Leipzig, Gewandhaus zu Leipzig, GROSSE KONZERTE, Fokus: Gewandhauskomponist Thomas Adès, IOCO

Leipzig, Gewandhaus zu Leipzig, GROSSE KONZERTE, Fokus: Gewandhauskomponist Thomas Adès, IOCO
Andris Nelsons copyright Konrad Stöhr

19. Dezember 2024

 

Thomas Adès (geb. 1971): America (A Prophecy) op. 19, Uraufführung der erweiterten Fassung

Der Brite Thomas Adès studiert Klavier und Komposition an der Guildhall School of Music in London, setzt seine Studien bei Alexander Goehr und Robin Holloway fort und schließt seine Ausbildung bei György Kurtág, ab. Nach erfolgreichen Aufführungen seiner Kompositionen „Asyla“ durch Simon Rattle mit dem City of Birmingham Orchestra und der Oper Powder Her Face 1995 bringt America (A Prophecy) den internationalen Durchbruch. Heute gilt Adès als der einfallsreichste und gleichzeitig einflussreichste Komponist der Gegenwart, dessen Werke weltweit aufgeführt werden und die von Musikerinnen und Musikern wie vom Publikum gleichermaßen offen und begeistert aufgenommen werden. Auch als Pianist und Dirigent der besten Orchester ist er hoch geschätzt. Die New York Times beschreibt ihn als einen der versiertesten und vollendetsten Musiker seiner Generation. Für Adès gibt es nicht die eine richtige Musik für die Gegenwart und die Zukunft: „Ich komponiere stets das, was mir in dem Moment notwendig erscheint“. Die große stilistische Vielfalt seiner Kompositionen, beeinflusst von Barock, Jazz, Klassik bis zur Atonalität, macht seine Musik für die Zuhörer interessant, ergreift und bewegt sie. „Es ist tatsächlich ein Bestreben von mir, stets um Schönheit zu ringen, selbst wenn ich sie nicht ganz erreichen kann“ (Adès).

Kurt Masur und sein New York Philharmonic Orchestra beauftragen Thomas Adès mit der Komposition eines Beitrags zu einem Konzert „Messages for the Millenium“ zum bevorstehenden Jahrtausendwechsel mit ausschließlich zeitgenössischer Musik. Entgegen der Erwartung seiner Auftraggeber auf ein optimistisches Werk voller Hoffnung auf das Kommende, liefert der Komponist mit America (A Prophecy) eine apokalyptische, menetekelhafte Prophezeiung des Niedergangs. Adès sagt den Untergang der selbsternannten größten Nation der Erde voraus. Masur, zunächst erschrocken, stellt die ursprüngliche Planung auf zwei separate Programme um. America ist ein zweiteiliges Werk für Mezzosopran, Chor und großes Orchester, dessen Uraufführung am 11. November 1999 unter seiner Leitung in der New Yorker Avery Fisher Hall stattfindet. Die Musikkritik ist begeistert. James R. Oestreich von der New York Times beschreibt das Stück als „vielleicht das wichtigste Kapitel des Projekts“. Das Interesse des Publikums hält sich allerdings in Grenzen. Zu dieser Zeit wollen die US-Amerikaner nichts von einem Niedergang des Imperiums wahrhaben, um dann am 11. September 2001 die eigene Verwundbarkeit und die Wahrhaftigkeit der Prophezeiung umso schmerzhafter zu erkennen.

