Genf, La Cité Bleue Genève, SEASONS - Fabrice Murgia, IOCO
25.10.2024: SEASONS (2024) - von Fabrice Murgia : Ein Crossover-Musik-Theater mit Arien,Songs und Liedern von Ramon Ayala bis Georg Friedrich Händel mit einem Text von Fabrice Murgia. Arrangementsund musikalische Leitung Quito Gato.
von Peter Michael Peters
25.10.2024: SEASONS (2024) - von Fabrice Murgia : Ein Crossover-Musik-Theater mit Arien, Songs und Liedern von Ramon Ayala bis Georg Friedrich Händel mit einem Text von Fabrice Murgia. Arrangementsund musikalische Leitung Quito Gato.
von Peter Michael Peters
EIN ZEITGENÖSSISCHES FRESCO, DAS THEATER, KINO UND MUSIK VERBINDET…
DIDO’S LAMENT (WHEN I AM LAID IN EARTH)
Thy hand, Belinda, darkness shades me,
On thy bosom let me rest,
More I would, but Death invades me;
Death is now a welcome guest.
When I am laid, am laid in earth,
May my wrongs create
No trouble, no trouble in thy breast;
Remember me, remember me, but ah!
forget my fate.
Remember me, but ah! forget my fate.
(Dido and Aeneas /Libretto: Nahum Tate (1652-1715)
Verschmelzung von künstlerischen Wegen…
Die Show erinnert an die letzten Stunden von drei Bewohnern eines Gebäudes vor dessen endgültigen Einsturz. Indem die Interpreten ihr eigenes Leben und ihre persönlichen Abenteuer mit den fiktiven Charakteren erforschen, sollte es ein Ballett aus Bildern erschaffen, die im Rhythmus mit der Musik tanzen.
Die Geschichte wird auf der Bühne erzählt. Die Charaktere im Film entwickeln sich in einem seltsamen Raum, einer Realität, die parallel zum Film in einem Hyperrealismus direkt mit dem Film verläuft. Sie weben eine gemeinsame musikalische Patchwork-Abfolge, indem sie einige Schlüssel-Elemente der großen Vielfalt klassischer und populärer Musik kreuzen. Eine Sopranistin, ein Hip-Hop-Sänger, ein Blues-Sänger, ein Streichquartett, ein Pianist und ein Gitarrist-Schlagzeuger finden sich wie verlassene Geister auf den Ruinen ihres ehemaligen Wohn-Gebäudes wieder. Gemeinsam singen sie vor dem Publikum den Soundtrack der Show, während die Bilder dem Rhythmus der Szenen folgen und das Geschehen mal anhalten, mal vorantreiben wir visuelle Rezitative...
Jeder Charakter strahlt daher ein Relief seines Bildes im Film aus. Dieser Film konzentriert sich auf die Porträts von fragilen Menschen, die von Einsamkeit geplagt sind, an einem Sinnverlust leiden und sich auch gewissermaßen an einem Scheideweg in ihrem Leben befinden, aber dank der Musik auch für das Überleben kämpfen. Sie wollen sich auf keinen Fall von der Realität des Alltags enttäuschen zu lassen!
Arezki ist ein junger Mann, der sich nach einem Gefängnisaufenthalt wieder langsam in die Gesellschaft integriert. Er lebt mit einem parasitären Freund zusammen, der auf seiner Couch ungeniert hockt und schläft. Er selbst arbeitet als Lieferfahrer und stellt fest, dass er sein Gehör verliert, was seine Isolation und seine Wahrnehmung der Welt erheblich beeinträchtigen wird
Mariana versucht aus einer toxischen Beziehung herauszukommen. Sie bezieht alleine eine leere Wohnung in diesem Gebäude. Sie arbeitet als Kellnerin in einer Karaoke-Bar und entkommt nur der Realität, indem sie an ihrem Arbeitsplatz heimlich tanzt und singt.
TK ist ein junger Mann, der in eine virtuelle Welt eintaucht und der Realität entkommt, indem er in digitale Universen Zuflucht sucht. Seine sozialen Interaktionen beschränken sich fast nur auf Avatare, obwohl es ihm gelingt, durch klassische Musik in seine tiefe Gefühlswelt einzutauchen. Wie Arezki für das Gehör verliert TK langsam sein Augenlicht und dies verändert sein Verhältnis zur Realität, die er mit seinem digitalen Universum verwechselt.
