Kottingbrunn, Kulturwerkstatt, DER GUTE MENSCH VON SEZUAN – Brecht, IOCO
Die hervorragende Regiearbeit zeigt ein tiefes Verständnis für die Prinzipien des von Brecht entwickelten epischen Theaters.
von Marcus Haimerl
Die Kulturwerkstatt Kottingbrunn, deren Spielstätte sich im eindrucksvollen Schloss Kottingbrunn befindet, zeigt in der 27. Saison seines Septembertheaters Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan. Brechts Parabel ist neben Mutter Courage und ihre Kinder ein Paradebeispiel für sein episches Theater. Mit dem epischen Theater schuf Bertolt Brecht eine revolutionäre Form des Theaters, die die traditionellen Konventionen bricht, um das Publikum zu aktivem, kritischem Nachdenken und gesellschaftlicher Veränderung anzuregen, anstatt es emotional zu überwältigen. Brecht begann mit der Arbeit an Der gute Mensch von Sezuan bereits in den späten 1930er Jahren, während seiner Zeit im Exil. Nachdem 1933 die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernommen hatten, musste Brecht wegen seiner politischen Ansichten und seiner jüdischen Herkunft das Land verlassen. In dieser Zeit, die durch den aufkommenden Zweiten Weltkrieg und die Bedrohung durch den Faschismus geprägt war, entwickelte Brecht viele seiner wichtigsten Werke. Bertolt Brecht arbeitete an dem Stück während seiner Exiljahre in Skandinavien und in den USA weiter. Dabei wurde er von seiner Frau Helene Weigel und der dänischen Schauspielerin, Regisseurin, Fotografin und Schriftstellerin Ruth Berlau unterstützt. Die Erstdruckausgabe erschien 1943 in Zürich, wo das Stück am 4. Februar 1943 am Schauspielhaus Zürich unter der Regie von Leonard Steckel uraufgeführt wurde.
Das Stück spielt in der chinesischen Provinz Sezuan und erzählt die Geschichte der Prostituierten Shen Te, die von den Göttern für ihre Güte belohnt wird, indem sie ihr Geld schenken, um ein besseres Leben zu führen. Shen Te kämpft jedoch mit den moralischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die das Leben als "guter Mensch" in einer korrupten Welt mit sich bringt. Um zu überleben, erfindet sie die Figur ihres skrupellosen Vetters Shui Ta, der ihre Geschäfte mit harter Hand führt und moralisch fragwürdige Entscheidungen trifft. Die zentrale Frage des Stücks lautet: Ist es möglich, in einer ungerechten Welt ein guter Mensch zu sein? Brecht zeigt in der Handlung die Spannungen zwischen Moral und Pragmatismus auf, wobei er das Publikum dazu auffordert, über soziale Ungerechtigkeiten und die Bedingungen, unter denen Menschen handeln, nachzudenken. Dazu wird auch der Schluss des Stücks offengelassen, und der Zuschauer wird direkt angesprochen, um eine Lösung für die aufgeworfenen moralischen Fragen zu finden. Der gute Mensch von Sezuan gilt als eines der wichtigsten Werke des modernen Theaters. Es stellt ein Beispiel für Brechts marxistische Weltanschauung dar und ist ein kraftvoller Kommentar zur sozialen Ungerechtigkeit und den ethischen Konflikten, die durch wirtschaftlichen Druck entstehen. Das Stück fordert das Publikum auf, über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nachzudenken, die Menschen dazu zwingen, zwischen persönlicher Integrität und Überleben zu wählen.
Regisseur Anselm Lipgens, der auch für den Bühnenraum verantwortlich ist, hat dazu eine weiße Bühne in T-Form geschaffen, an deren Ende sich der Tabakladen Shen Tes befindet, die Bühnenmitte ziert ein großer Baum (Bühnenbau: Martin Postl). Mit der minimalistischen, in weiß gehaltenen Kulisse erfüllt Anselm Lipgens genau die Wünsche Bertolt Brechts, der immer gegen aufwendige, realistische Bühnenbilder war. Auch die hervorragende Regiearbeit zeigt ein tiefes Verständnis für die Prinzipien des von Brecht entwickelten epischen Theaters. Die kluge Personenregie zeigt sich vor allem in der Deutlichkeit der Ambivalenz der Figuren, besonders jene von Shen Te und Shui Ta. Samantha Steppan gelingt es meisterhaft den dramatischen Konflikt zwischen Moral und Überleben, Mitgefühl und Härte und Idealismus und Pragmatismus darzustellen. Schon von der ersten Szene an zieht Samantha Steppan das Publikum durch ihre zarte, empathische Darstellung der Shen Te in ihren Bann. Mit einer warmen, fast verletzlichen Körpersprache und einem offenen, freundlichen Ausdruck vermittelt sie die Aufrichtigkeit ihrer Figur, die selbstlos handelt und immer wieder Opfer für andere bringt. Ihre Sanftheit wirkt authentisch und macht die moralischen Dilemmata, vor denen Shen Te steht, spürbar. Im Gegensatz dazu ist der Wechsel