Greifswald, Universität, WINTERREISE - Franz Schubert, IOCO Kritik

Julian Prégardien (Tenor) und Daniel Heide (am Flügel) interpretierten Schuberts Winterreise in verblüffender, atemlos machender Realistik und gestalterisch erregender Prägnanz

Greifswald, Universität, WINTERREISE - Franz Schubert, IOCO Kritik
UNIVERSITÄT Greifswald @ Wikipedia Commons

Neue Verständnisfenster, neue Wirkungsmöglichkeiten - Julian Prégardien, Tenor und Daniel Heide am Flügel interpretierten Schuberts Winterreise

von Ekkehard Ochs

Eine Stadt ist schon wochenlang in Feierstimmung und fest entschlossen, diese auch das gesamte Jahr über ohne substanziellen Verschleiß oder Ermüdungserscheinungen beizubehalten! Die Rede ist von Greifswald, vorpommersche Universitäts - und Hansestadt am Greifswalder Bodden, sowie von ihrem – wie man nicht ohne Stolz sagt - „großen Sohn“, dem hier geborenen und weltweit wohl bekanntesten romantischen Maler Caspar David Friedrich (1774-1840). Sein 250. Geburtstag steht an, und Stadt wie zahlreiche Partner haben weder Kosten noch Mühen gescheut, mit einem wahrlich facettenreichen und so informativen wie attraktiven Programm Persönlichkeit und Werk des Malers zu beleuchten und ein beeindruckend detailreich aufgefächertes Beziehungsnetz zwischen seiner Kunst, der seiner Zeit und uns Heutigen zu knüpfen. Überraschungen nicht ausgeschlossen, was bei 87 unterschiedlichsten Veranstaltungsangeboten allein zwischen Januar und März geradezu vorprogrammiert scheint.

Franz Schubert in Wien @ IOCO

Musik ist auch dabei. Allerdings eher punktuell begleitend (etwa Eröffnung im Dom mit Lichtshow und elektronischer Musik) und zumindest bis Ende März in nur einem Fall als abendfüllendes Konzert. Das aber geriet am 16. Februar in der akustisch vorzüglichen und architektonisch prächtigen Barock-Aula der Universität gleich zum Besonderen. Dies nicht unerwartet mit Schuberts Liederzyklus Die Winterreise sowie den Interpreten Julian Prégardien (Tenor) und Daniel Heide (am Flügel). Geht Letzteren doch der Ruf so eigenwilliger wie überzeugender Gestaltungsfähigkeiten voraus. Quod erat demonstrandum! Eine seit Wochen ausverkaufte Aula und ein Abend, der die Wirkungsmächtigkeit dieser Schubert-Lieder auf durchaus originäre Weise in vielfach neuem Licht erscheinen ließ. Und das nachhaltig! Will heißen: Prégardien hat – nach eigenen Angaben - in etwa zehnjähriger Beschäftigung mit diesem Zyklus eine „eigene Sicht“ auf Texte und Vertonungen gewinnen können, die durchaus abweicht von der gängigen, traditionellen „Erwartungswolke“ der Hörerschaft. Sein Wanderer im Winter ist ihm – so 2021 nachzulesen im Netz - eine  „Kunstfigur“, die am Ende in eine andere Sphäre gerät, aber nicht im Tod mündet; ein Individuum, das sich selbst „als Wegweiser“ sieht, allerdings mit geringer oder offen bleibender Existenzperspektive und ohne Möglichkeit der Rückkehr. Das Ganze sei zu verstehen auch als „Warnung“ vor (unerkannter) Vereinsamung heute! Und: Der Leiermann des letzten Liedes scheint ihm gar zum Hoffnungsträger, zur „ermutigenden Gestalt“,  möglicherweise zur von Dichter und Komponist gezeichneten „Figur eines idealen Künstlers“.

Konzert Winterreise mit Julian Pregardien und Daniel Heide @ André Gschweng

Stoff zum Nachdenken? Allemal, auch wenn sich dem Hörer solcherart weitreichende Assoziationen kaum aufdrängen dürften. Etwas anderes aber schon, denn Sänger wie Pianist präsentierten eine Winterreise von verblüffender, atemlos machender Realistik und gestalterisch erregender Prägnanz. Sie ließen nahezu zwangsläufig an Berichte des Schubert-Freundes Spaun denken, nach denen der Komponist während der Arbeit am Zyklus düster gestimmt war und angegriffen schien. Und natürlich an Schubert selbst: Er lädt die Freunde ein, um ihnen „einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen...Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei andern Liedern der Fall war.Schuberts Hörerkreis war irritiert, ja ratlos, aber ergriffen. Solch ein „schneidender Ausdruck“ von Verzweiflung (so Freund Mayrhofer) war neu. Und so sollte man vielleicht den Ausdruck „schauerlich“  interpretieren: als einen vom Komponisten selbst schmerzlich durchlebten, heftigen Einbruch der Realität in die Kunst; individuell wie gesellschaftlich und entsprechend folgenreich. (In Schuberts Freundeskreis machte man das Komponieren dieses Zyklus sogar für den frühen Tod des Meisters verantwortlich. Naheliegend auch mögliche Bezüge zur gesellschaftlichen „Kälte“ im Metternichschen Überwachungs- und Zensurstaat. Immerhin hatte ein Beethoven die Möglichkeit erwogen, deswegen nach England auszuwandern). 