Thomas Adès ist Gewandhauskomponist in der zweiten Spielzeit. Das Cleveland Orchestra, das Hallé Orchestra Manchester und das Leipziger Gewandhausorchester beauftragen ihn mit einer Erweiterung der ersten Fassung. Diese neue dreiteilige Version erlebt heute ihre Uraufführung. Im ersten Satz vertont Adès eine alte Maya-Dichtung aus den Büchern von Chilam Balam, im zweiten Satz das Gedicht „La Guerra“ (Der Krieg) von Matteo Flexa. Die Musik ist gekennzeichnet durch eine Dualität von Schlichtheit und ausdrucksvoller Überschwänglichkeit, von Magie und Horror. Im Maya-Teil verkündet in vibratolosem Gesang der Sopran nahendes Unheil: „O my nation prepare!“ Trotz der immer bedrohlicher werdenden, an die Schmerzgrenze gehenden, aggressiven Klänge aus dem Orchester, unüberhörbaren Marschtritten und dem Chor einer eroberungssüchtigen Soldateska, trotz der immer panischer werdenden Warnungen des Soprans ignoriert das Volk die Kassandra-Rufe. Über dem zweiten, dem spanischen Teil liegt der Geruch verbrannter Erde. Die Musik ist eine düstere Klage, die Sopranpartie tonlos, fahl: „We shall turn to ash“. Über einer gewaltigen Orchesterlandschaft erhebt sich die Solostimme. Mit den Stimmen des Chors der Konquistadoren: „Dies ist der Sieg, durch den unser Glaube die Welt erobert“, leise, in lateinischer Sprache, endet der zweite Abschnitt, unheimlich, den eigenen Untergang voraussehend. Aus dieser beängstigenden Stille beginnt der dritte Teil der Komposition. Aus Furcht wird Zuversicht. Der Chor singt einen herrlichen, homophonen Satz: „In every birth a death, in every death a birth“.

Der Text basiert wie der erste Teil auf den Bilam Chalam-Büchern der Mayas. Der Gesang des Chors vereint sich mit dem Sopran zu einem unausgesprochenen Ende, zu einer Hoffnung auf die Zukunft.  

Thomas Adès erweist sich in seiner Musik als mahnender Visionär. Die Prophezeiung wäre ohne die Stärke der Komposition bedeutungslos. Letztlich geht es ihm nicht allein um Amerika. Die Welt steht heute am Scheideweg. Imperialistisches Machtstreben, Kriege in vielen Teilen der Erde, Klimakrise, Hunger, all das bedroht die Existenz der gesamten Menschheit, wenn diese nicht rechtzeitig auf die Warnsignale hört und die richtigen Schlüsse daraus zieht.

Kelley O´Connor, Mezzosopran, ist die begeisternde Solistin der Prophecy.

Kelley O´Connor copyright Kelley O´Connor

Sowohl im klassischen Bereich wie auch in den Werken der zeitgenössischen Musik wird sie international gefeiert. Sie ist Gast der besten Orchester und Opernhäuser der Welt. Die Breite ihres Ausdrucksspektrums trägt wesentlich zur fesselnden und beeindruckenden Wirkung der Interpretation dieses außergewöhnlichen Werkes bei.

 

Gustav Holst (1874-1934): Die Planeten op. 32, eine Suite für großes Orchester, entstand in den Jahren 1914 bis 1917, inspiriert durch seinen Freund Clifford Bax. Kurz nach einer Begegnung im Frühjahr 1912 schreibt Holst: „Ich habe es mir zur Regel gemacht, mich ausschließlich mit Dingen zu beschäftigen, die meine Phantasie anregen….Neuerdings gewinne ich aus den Konstellationen der Planeten eine Fülle von Anregungen und habe recht gründlich Astrologie studiert“. Das Ergebnis ist die Suite „Die Planeten“, das erste Werk für großes Orchester, in dem er seinen eigenen Ausdruck findet. Er nutzt dafür einen gewaltigen Orchesterapparat und für den letzten Teil zusätzlich einen textlosen, sechsstimmigen Frauenchor. Die Suite umfasst sieben Sätze. Holst rechnet die Erde nicht mit. Dem erst 1930 entdeckten „Pluto“ wurde inzwischen der Planetenstatus wieder aberkannt. 1918 führt das London Symphony Orchestra unter Adrian Boult die Komposition vor 250 geladenen Gästen in der Londoner Queens Hall auf. Nach mehreren Aufführungen von drei oder vier Sätzen, bei denen dann immer wieder zum Unwillen von Holst der strahlende Jupiter am Schluss steht, findet die eigentliche öffentliche Premiere des Gesamtwerks am 27. Februar 1920 in einem von Albert Coates dirigierten Konzert der Royal Philharmonic Society statt. Holst schreibt aus diesem Anlass: „…es handelt sich nicht um Programm-Musik. Ein Zusammenhang mit den gleichnamigen Gottheiten der klassischen Mythologie besteht nicht. Falls die Musik einer Einführung bedarf, dürfte der Untertitel jedes Stückes ausreichen, wenn man ihn weit genug auslegt.“