Jeder erlebt ein für seine Geschichte spezifisches Ritual der Einsamkeit, das auf der Bühne Gestalt annimmt. Sie leben Seite an Seite, ohne sich jemals getroffen zu haben und erhalten eine zweite Chance, in Feierlichkeiten oder zu einem gemeinsamen Lied zusammenzukommen. Was die heutige Einsamkeit der großen Städte widerspiegelt, in denen Menschen physisch zusammenleben, aber emotional völlig distanziert bleiben.
Die Show möchte diese Dualität zwischen körperlicher Nähe und emotionaler Distanz einfangen. Die Wege der Charaktere kreuzen sich immer wieder, ohne einander zu finden, außer wenn es schon zu spät ist. Während sich die einzelnen Geschichten entwickeln, nähern sie sich einem transzendentalen Höhepunkt, an dem die Charaktere in einer Symphonie aus Bild und Ton aus ihrer Isolation gewaltsam auf der Bühne ausbrechen.
MUSIK-PROGRAMM:
Ramón Ayala (*1945): Panambí Jovhé
Astor Piazzolla (1921-1992): Vuelvo al Sur
Billy Joel (*1945): Good Night My Angel
The Beatles (ca. 1950-1970): In my life
ABBA (ca. 1971-1982): The winner takes it all
Georges Bizet (1838-1875): Je crois entendre
aus Les pécheurs
de perles (1863)
Anonym: Tarantella del Gargano
Henry Purcell (1659-1695): Dido’s Lament
aus Dido and Aeneas
(1689)
Rihanna (*1988): Love on the brain
Barbara Strozzi (1619-1677): Che si può fare
Black Eyed Peas (ca.*1995): Let’s get it started
Estrella Morente (*1980): En lo alto del cerro de
Palomares
Georg Friedrich Händel (1685-1759: Lascia ch’io pianga
SEASONS - Premiere in La Cité Bleue Genève - 25. Oktober 2024
„Seasons“ oder der Schock der menschlichen Einsamkeit in den großen Städten…
La Cité Bleue Genève setzt ihre Experimente fort, immer mit viel Talent um szenische und musikalische Formen außerhalb der üblichen Grenzen zu entdecken. Befreit von diesen Zwängen verblüffen die so vorgeschlagenen Werke im musikalischen oder lyrischen Universum , um besser ihren eigenen Weg zu finden: Ihre eigene Stimme zu finden! Das kann und wird nicht immer gelingen, aber es ist auf jeden Fall einen Versuch wert!
Dies ist erneut bei Seasons der Fall, das ursprünglich den Veranstaltungsort einweihen sollte. Wir entdecken drei „Einsamkeiten“, die sich gewissermaßen überschneiden: Arezki, ein Lieferbote mit Fahrrad, der im Moment in der schwierigen Wiedereingliederung nach einem Gefängnisaufenthalt ist. Mariana, Kellnerin in einem Karaoke, verlässt gerade eine sentimentale Beziehung, von der wir vermuten, dass sie wahrscheinlich krankhaft giftig war. TK, ein junger Mann, der mit seiner virtuellen Brille die digitale Welt kaum noch verlässt. Drei verschiedene Schicksale, die doch mit dem Gebäude in dem sie alle leben gewissermaßen verwandt sind: Das aber bald zusammenbrechen wird!
Schwer zu wissen, woran wir uns vor allem erinnern, wenn das präsentierte künstlerische Objekt einheitlich ist: Stimme, Musik, Inszenierung, Erzählung? Alles passt zusammen und es ist schwierig, eines der Elemente von diesem massiven Turm zu entfernen, ohne zu sehen, dass er bereits schwankt und nicht mehr er selbst ist. Die Einheit ist hier vollkommen, auch wenn dies alles noch ein wenig verbesserungswürdig sein könnte: Im Libretto heißt es zum Beispiel, dass TK sein Augenlicht verliert, was man paradoxerweise nicht sehen kann. Wenn wir die Idee einer „Konstellation von Einsamkeiten“ gut verstehen, von denselben Einsamkeiten, die sich überschneiden mit ihren Lebensgeschichten, die sich auch gegenseitig schockieren, ohne wirklich aufeinander zu folgen, so verspüren wir dennoch den ganzen Abend über einen gewissen Mangel an Gemeinsamkeit. Wir bewegen uns von einer Geschichte zur nächsten, manchmal ohne ganz zu verstehen, was wir sehen: Wir lassen uns von der festlichen Energie, die gegen Ende aufkommt, völlig mitreißen und sind ergriffen z. B. bei „Let’s get it started“, einem Song der amerikanischen Gruppe Black Eyed Peas fast wie in einer Fieber-Trance. Aber was hat das mit der Geschichte zu tun? Ist es einfach nur das: Eine große Party, bei der sie sich kennenlernen? Andere richtig zu verstehen ist nicht immer so sehr einfach!
