Köln, Oper Köln, Nils Karlsson Däumling, IOCO

OPER KÖLN: Wer ein Feuerwerk von zündenden Regie-Einfällen, zwei hinreißende Musik-Akteure und ein bezauberndes, minimalistisches Bühnenbild in einem insgesamt poetischen Nachmittag mit (Klein)kindern, Enkeln und für sich selbst erleben möchte: Auf nach Köln! ...

Köln, Oper Köln, Nils Karlsson Däumling, IOCO
OPER Köln - StaatenHaus @ Matthias Jung

„Killevips!“ - Gedanken zur Opern-Inszenierung „Nils Karlsson Däumling“ der Kinderoper Köln

von Thomas Honickel

Wer ein Feuerwerk von zündenden Regie-Einfällen, zwei hinreißende Musik-Akteure und ein bezauberndes, minimalistisches Bühnenbild in einem insgesamt poetischen Nachmittag mit (Klein)kindern, Enkeln und für sich selbst erleben möchte: Auf nach Köln!

Oper Köln - Däumling - youtube Oper Köln

Was wird verhandelt?

Hintergrund und Tiefenpsychologie

Keine Geringere als die weltberühmte schwedische Meisterin der Kinder- und Jugendliteratur Astrid Lindgren schrieb im Nachkriegsschweden (1947) mit dem „Nils Karlsson Däumling“ die Geschichte vom einsamen Bertil, der als eines der sogenannten Schlüsselkinder seine Tage alleine daheim verbringen muss, da die Eltern berufstätig außer Haus sind. In dieser gesellschaftlich verordneten Isolation freundet er sich mit eben diesem Däumling an, der seine Heimstatt in einer freigewordenen Mäusehöhle im Keller hat.

Hintergrund dieses Szenarios sind die aufreibenden, von Existenznöten geplagten Nachkriegsjahre, die auch in Schweden den Eltern die doppelte Berufstätigkeit abverlangten und die den Kindern eine frühe Selbstständigkeit und Eigenverantwortung auflasteten. Lindgren versteht ihre märchenhaft-sympathische Erzählung auch als Parabel, die die damaligen Zustände sozialkritisch unter die Lupe nimmt. In manch einer Facette mag uns das soziale Setting da durchaus bekannt vorkommen: Doppelte Arbeitsverhältnisse beider Eltern, um irgendwie über die Runden zu kommen, Einzelkind-Status, das in weiten Teilen Sichselbstüberlassenseins von Kindern, fehlende Freunde und Spielgefährten gerade im städtischen Umfeld und manches mehr. Im Gegensatz zu heute gab es allerdings im Nachkriegs-Schweden noch keine staatliche Kinderbetreuung.

Die Entwicklungspsychologie kennt bei (Einzel)Kindern (vor allem im Vorschulalter) das Phänomen der imaginären Freunde. Kinder gerade in häufig isolierten Situationen (während der Corona-Zeit wurde dies nochmals besonders deutlich) erschaffen sich unsichtbare, aber hochpräsente Spielgefährten, denen sie Namen geben und mit denen sie eifrig Unterhaltungen führen, die sie füttern und mit denen sie ins Bett gehen; imaginäre Freunde eben, die sie durch diese Phasen der Entwicklung und einsamer Situationen begleiten.

Bertil ist da so ein Kind, das des Morgens von den Eltern (ohne gemeinsames Frühstück) verabschiedet wird, um dann teils lange Tage bis zu deren Rückkunft alleine zu verbringen. Nahezu folgerichtig erfinden sich diese Kinder eigene Spielkameraden. Bei Bertil ist es erst noch ein Plüsch-Dino, den er umsorgt. Doch das soll und wird sich ändern!

