienbad las Wagner Wolfram von Eschenbachs Parzival und Titurel. Wie in seiner Autobiografie Mein Leben festgehalten, übte der „Mythenkomplex“ sofort „einen übermäßigen Reiz“ auf ihn aus, verbunden mit der Sehnsucht nach eigener Gestaltung. 1857 entstand eine erste Skizze zu Parsifal, wie Wagner in Mein Leben schreibt, die heute als verschollen gilt. Durch Cosima in ihrem Tagebuch dokumentiert, durch Wagner selbst, ist die Inspirationslegende, nach der er die Eingebung am Karfreitag im neuen Domizil neben der Villa Wesendonck empfangen haben will. Ein erster Prosaentwurf entstand 1865 auf Wunsch des bayerischen Königs Ludwig II.
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Obwohl die ersten Bayreuther Festspiele im Jahr 1876 ein enormes finanzielles Defizit hinterlassen hatten und an konkrete Planungen für weitere Aufführungen nicht zu denken war, entstand zwischen dem 25. Januar und dem 23. Februar 1877 ein zweiter Prosaentwurf. An diesen Entwurf schloss sich auch die Urschrift des Librettos an. Die Kompositionsphase setzt im September 1877 ein und endet am 13. Januar 1882. Bereits 1878 war das Vorspiel zum 1. Akt in Partiturreinschrift fertiggestellt und wurde zu Cosimas Geburtstag in Wahnfried aufgeführt. Im November 1880 wird es auch für Ludwig II. in München gespielt. Für das fertige Werk nennt Wagner gegenüber dem Musikverleger Ludwig Strecker (Verlag B. Schott’s Söhne) sein Honorar „hunderttausend Mark und Streichung meiner noch an Sie bestehenden Schulden“. Die Summe entspricht einer heutigen Kaufkraft von rund 800.000 Euro. Am 3.2.1881 begann Engelbert Humperdinck das Autograph zu kopieren, im April 1882 konnte die Arbeit fertiggestellt werden. Humperdincks Kopie war schließlich Vorlage für den Erstdruck, an dessen Vorbereitung auch Dirigent Hermann Levi maßgeblich beteiligt war. Diese erschien posthum Ende 1883. Erste Informationsproben fanden eineinhalb Jahre vor der Uraufführung statt, im Januar wurden erste Zeitmessungen der Verwandlungsmusik durchgeführt, im Sommer 1881 koordinierte Maschinenmeister Carl Brandt erste Bühnenaufbauten. Mit seiner Abreise nach Italien setzte Wagner im Herbst 1881 Hermann Levi als Studienleiter ein. Ludwig II. stellte für den Festspielsommer 1882 den Chor und das Orchester der Münchner Hofoper bereit.
Die Uraufführung fand am 26. Juli 1882 statt, fünfzehn weitere Aufführungen folgten bis zum 29. August. Insgesamt dreizehn Vorstellungen leitete Hermann Levi, sein Assistent Franz Fischer drei. In der letzten Vorstellung dirigierte Wagner, der vom Publikum unbemerkt während des 3. Aktes im Orchestergraben erschien, die Finalszene ab der Verwandlungsmusik selbst.
Nach dem Willen Richard Wagners sollte Parsifal ausschließlich in Bayreuth zur Aufführung gelangen. Eine erste szenische Aufführung außerhalb Bayreuths wurde ohne Zustimmung seiner Witwe Cosima am 24. Dezember 1903 an der Metropolitan Opera in New York dargeboten. Als der Urheberrechtsschutz 1913 auslief, bemühte sich Cosima Wagner die Frist um mindestens 20 Jahre verlängern zu lassen. Auf Grund der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen, richtete sie eine Petition an den Reichstag, um das ausschließliche Aufführungsrecht für Bayreuth zu sichern. Der Reichstag lehnte diese Sondergesetzgebung („Lex Cosima“) ab. Ausgerechnet im Wagner-Jahr 1913 fanden ob dieses Parsifal-Raubes keine Festspiele in Bayreuth statt. Im April 1913 lief die Schutzfrist nach Schweizer Recht ab, noch im selben Monat fand die erste Vorstellung im Opernhaus Zürich statt. Am 1. Januar 1914 um 0:00 Uhr, exakt zum Ablauf der Schutzfrist fand die erste Aufführung im Opernhaus von Barcelona statt. Zahlreiche Theater in Deutschland folgten und brachten noch im Jahr 1914 Wagners Bühnenweihfestspiel auf die Bühne. Die Parzival-Handlung von Wolfram von Eschenbach, auf die auch Richard Wagners Werk zurückgeht, verknüpft christliche mit heidnischen Elementen, um Sexualität, Heilung und Erlösung.
