Die Uraufführung der Oper Parsifal fand am 26. Juli 1882 statt, nur sieben Monate vor Richard Wagners Tod. Bereits 1845 lernte Wagner den Parzeval-Mythos des Wolfram von Eschenbach (1165 – 1220) kennen, wonach am Karfreitag des Jahres 848 der Ritter Parzeval zur Gralsburg kam, deren König wurde und danach mit seinen Gralsrittern für Recht und Tugenden kämpfte. Zahllose Legenden ranken sich seither um Parzeval, den heiligen Gral, die Gralsburg und Gralsritter.
Richard Wagner verwandelte den mittelalterlichen Mythos durch dichterische sowie kompositorische Kraft mit Schaffung des Parsifal, als des erlösenden „Reinen Tor“, der Kundry, mit der Fußwaschung wie der Erlösung durch Mitleid in einen eigenen, pseudoreligiösen aber auch transzendent tiefgründigen Parsifal. Nur noch angelehnt an den alten Parzeval-Mythos.
Zur Osterzeit beherrscht dieses Musikdrama Richard Wagners alle großen Bühnen der Welt: Metropolitan Opera, Wiener Staatsoper, Bayerische Staatsoper, Oper Frankfurt, Berliner Staatsoper: Überall Parsifal, so auch 2013. Parsifal am Karfreitag zu erleben, in vielen Bundesländern nicht erlaubt, besitzt für eingefleischte Wagnerianer zusätzlichen Stellenwert. Die Premiere des Parsifal am Karfreitag 2013 drückt eine zauberhafte Reverenz der Oper Köln vor Richard Wagner und seiner Kultgemeinde aus.
Die Oper am Dom, Interimspielstätte der Oper Köln, stellt mit ihren eingeschränkten technischen Möglichkeiten jeden klassischen Parsifal-Regieansatz vor unlösbare Aufgaben. Der spanische Regisseur Carlus Padrissa, zusammen mit der vomStraßentheater kommendenkatalanischen Truppe La Fura dels Baus, entwickelte denn eine aufwendige Inszenierung in der er fehlende Bühnentiefe, -technik und Kulissen durch zahlreiche, Zuschauerraum wie Bühne umfassende Projektionen, Comic-Strips, Akrobatik und Lichteffekte ersetzt. Moderne Kommunikation, Mittel und Medien sind Padrissas ungewöhnlicher Zugang zu Parsifal: „Signale und Strömungen übertragen sich auf alle“ so Padrissa. Alle sind Teil seiner Gralsgemeinschaft, Zuschauer, Ensemble, Passanten. Auf der Bühne selbst wird eine hohe, von 90 vermummten Gralsrittern besetzte, beweg- und teilbare Kuppel zur Kernkulisse der Inszenierung.
Bereits das Vorspiel des ersten Aufzugs, welches die musikalischen Schlüssel zum Werk (Keuschheit, Weihe, Geheimnis, Inbrunst) festlegt, wird von drei schwarz-weiße Videoprojektionen (Autorennunfall, tödlicher Sturz, Selbstmord) begleitet. Zusätzlich zu diesen Projektionen schweben vier Menschen über der Bühne. Durchgängiger Handlungsstrang der folgenden Inszenierung werden die urchristliche Brotteilung und die meist in Hintergrund befindliche Gralskuppel mit seinen Gralsrittern. Gurnemanz, als prophetischer Erzähler und Schöpfer knetet das Brot im ersten Aufzug, backt es und teilt es zum Ende des dritten Aufzuges mittels der Gralsritter mit den Theater-Besuchern. Diese zentralen Handlungsstränge werden durch zahlreiche, teils spektakuläre wie verwirrende Projektionen und Bilderfluten begleitet: Wenn die Gralsritter, „Zum letzten Liebesmahle, gerüstet für den Tag“ singend, die Gesichter mystisch von unten beschienen durch den Zuschauerraum „pilgern“, wenn der unsichtbare Titurel in Form von Richard Wagners Konterfei wabernd auf die Bühne projiziert wird, wenn Amfortas über dem Gral (Bild) schwebt, während sich dessen Inhalt „wagnergetreu“ purpurn färbt. Das Vorspiel zum zweiten Aufzug wird erneut