Generell fragen wir uns auch bei den Songs, Arien und Liedern und ihren Interventionen: Warum funktioniert in diesem Moment dieses oder jenes und nicht ein anderes? Warum sind die meisten von ihnen nicht übertitelt, andere hingegen schon? Wir verstehen das das Schlaflied: „Good Night My Angel“, ein berühmter Song von Billy Joel, das für TK gesungen wurde um ihn einzuschläfern, aber warum wird es von Arezki gesungen wird? Ist das eine Ankündigung seines Erscheinen am Ende, wenn wir uns fragen, ob TK allein zu Hause gestorben ist oder nicht, als der Lieferbote ihm seine Pizza bringt? Fragen über Fragen? Warum?
Doch trotz dieser eigentlich geringen Vorbehalte lassen wir uns problemlos durch diese drei Schicksale tragen und bewundern das wirkliche Talent des französischen Regisseurs Fabrice Murgia für diese ausgefeilte Produktion. Über den Film hinaus, den er innerhalb der Mauern der Universitätsstadt drehte, in der sich auch La Cité Bleue Genève befindet, gelingt es ihm mit einem meisterhaften Effekt des „gejagten Schlüpfens“ zwischen Bühne und Leinwänden zu spielen, wobei die Sänger und Schauspieler dieselben Gesten nachahmen, die sie gleichzeitig in der Projektion ausführen oder diese fortführen und sich sogar gegenseitig beobachten, als ob sie vor einem Film stünden. Die Linien werden vollständig abgeschafft: Es gibt keine Trennung zwischen Künstler, Person und Charakter mehr. Die argentinische Sopranistin Mariana Flores verkörpert somit Mariana, die Figur , aber auch die Sängerin, die wir kennen – z. B mit einer Schallplatte, auf der sie Strozzi singt – oder sie derzeit sogar auf der Bühne spielt. Sie sieht sich selbst auf der Leinwand, spielt auf der Bühne, kommt herab, um TK zu umarmen, der sich tatsächlich gerade niedergelassen hat, um einem Konzert von ihr in La Cité Bleue Genève zuzuhören… Alles ist vermischt in einer verschwommenen schillernden Poesie, die vibriert und es bedarf auch keinerlei Erläuterung. Realitäten vervielfachen sich und kommen, kollidieren mit unserer und verschwinden, reisen , erscheinen oder verschwinden wieder. All dies mit dem Talent von Murgia, der alle diese Übergänge von einem Zustand zum anderen mit atemberaubender Natürlichkeit fließend macht. Visuell geht der Erfolg über das „Totale“ hinaus, selbst in der nüchternen Bühnendekoration, die uns von Anfang an die Trümmer des Krieges erinnern lassen und dann am Ende der Show uns auch noch in die Trümmer und das Feuer eintauchen lässt: Und uns schließlich die Geister einer sehr gegenwärtigen Vergangenheit offenbart!
Um die unterschiedlichen Auszüge aus mehreren Jahrhunderten – von Purcell bis Rihanna über Bizet, Händel, Billy Joel, The Beatles oder ABBA – zu bedienen, fiel die Wahl auf ein Streichquartett mit Musikerinnen der Cappella Mediterranea in Begleitung von Quito Gato und seiner Gitarre / Schlagzeug und eines italienischen Pianisten Namens Jacopo Raffaele. Letzterer erweist sich auch als talentierter Erzähler, der auf italienisch diese „Geschichte ohne Geschichte“ einleitet und sie mit einigen Interventionen untermalt. Die Arrangements stammen von dem argentinischen Gitarristen und Perkussionist Quito Gato, der auch die musikalische Leitung übernommen hat, sie sind besonders gut gelungen und bewahren die Ursprünglichkeit des jeweiligen Werkes. Diese Adaption bieten den Künstlern und auch dem Publikum ein treues und erfrischendes neues Leben!
Auch stimmlich prallen die Welten sanft aufeinander und gleiten schließlich von einer in die andere. Beginnen wir mit der Person, die keine „Entdeckung“ war: Flores, eine Sopranistin, die nicht weiter vorgestellt werden muss, auch eine engagierte Schauspielerin , voll und ganz da. Der Übergang von der Bühne zur Leinwand ist nicht immer einfach, aber sie schafft ihn problemlos. Gesanglich entdecken wir sie zu Beginn des Abends in einer weniger lyrischen Stimmlage, aber es überrascht nicht, dass sie in dieser besonders glänzt. Ihre Interpretation von „Je crois entendre“ aus Les pêcheur de Perles von Bizet wird zweifellos eine „bezaubernde Erinnerung“ bleiben: Parallel zu den Taubstummen-Zeichen auf der Leinwand von Roméo, exzellent interpretiert von dem französische Schauspieler Christian Gremaud begonnen und auf der Bühne von der Sopranistin fortgesetzt, ist der Gesang mehr als markant, üppig und erhaben. Ein weiterer Moment von unendlicher Schönheit, unbeschreiblich, göttlich, stark und subtil: Purcells „Dido’s Lament“. Das Tüpfelchen auf dem i: Die Fortsetzung oder Wiederbelebung der selben Arie von dem tunesischen Sänger Arezki Aït-Hamou, aber in kabylischer Sprache gesungen.