Der Gralsritter Gurnemanz erzählt vier Knappen die umfangreiche Vorgeschichte: König Titurel, von Gott als Hüter der Reliquien des Grals und heiligen Speeres bestimmt, errichtet den Gralstempel und versammelt Ritter um sich, die keusch lebend von den Reliquien gestärkt in die Welt ziehen, um für das Gute zu kämpfen. Auch Klingsor bemüht sich um die Zugehörigkeit der Gralsgemeinschaft. Um auch keusch zu bleiben, entmannt er sich, wird aber dennoch von Titurel abgelehnt. Er möchte nun die Gralswelt zerstören und errichtet ein Gegenreich, einen Zaubergarten, in dem „teuflisch-holde Frauen“ wachsen, die die Ritter verführen sollen. Als Titurels Sohn Amfortas dieser „Zauberplage“ Einhalt gebieten will, wird er von Klingsor mit dem heiligen Speer verletzt, der seit diesem Vorfall in seinem Besitz ist. Eine Prophezeiung zufolge kann nur ein durch Mitleid wissender reiner Tor Amfortas von der Wunde, welche sich nicht schließt, erlösen, Klingsors Zauber brechen und den Speer zurückbringen. In diesem Moment stürmt Parsifal auf das Gralsgebiet und erlegt einen Schwan. Gurnemanz stellt den Frevler zur Rede und bemerkt dessen Naivität. Er kenne nicht einmal den eigenen Namen und weiß nur, dass er von seiner Mutter davongelaufen ist. Er hofft, in ihm den reinen Toren gefunden zu haben und nimmt ihn mit zur Gralsburg, wo Amfortas auf den Befehl seines Vaters ein letztes Mal die Gralsenthüllung vornimmt. Die Zeremonie bereitet ihm Qualen, doch durch den Anblick des Grals wird sein Leben und damit sein Leid verlängert. Parsifal ist von dem Geschehen überfordert, enttäuscht darüber, dass die Erlösungstat ausgeblieben ist, schickt Gurnemanz ihn fort. Klingsor zwingt Kundry, die einst Christus am Kreuze verlachte und seither zu ewiger Wiedergeburt verdammt ist, wieder unter seinen Bann. Sie soll den jungen, von der Gralsburg verbannten Mann verführen. Klingsors Zaubermädchen versuchen ihn zu verlocken, da erscheint Kundry, die ihn erstmals bei seinem Namen ruft. Als sie die ihm bekannte Mutterliebe in eine erotische Liebe umdeutet, erkennt Parsifal im Moment des Kusses die Ursache von Amfortas Leiden und dass er ihn erlösen hätte können. Er stößt Kundry von sich, die Klingsor um Hilfe ruft. Parsifal kann ihm den heiligen Speer entwenden und bringt damit Klingsors Reich zum Einsturz.
Während Parsifals Irrfahrten auf der Suche nach der Gralsburg, spitzt sich die Situation dort zu. Titurel ist verstorben und Amfortas weigert sich, den Gral zu enthüllen und erhofft sich damit ein baldiges Ende. Gurnemanz trifft Parsifal als schwarzen Ritter in der Gralsaue, erkennt den Speer und salbt den reinen, durch Mitleid wissend gewordenen Toren zum neuen Gralskönig. Kundry wäscht diesem die Füsse und wird von ihm getauft. Im Karfreitagszauber leuchtet die Natur sinnbildlich auf. Mit Kundry ziehen Parsifal und Gurnemanz zum Gralstempel. Parsifal schließt die Wunde Amfortas mit der Waffe, die sie schlug und stellt die Einheit von Speer und Schale wieder her und enthüllt den Gral. Kundry sinkt entseelt zu Boden.
In Linz setzt Schauspieldirektor Stephan Suschke Wagner Bühnenweihfestspiel in Szene. Noch ehe das Vorspiel beginnt, zitiert der gealterte Parsifal in einer Projektion Heiner Müllers Gedicht Traumwald:
- Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum
- Er war voll Grauen Nach dem Alphabeth
- Mit leeren Augen die kein Blick versteht
- Standen die Tiere zwischen Baum und Baum
- Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spalier
- Der Fichten mir entgegen durch den Schnee
- Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh
- Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier
- Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt
- Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt
- Die letzte Tagesspur ein goldner Strich
- Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt
- Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich
- Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.