Bertil: Alina König Rannenberg // Nisse (Violine) Karin Nakayama @ Jann Höfer

 Storyline

Im Etagenbett, das Bertil mit allerhand Wichtigem (und für die Inszenierung Zentralem) bestückt hat, ist sein Heim. Eine Rutsche von dort oben führt ihn auf den Boden des Kinderzimmers, wo ihn eine neue Wirklichkeit erwartet: Denn unterhalb der Sphäre der Sicherheit ist, durch einen Vorhang verdeckt, der Einstieg in den Keller. Von dort erscheint wie von Geisterhand Nils Karlsson Däumling, genannt Nisse, der sich dem erstaunten Bertil als Untermieter vorstellt. Er ist so groß wie ein Daumen, weswegen ein Dialog auf Augenhöhe schwierig ist. Aber Lösung naht: Das Zauberwort lautet „Killevips!“ und verwandelt den großen Bertil in den daumengroßen Bertil, der in Nisse nun endlich einen Spiel- und Sprachgefährten hat. (Das Wort ist abgeleitet vom umgangssprachlichen „Killefitz“, was soviel bedeutet wie Kleinkram, Unfug, etwas Unbedeutendes, das man nicht ernst zu nehmen braucht).

Die Idee der Verkleinerung, um sich neue Welten zu erschließen, ist nicht ganz neu. Man denke hier etwa an Selma Lagerlöffs Nils Holgersson. Und tatsächlich erhielt Lindgren für die Kurzgeschichten rund um den Däumling 1950 die Nils-Holgersson-Plakette.

Däumling reiht sich in viele weitere Figuren von Lindgren ein, die in jungen Jahren erwachsen werden und Probleme lösen müssen, Freunde suchen und finden, und die erkennen, dass auch die Kleinen, scheinbar Unbedeutenden von Wichtigkeit werden können: Krümel in Die Brüder Löwenherz, Mio in Mio, mein Mio und natürlich die berühmte Pippi Langstrumpf. Da ist der Weg zu Frodo und Sam von den Hobbits nicht weit.

Gemeinsam tauschen sich also Bertil und Nisse, der Däumling, aus. Nisse berichtet vom Keller, Bertil von der Oberwelt des Kinderzimmers. So kommen sich die beiden näher und frühstücken nun gemeinsam, befeuern die kalte Kellerwohnung des Däumlings, spielen Ritter und Knappe gegen den bösen Mäusekönig (Don Quixotte lässt grüßen), duschen nach siegreichem Kampf in Seifenblasen, tauschen ihre Kleider und schlafen endlich ein. Freundschaft ist etwas ganz Einzigartiges!

Komposition & Libretto

Der noch junge franco-kanadische Komponist Thierry Tidrow (*1986) hat auf der Grundlage eines Librettos von Manfred Weiß eine Version geschaffen, die hochartifiziell und gleichermaßen wie improvisiert daherkommt (UA 2019 Dortmund). Die Besetzung ist so karg wie die Personnage: Eine Sängerin (Bertil) und eine geigende Sprecherin oder sprechende Violinistin (Nisse). Nahe an der Neugier gerade kleiner Kinder kommt die Geigenpartie auf die Jüngsten zu: Knarzen und Pochen, Säuseln und Singen, Holpern und Hetzen. Das Perkussive, das informiert zahlreiche Spielarten der Violine adaptiert, um Außermusikalisches in Klänge umzusetzen, ist ein Crashkurs in Sachen Neuer Musik, jedoch nicht als esoterisches Geklingel à la Donaueschingen, sondern spielerisch und feinsinnig mit fahlem Ponticello, Schlagwerk-col legno, gruseligen Tremoli oder mal sehnsuchtsvollen, mal phantastischen Glissandi. Alles dient der lautmalerischen Verstärkung der Gedanken, Empfindungen und (ja!) auch seiner Sprache. Denn Bertil muss in einer ersten Szene mit dem Kleinwüchsigen dessen Vokabular auf der Geige erstmal entschlüsseln. Seine erste Fremdsprache im Kinderzimmer!

Dazu entwirft Tidrow eine Gesangsstimme für Bertil, die sich ausgehend von Vokalisen über frei gestaltete Melodiefetzen des Textes ohne Taktstriche annimmt. Das klingt bisweilen wie die Marie aus Bergs Wozzeck, aber drängt sich im Handlungskontext nie als Avantgarde auf. Vielmehr schmiegt sich die Melodik, bisweilen auch tonal geprägt wie beim Zauberspruch „Killevips!“, überzeugend an die Sprachtexte an, so wie Kinder bisweilen ins Spiel vertieft versonnen vor sich hin summen. Die gemeinsamen Duett-Passagen sind von einer einigermaßen virtuosen Gestaltung, was ein optimales Einvernehmen der beiden Protagonisten zwingend macht.