Der junge Sänger liefert hier eine äußerst bewegende Darbietung ab und offenbart die Vielfalt seiner Stimme, die ihn bei seinem Auftritt bei The Voice im Jahr 2019 prägten. Seine Interpretation, einschließlich Bühne und Kinematographie, macht es besonders berührend. Wir fanden Gefallen an diesem jungen Mann in der Rehabilitation, der wegen einer Minute Verspätung trotz aller Bemühungen zu spät zum Telefon greift und zur Vorwarnung vorgeladen wird. Denn für die „Bürokraten“ sind zwei Minuten oder zwei Stunden dasselbe. Der Tinnitus und die schrillen Geräusche, die ihn beeinflussen, offenbaren seinen Hörverlust, ebenso wie seine persönliche Begegnung mit Mariana im kaputten Aufzug, die ihm einige Zeichen beim Warten beibringt. Auch wenn es schon viel zu spät ist!
Schließlich beglückte uns besonders der afro-belgische Sänger Russel Kadima TK, der auch für seine Teilnahme an dem Tele-Hock in Belgien bekannt ist, mit seiner Stimme mit mehreren „Gesichtern“, da er in der Lage ist, mit ebenso viel Talent mit seiner Kopfstimme zu singen – wie z. B. bei „Lascia ch’io pianga“, eine Konzert-Arie von Händel – aber auch mit weniger ernsteren Farben, mit Pop-, Funk-, Disco oder Afrobeat-Sounds. Auch sein tänzerisches Talent und seine wilden Gesten hinterlassen viel Eindruck auf uns, ohne das die Zerbrechlichkeit, der Schmerz und die Trennung dieser Figur aus den Augen zu verlieren, die paradoxerweise fast ununterbrochen verbunden ist. Seine Vorliebe für klassische Musik und seine Neugier auf diesem Gebiet bringen ihn in La Cité Bleue Genève näher, in die er geht, sowohl auf der Leinwand als auch in unserer Realität, in die er mit Leichtigkeit und Feingefühl eindringt. Unvergessene Interpretation!
Wenn wir im Voraus wissen, dass das alles böse enden wird, ist es schwierig, sich nicht von den Enden, die in ihren letzten Momenten zusammenkommen, berühren zu lassen: Ist TK noch am Leben, wenn alles zusammenbricht? Waren seine brennenden Kerzen die Ursache die Feuers, insbesondere die, die Arezki während seiner Lieferung umgeworfen hatte? Ist es die Gasflasche, die Adil, der Mitbewohner des Lieferboten geflickt hat? Wäre alles anders gewesen, wenn Mariana ihren Rauchmelder erfolgreich installiert hätte, nachdem er ihr heruntergefallen war? Fragen über Fragen? Aber das Schicksal scheint sein Netz schon lange im Voraus gesponnen zu haben, unveränderlich wie der Lauf der Zeit und der Jahreszeiten… Wie Mariana in Gebärdensprache wiederholt: „Il est trop tard“ und damit an Charles Baudelaires (1821-1867) Gedicht erinnert: „Tantôt sonnera l’heure ou le divin Hasard. Où l’auguste Vertu, ton épouse encore vierge. Où le rependir même (oh! Dernière auberge!). Où tout te dira : Il est trop tard ! »
Eine Show, die von theatralischen und musikalischen Grenzen und Barrieren befreit ist und so eine Luftblase der Einsamkeiten bietet, die mit unserer verbunden ist. Die mit einer solchen Kontinuität und einer räumlichen Verbindung vielleicht aber mit dem leichten Fehlen eines deutlicheren roten Fadens verbunden ist. Aber jedoch nicht das Projekt mit dieser unterschiedlichen Einsamkeit zu kollidieren. Das Ziel war ein Spektakel jenseits der Norm zu bieten! Und wieder einmal wagt sich La Cité Bleue Genève und wieder einmal tut sie dies mit Kunst und viel Talent. Zum Entdecken, Sehen und Wiedersehen… Und natürlich zum Fragen! (PMP/31.10.2024)