Konzert Winterreise mit Julian Pregardien und Daniel Heide @ André Gschweng

Wer – zurück zum Zyklus - dessen interpretatorische Neu- oder Andersartigkeit angesichts bestimmter, nicht selten standardisierter Gestaltungstraditionen bislang nicht für möglich, vielleicht auch gar nicht für nötig hielt, wurde durch den Greifswalder Konzertabend eines Besseren, zumindest aber eines Anderen belehrt. Über stimmliche Qualitäten Julian Prégardiens zu reden, scheint angesichts seiner bisherigen Weltkarriere überflüssig. Der Sohn und stimmliche Erbe eines in gleicher Weise begnadeten Sänger-Vaters (Christoph Prégardien) hat alles, was er für seine Gestaltungsvorstellungen braucht: ein Material, das ihm alles das erlaubt, was zwischen Oper, Oratorium und Lied vonnöten ist. Und das in einer Reichhaltigkeit, die wohl vor allem im Lied zum Tragen kommt. Nicht zuletzt bei einem so anspruchsvollen Zyklus wie Die Winterreise. Nicht erst nach dessen letztem erklungenen Ton fragte man sich, was einem denn bislang entgangen war. Es brauchte nur wenige Takte, und die interpretatorische Marschrichtung war klar. Ein rein genussvolles Aussingen schien weder Absicht noch Ziel. Wichtiger war eine sehr bewusst Klangbild und Aussage prägend eingesetzte deklamatorische Komponente, die das Melodische als längst nicht überall notwendiges, dann aber herausgehobenes und überaus wirkungsvolles Ausdrucksmittel einsetzt.

Verblüffend auch eine Gestaltungsstrategie, die - überraschend kontrastreich - das einzelne Lied deutlich dem Szenischen angenähert erscheinen ließ. Dies mit äußerst variabler Agogik und einer durchaus erst einmal Staunen machenden Zurückhaltung im Tonlichen. Wie denn überhaupt eine Stärke des Sängers in der gerade dann besonders intensiv zu erlebenden Verinnerlichung der Aussage bestand; ergänzt von der Unmittelbarkeit und Faszination enorm eindringlicher sprachlicher Diktion. Da konnte man sich als Hörer sehr direkt angesprochen, ja beteiligt fühlen; einbezogen in Erlebnisbereiche, die ganz aus dem Inneren kommen und dort auch weitgehend verbleiben sollen (!), ohne dass es Einbußen an der Erzählkraft von Wort und Ton, Text  u n d  Musik geben müsste. Weniges ist dabei bloß „schön“, vieles aber von ungeschminkt vermittelter, echter Lebensnähe und damit „wahr“. (Nochmals der Freund Spaun: alle wissen, „wie tief ihn seine Schöpfungen angriffen und wie er sie in Schmerzen geboren“, „glühend und  mit leuchtenden Augen“ geschaffen). Da bietet sich eine Interpretation, die auch nicht die geringste Möglichkeit äußerst differenzierter dynamischer Gestaltung auslässt, geradezu zwingend an. Dies zwischen fast unhörbar und (selten) pathetisch auftrumpfend, starrer Tongebung und emphatischer Erregtheit, nüchternem Berichtston und untröstlicher individueller Tragik - nichts fehlt an einer Sprachliches und Musikalisches  faszinierend  auslotenden und fesselnd miteinander verbindenden „Erzählkunst“. 

Winterreise Konzert - Uni Greifswald @ André Gschweng

Was aber wäre diese ohne den Mann am Klavier. Ohne den richtigen Mann! Hier hieß er Daniel Heide, aus Weimar stammend und mit einer Biographie, die ihn international (auch) als gefragten Liedbegleiter ausweist. Das will in Bezug auf eine Interpretation á la Prégardien einiges heißen. Augenhöhe etwa, und die war absolut gegeben. Heide war nichts weniger denn bloßer „Begleiter“. Er „redete“ mit einem Anschlag, für den alle Kennzeichen differenziertester Artikulation galten. Und das im Detail wie im Zug zum Großen. Auch er fesselte mit klanglicher Delikatesse und kontrastgeschärftem, agogisch glaubwürdigem „Erzählgestus“. Inbegriffen die stets spürbare Gleichgestimmtheit mit dem Sänger. Eine partnerschaftsintensive Zusammenarbeit, die an genereller Übereinstimmung keine Wünsche offen ließ. Sie war Garant für Liedinterpretationen, die höchste geistige Wachheit – gelegentlich gar (angebrachte) Distanziertheit - mit wahrlich außerordentlicher musikalischer Einfühlungskraft verbanden.

Ein im Zusammenwirken von Sänger und Pianist in mehrfacher Hinsicht nachhaltiger Schubert, der bislang verdunkelt scheinende Verständnisfenster zu öffnen vermochte und den Liedern damit ganz neue Wirkungsmöglichkeiten verlieh.