Herausfordernd für die Akteure ist dabei vor allem, die alles andere als simple Faktur der Musik zu realisieren, ohne das Spiel über Gebühr zu vernachlässigen. Überdies gilt es bei diesem Genre der Kinderoper auch stets die Zielgruppe im wahrsten Sinne des Wortes im Auge zu behalten. Denn das Werk ist in nicht wenigen Teilen interaktiv.

Die nahe an der Bühne sitzenden Kinder des Auditoriums werden immer wieder in die Handlung einbezogen. Ob das die Idee der Autoren oder der Regie ist, bleibt offen, macht aber durchaus Sinn. Wie in Barries Peter Pan („Glaubt ihr an Elfen?“) sollen die jungen Zuhörer den Zauberspruch verstärken; im günstigsten Fall mit geschlossenen Augen. Gemeinsam wird in Seifenblasen gebadet (hier assistieren einige Eltern mit Seifenblasen über den Kinderhäuptern mit), gemeinsam fiebert man im Kampf gegen den Mäusekönig (vgl. Hoffmanns Nussknacker), der durch die Reihen der Zuschauerkinder erfolgt. So bleibt die Geschichte stets auf Temperatur und alle Anwesenden (Eltern eingeschlossen) nah und tief am Geschehen.

Bertil: Alina König Rannenberg // Nisse (Violine) Karin Nakayama @ Jann Höfer

 Bühne, Kostüme, Requisite und Beleuchtung

Mara Lena Schönborn hat eine sichere Hand für die Erfordernisse des Bühnenbildes. Das Etagenbett mit Untergestell, das in den karg beleuchteten Keller weist, ist wie aus IKEA entlehnt. Die Rutsche führt Bertil in Sekundenschnelle auf den Fußboden. Die Pendeluhr an der Wand wird nur lebendig in den Rahmenteilen, wenn sich die Eltern verabschieden oder zurückkommen. Ansonsten bleibt die Welt von Bertil und Nisse zeit-los (sic!) und gleichermaßen voll mit Erlebtem.

Genial die Idee, alle Dinge aus Bertils Welt in die verkleinerte Welt von Nisse zu schieben. Ein Loch im Bett, versteckt unter der Bettdecke Bertils, schafft die Möglichkeit, überdimensionale Käselaibe, Rosinen und Baguettes, die später zu Schild und Schwert werden, riesige Streichhölzer und vieles mehr glaubwürdig in die kleine Unterwelt zu bugsieren. (Hier meint man, kurz bei Swifts Gulliver zu verweilen). Chapeau für die Requisite! (Anna Lowygina)

Die Kleidung der beiden Helden ist kindgerecht und dennoch fantasievoll. Im Laufe des Spiels darf sich Bertil mit einigen Fetzen aus dem Kostüm von Nisse schmücken, wird so tatsächlich selbst so etwas wie ein zweiter Nisse.

Die Beleuchtung drängt sich nie auf, ist aber unverzichtbares Element der Inszenierung. Wunderbar das Marionetten-Finale, wo die Realität für alle im Raum wieder hergestellt wird, ohne die Illusion zu zerstören. Herausragend, vor allem für die kleinen Zuschauer, dass ein „echtes“ Feuer im Kinderzimmer brennt. Dabei hatten die Eltern ausdrücklich den Einsatz der Zündhölzer verboten. Da mag manch Kind am Bühnenrand etwas neidisch geschaut haben.

Inszenierung & Zielgruppen

Der Spagat besteht bei diesem Konzept gleich mehrfach. Einerseits soll die Produktion mobil, andererseits sowohl für die Kleinsten als auch für die Bestagers von Altenheimen geeignet sein. Das gelingt mit einem minimalistischen Ambiente, das sich wohl in Rekordzeit auf- und abbauen lässt, das aber gleichzeitig unmittelbar in eine fantasievolle Kinderzimmerwelt entführt.