von einer Videoprojektion begleitet: Fünf Männer rasen, in Buster Keaton-Manier Klingsors verstörte Welt andeutend, in einem Auto eine Straße entlang. Szenisch wie technisch mitreißend im zweiten Aufzug der in wechselnde Leuchtfarben gehüllte Zaubergarten (Bild), aus dem die Blumenmädchen mit ihrem „Komm! Komm! Holder Knabe! Lass mich dir blühen“ Parsifal zu verführen suchen. Zum Vorspiel des dritten Aufzugs – überraschend – werden keine Videoprojektionen gezeigt, sondern Gurnemanz, wie er die geformten Brotteige in einen riesigen Feuerofen führt. So wird auch der dritte Aufzug zu einer auf das Erlösungsmotiv zentrierte Inszenierung der Moderne; mit packenden wie irritierenden Videos, Projektionen und vielen Bild-gewordenen Wortspielen ("Der Mensch ist das Seil zwischen Tier und Übermensch"). Parsifal, gesuchter Erlöser erscheint wahrhaftig als Lichtgestalt; mit Speer und in einem von zahllosen Strahlern leuchtenden Gewand. Für jedermann sehr plakativ erkennbar: Das gute Ende naht. Der durch Parsifal zurückgewonnene Speer versinkt im Gral. 110 Gralsritter und Ensemble erschallen: „Höchsten Heiles Wunder! Erlösung dem Erlöser“. Das Karfreitag-Bühnenweihfestspiel endet in Ergriffenheit.
Markus Stenz führte das Gürzenich-Orchester Köln sehr geschlossen, wenn auch zunächst übertrieben schleppend, um später die Tempi erdenschwer gelassen doch flüssiger gleiten zu lassen. Fein und weich strahlten die Hölzer, auch die Bleche verschreckten nicht. Dynamisch und lebendig die Streicher. Die 110 Personen umfassenden Chöre der Oper Köln, oft quer über den ganzen Zuschauerraum verteilt und von Andrew Ollivant perfekt „eingestellt“, vermitteln wahrhaftig wie eindringlich Parsifalschen Karfreitagszauber. Das Sängerensemble bewältigt die anspruchsvollen Partien meist ohne Fehl und Tadel. Marco Jentzsch meistert den Parsifal mit strahlkräftig, gut geformter, breiter Tenorstimme und zahlreich folgenden Bravorufen. Die leicht metallen klingende Stimme zeigte bis zum Ende kein Zeichen von Ermüdung. Dies gilt allerdings auch für den seit nahezu 40 Jahren Köln- wie Wagner-erprobten Matti Salminen, welcher der mörderisch großen Partie des Gurnemanz mit immer noch voluminösem Bass und absoluter Textsicherheit große Bühnenpräsenz verleiht. Dalia Schaechter überzeugte als Kundry in ihrer permanent zwischen Lyrik wie Dramatik driftenden Partie darstellerisch und mit sicher-sattem Mezzo. Auch der Wiener Staatsoper-erfahrene Boaz Daniel bestand sein Rollendebüt als Amfortas und als gestandener Klingsor mit wohl-timbrierten Bass-Bariton und guter Textverständlichkeit. Eine spezielle Eigenheit der Oper am Dom stimuliert den Zugang Richard Wagners Werk zusätzlich: Der komplexe Operntext wird für Jedermann bequem lesbar links wie rechts der Bühne projiziert. Durch die Nähe von Text zu Bühnenhandlung öffnet sich in Köln ein Laien wie Profis selten erlebtes Verständnis für Wagners Gesamtkunstwerk.
Die Inszenierung von Carlus Padrissa in Köln geht nicht die gewohnten Wege betulicher Wagner-Schwere. Packende wie irritierende Videos, Projektionen, Bild-gewordene Wortspiele, Bühnenakrobatik begleiten dort Richard Wagners Mystik-durchdrungene Bühnenweihfestspiel-Visionen. Das Publikum nahm es gelassen, positiv. Viel, wenn auch nicht tosender Beifall. Alles sehr karfreitagsgerecht. IOCO / Viktor Jarosch / 1. April 2013.
Weitere Parsifal Vorstellungen: 1. April, 5. April, 11. April, 14. April 2013