Kaum hebt das Vorspiel an, sieht man den kleinen Parsifal auf einem Schaukelpferd, hinter ihm sitzt strickend seine Mutter Herzeleide. In dieser grauen, schäbigen Säulenhalle (Bühne: Momme Röhrbein) sitzen Gestalten von Tüchern bedeckt. Bevor das Kind Parsifal (gespielt von Antonin Stamm) mit seinem Spielzeugbogen den Schwan erlegt, zieht er noch die Tücher von den verhüllten Figuren und enthüllt neben Gurnemanz den verwundeten Amfortas, aber auch Klingsor mit dem Speer, den er Amfortas einst entriss, ebenso Kundry und Titurel. Nachdem der tote Schwan entdeckt wurde, wird der nun erwachsene Parsifal hereingeführt. Die Gralsritter selbst sind eine martialische Gruppe Männer, die sich bei der Enthüllung des Grals mit Blut ein Kreuz über Gesicht und die nackte Brust malen. Die Blumenmädchen des zweiten Akts erinnern an in Käfig gesperrte Prostituierte, sie hausen zwischen Stockbetten, die notdürftig mit bunten Tüchern verhängt sind. Auf der Plattform darüber herrscht Klingsor. Wenn Parsifal über Klingsor siegt, versinkt der Käfig mit den Blumenmädchen. Der dritte Akt findet schließlich wieder in der Säulenhalle des ersten Aktes statt.
Dominiert wird das Bild von einer Unzahl schwarzer Müllsäcke, die den Boden bedecken. Während des Karfreitagszaubers wird schließlich ein Teil des Mülls beseitigt, aber mit der erwähnten Entzückung des Librettos wird sich hier dennoch niemand umsehen können. Parsifal, in goldene Stiefeletten und einen Militärmantel gewandet, enthüllt den Gral, überreicht einem Knaben ein Gewehr und genießt die Aussicht aus einem Panoramafenster, das Ähnlichkeit mit dem Monumentalfenster in Hitlers Berghof am Obersalzberg aufweist. Insgesamt liefert Stephan Suschke in seiner Regiearbeit wenig erkennbare Interpretation. Im Gespräch mit Dramaturg Christoph Blitt sagt der Regisseur: "Ich vermute, dass Wagner plötzlich gemerkt hat, wie reaktionär sein Modell ist, das einer Lichtgestalt die Lösung der gesamten Misere aufbürdet. Deshalb hat er die Selbstkritik mitgeliefert und sich sowohl in das Dunkle als auch in das Universelle gerettet. In unserer Inszenierung ist das etwas profaner. Irgendwer muss immer bezahlen, wenn die Macht wechselt, und die Großen ihre Siege feiern. Da liegen die Leichen an den Straßenrändern. Ich halte es mehr mit Brecht: Besser als gerührt sein ist sich rühren | Denn kein Führer führt aus dem Salat | Um uns selber müssen wir uns selber kümmern…“.
Musikalisch bleiben keine Wünsche offen. Markus Poschner gelingt mit dem Bruckner Orchester Linz die Musik Wagners eindringlich, berührend und nuanciert, farbenreich, aber vor allem auch sängerfreundlich erklingen zu lassen.
Die vermutlich beeindruckendste Leistung des Abends ist wohl der kraftvolle, wohltimbrierte und sehr wortdeutliche Gurnemanz des österreichischen Basses Michael Wagner, der hier als eine Art Gelehrter in der Gralsgemeinschaft dienen darf. Nach seinen Interpretationen der großen Partien des Kaisers (Die Frau ohne Schatten) und Tristan (Tristan und Isolde) in Linz erlebt man Heiko Börner nun als Parsifal. Intensität und große Durchschlagskraft zeichnen seinen baritonal gefärbten Tenor aus. Besonders überzeugen konnte Heiko Börner vor allem im zweiten Akt. Die US-amerikanische Mezzosopranistin Katherine Lerner begeistert als expressive Kundry mit unglaublich intensiver Ausstrahlung und liefert eine sowohl sängerisch als auch darstellerisch überzeugende Leistung. Der aus Bayreuth stammende Bassbariton Ralf Lukas, kurzfristig als Amfortas eingesprungen, vermittelt glaubwürdig die Leiden Gralskönigs mit seinem warm timbrierten Bariton. Der Klingsor des südkoreanischen Baritons Adam Kim besticht nicht nur durch seinen höhensicheren Bariton, sondern auch durch seine darstellerische Präsenz. William Mason, der 1983 in Linz als Gurnemanz zu erleben war, weiß auch als Titurel zu berühren. Eine tadellose Leistung auch von den kleineren Partien: Jin Hun Lee (Erster Gralsritter), Tomaz Kovacic (Zweiter Gralsritter), Fenja Lukas (Erster Knappe, Zaubermädchen), Vera Maria Bitter (Zweiter Knappe, Zaubermädchen), Seogmann Keum (Ditter Knappe), Grégoire Delamare (Vierter Knappe), sowie Klingsors Zaubermädchen: Ilona Revolskaya, Hanyo Jang, Jana Markovic und Tina Josephine Jaeger. Auch der hervorragende Chor des Landestheater Linz trägt zu dem großen musikalischen Erfolg des Abends einen großen Anteil.
Am Ende stand großer und verdienter Jubel und vereinzelte Buh-Rufe für die Regie. In jedem Fall ist aber der Besuch des Parsifal in Linz ein lohnenswerter
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