zu Shui Ta verblüffend und gleichzeitig überzeugend. Die schroffe Körperhaltung, die Steppan einnimmt, sobald sie in die Rolle des skrupellosen Vetters schlüpft, markiert eine klare Abkehr von Shen Tes Mitgefühl. Ohne dass die Verwandlung ins Groteske abgleitet, gelingt ihr eine prägnante Differenzierung der beiden Charaktere, während sie die zugrundeliegende Einheit der Figur nicht aus den Augen verliert. Besonders beeindruckend ist, wie Steppan es schafft, die innere Zerissenheit der Figur spürbar zu machen. In den Momenten, in denen Shen Te die Maske des Shui Ta trägt, schimmert immer wieder ein Hauch von Mitleid und Bedauern durch. Dies subtilen Momente, in denen sich das wahre Wesen der Shen Te unter Shui Tas Fassade zeigt, sind meisterhaft gespielt. Sie lassen den Zuschauer erkennen, dass Shui Ta kein vollständiger Gegensatz ist, sondern vielmehr ein notwendiger Schutzschild in einer grausamen Welt. Diese Ambivalenz vermittelt Samantha Steppan mit einer feinen, nuancierten Spielweise, die den dialektischen Kern der Rolle perfekt herausarbeitet. Leopold Dallinger überzeugt in der Rolle des Wasserverkäufer Wang mit fein nuancierter Darstellung. Mit der Mischung aus verzweifelter Hilflosigkeit, leiser Entschlossenheit und zähem Überlebenswillen erschafft er eine Figur, die nicht nur das Schicksal der Stadtbewohner, sondern auch die innere Zerrissenheit des Menschen widerspiegelt. Dallingers Bühnenpräsenz fesselt und bringt die Dramatik des Spiels mit einer leisen Intensität zum Ausdruck, die Wangs Rolle als moralischer Vermittler zwischen den Göttern und der menschlichen Notlage verstärkt. Eine Interpretation die tief bewegt.
In der Rolle des Yang Sun gelingt es Rafael Wieser, den komplexen Charakter eines desillusionierten Piloten mit eindrucksvoller Präsenz darzustellen. Yang Sun ist eine ambivalente Figur, deren Zynismus und Eigeninteresse oft im Kontrast zu Shen Tes Idealismus stehen. Wieser bringt die innere Zerrissenheit Yang Suns mit einer Mischung aus Rohheit und Verletzlichkeit eindrucksvoll auf die Bühne. Besonders bemerkenswert ist Wiesers Fähigkeit, die moralische Unsicherheit seines Charakters zu vermitteln, ohne ihn gänzlich unsympathisch wirken zu lassen. Seine Darstellung zeigt deutlich Yang Suns Frustration über das Scheitern seiner Träume und die Härte des Überlebens in einer ungerechten Welt. In den Szenen mit Shen Te gelingt es ihm, die manipulative Seite von Yang Sun zu zeigen, ohne jedoch seine Verzweiflung zu verschleiern. Wiesers Spiel verleiht der Figur Tiefe und macht sie trotz ihrer Schwächen menschlich nachvollziehbar. Georg Kusztrich, der kurzfristig für Franz Schiefer in der Rolle des Barbiers Shu Fu eingesprungen ist, überzeugt mit souveräner darstellerischer Leistung. Trotz der spontanen Übernahme der Rolle gelingt ihm, Shu Fus Mischung aus Machtstreben und vermeintlicher Wohltätigkeit gekonnt zu verkörpern. Kusztrich spielt den Barbier mit einer feinen Balance aus Arroganz und scheinbarer Großzügigkeit, wodurch er Schu Fus ambivalente Natur, die zwischen moralischer Selbstgefälligkeit und eigennützigen Motiven schwankt, hervorragend zur Geltung bringt. Sein Einsatz für das Ensemble und seine überzeugende Leistung in dieser kurzfristigen Rolle verdienen besondere Anerkennung. Auch die restlichen Rollen, darunter auch wunderbare, enthusiastische Laiendarsteller, überzeugen durch ihre darstellerischen Leistungen: Franz Grünwald als Erster Gott, Simon Stadler-Lamisch als Zweiter Gott, Rebecca Varga als Dritter Gott, Nicole Gerfetz-Schiefer als Witwe Shin, Enisa Meindl als Tabakhändlerin Ma Fu, Walter Tlapak als Herr Ma Fu, Yara Winter (Nichte Wung), Martin Hauer (Arbeitsloser), Regina Brunner (Tischlerin Lin To), Gabriele Mattehs (Schwester Wung), Astrid Krizanic-Fallmann (Hausbesitzerin Mi Tzü), Heinz Scharb (Polizist), Leopold Brunner (Großvater Ma Fu), Tobias Panzenböck (Sohn Ma Fu), Walburga Weissenböck (Teppichhändlerin Frau Deng), Franz Zimmermann (Herr Deng) und Martina Gutmann als Yang Suns Mutter. Großartig auch die Livemusik: Fritz Rainer (drums, electronics) und Roxanne Szankovich (violon, e-violin, electronics). Das Publikum war von diesem tief berührenden Abend sichtlich bewegt und belohnte die Darsteller mit langanhaltendem, begeistertem Applaus. Für September 2025 ist William Shakespeares Komödie Viel Lärm um nichts angekündigt. Ein Termin den man sich keinesfalls entgehen lassen sollte.
Kulturwerkstatt Kottingbrunn - Infos, Karten und Termine - Link hier www.kulturszene.at