In Mars, der Bringer des Krieges, setzt Holst gegen einen hämmernden 5/4-Ostinato-Rhythmus beziehungslos brutale Akkorde als Ausdruck von Schrecken, Bedrohung und Zerstörung. Im zweiten Satz, Venus, die  Friedensbringerin, sorgen ein ruhiges Horn-Solo mit leiser Antwort der Flöten und Oboen, ein zweites Thema der Solovioline, Triolen der Holzbläser und ein wunderbares Oboensolo für eine friedliche Stimmung, die nur durch den Andante-Mittelteil mit den Synkopen der Holzbläser etwas gestört ist, „… eine der erhabensten Beschwörungen des Friedens in der Musik“ (Short). Merkur, der geflügelte Bote, für Holst ein Symbol des Geistes, ist ein scherzoähnlicher Satz, der sich durch farbige Orchestrierung, gegensätzliche Rhythmik und erste Experimente mit einer bitonalen Harmonik auszeichnet. Der glanzvolle vierte Satz Jupiter, der Bringer der Fröhlichkeit, „bringt Freude in ihrer ursprünglichsten Form“ (Holst). Das festliche Hauptthema, ein Zeichen von Größe und Macht, verwendet Holst später in der Hymne „I vow to thee, my country“. Saturn, der Bringer des Alters, ruft ein Gefühl tiefster Verlassenheit hervor. Der Teil lässt sowohl den physischen Verfall als auch die Erfüllung eines Lebens ahnen. Mahnende Glockenschläge weisen auf ein Ende hin. Eine heftige, musikalische Entwicklung mündet in eine ruhige, resignierende Coda. Uranus, der Magier, ist geprägt von einem Unheil verkündenden, viertönigen Thema. Die gewaltige Steigerung löst sich schließlich wie durch Zauberhand im Pianissimo auf. Am Ende der Komposition steht Neptun, der Mystiker, basierend auf dem Akkordwechsel e-Moll – gis-Moll, ohne eigentliches Thema. Am Schluss des Satzes kommt ein vokalisierender, sechsstimmiger Frauenchor hinter dem Podium hinzu. Holst fordert: der letzte Takt soll „wiederholt werden, bis der Klang in der Ferne verhallt ist“. Der Komponist setzt bewusst den vieldeutigen Neptun ans Ende seines Werks. Für Holst gibt es in der realen Welt keinen Anlass für ein Happy End. Damit ist der programmatische Bezug zu America von Thomas Adès hergestellt.. Es bleibt die Hoffnung auf ein besseres Morgen.

MDR-Rundfunkchor copyright Anreas Lander

Der MDR-Rundfunkchor, Choreinstudierung: Philipp Ahmann ist in seiner stimmlichen, musikalischen Qualität und textlichen Präsenz kaum zu übertreffen. Der Chor, von allen bedeutenden Orchestern und Dirigenten geschätzt, feiert 2024 sein hundertjähriges Gründungsjubiläum! Zu Recht gibt es Sonderapplaus für den großen Chor bei Adès und den Frauenchor bei den „Planeten“ von Holst.

Andris Nelsons, Gewandhauskapellmeister seit 2018, leitet das Konzert. Mit seiner Präzision und seinem Gespür für die Atmosphäre eines Werks, für eine differenzierte Klanglichkeit des Orchesters, sorgt er für den unglaublich ergreifenden Gesamteindruck des Abends. Das Gewandhausorchester folgt ihm dabei und beweist einmal mehr seine großartige Qualität. Es fällt schwer, besondere Einzelleistungen hervorzuheben. Doch die Soli der Violine, des Violoncello, der Oboe, der wunderbar homogene Klang der Stimmgruppen, der Pauken in der Holst-Komposition, all das gelingt vorzüglich an diesem Abend und evoziert enthusiastischen Jubel! Ein begeistertes, gewiss auch innerlich bewegtes Publikum wird in den Abend entlassen.

 

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