Der Regieansatz von Michal Hoffmeyer ist kindgerecht, ohne sich anzubiedern oder ausschließlich in der Kindersprache zu verbleiben. Da hat der Librettist eine optimale Grundlage geschaffen, die es auch älteren und ältesten Betrachtern ermöglicht, die Geschichte zu inhalieren: mal nostalgisch, mal verzaubert, mal mit Schmunzeln.

Hoffmeyer erzählt die Geschichte mit Esprit und Tiefgang gleichermaßen; seine Deutung lässt der eigenen Phantasie Raum, führt uns von Szene zu Szene ohne Brüche und kann die interaktiven Momente so homöopathisch steuern, dass sie nicht ausufern. Gleichzeitig schafft er es, die sonst übliche Distanz von Bühne zu Zuschauerraum nahezu unsichtbar zu machen.

Seine beiden Protagonistinnen hat er zu überbordendem Spiel aufgefordert, was der Geschichte und der Partitur hör- und sichtbar guttut. Die poetischen Augenblicke kostet er aus und vertraut zurecht auf ihre Tragfähigkeit. Das gebannte Schweigen bei Schlüsselszenen ist die schönste Anerkennung der Inszenierung. Aber die Kinder applaudieren auch spontan, etwa beim siegreichen Kampf gegen den Mäusekönig im Keller, was die dauerhafte Präsenz der Jugend am Geschehen untermauert.

Gespannt wäre man, hier nun die älteste Generation unserer Gesellschaft in Alten- und Pflegeheimen zu erleben. Die Produktion ist auch und gerade für Menschen gedacht, die sich im Stadium einer Demenz befinden. Wie wunderbar!

Bertil: Alina König Rannenberg // Nisse (Violine) Karin Nakayama @ Jann Höfer

Sing- und Spieldarstellerinnen

Mit Alina König Rannenberg (Sopran/Bertil) und Karin Nakayama (Violine/Nisse-Däumling) erlebten wir zwei überaus einnehmende Künstlerinnen, die sich mit Haut und Haar, mit Stimme und Instrument dem Stück verschrieben haben.

Die musikalische Seite des Unternehmens war bei ihnen in den allerbesten Händen bzw. Stimmen. Mit großer Souveränität gestalteten sie die Partien, ohne das nötige Spiel mit vor allem gewinnender Mimik und nonverbaler Gestik vermissen zu lassen.

Der glasklare Sopran von König Rannenberg schuf vom ersten Moment an eine hohe Identifikation. Nahezu vibratolos in der Höhe, treffsicher bei heiklen Sprüngen und warm in der Mittellage (vor allem beim Freundschaftlied und den Zaubersprüchen) war sie ideale Projektionsfigur für viele Mädchen und Jungen im Saal. Sie kann sich bei Bedarf klein oder groß machen, hüpfen und klettern, albern sein und mutig, kann schmollen und schmunzeln. Ihr Spiel ist hinreißend, weil sie sich völlig verausgabt und einsetzt. Lindgren hätte diesen Bertil geliebt!

Ihr zur Seite ein Nisse, wie man ihn sich nicht besser denken könnte. Karin Nakayama spielt eine Violine, die allen Erfordernissen der Partie restlos genügt. Vom ersten Knarzen im Off, bis zum finalen Freundschaft-Gutenacht-Lied ist die Violine ihre Stimme, mit der sie in der Lage ist, alles zu „sagen“, was Bertil erreichen soll. Selten hat man eine Violinpartie erlebt, die so überzeugend „spricht“. Technisch makellos und mit einer Farbenpracht gesegnet ist ihr Geigenspiel der allerbeste Mitspieler der Geschichte. Dass sie überdies in vielen Passagen simultan auch noch ihre gesprochenen und gesungenen (!) Texte realisiert, macht das Ganze zu einem nahezu olympischen Akt. Bravissimo!

Für beide Darstellerinnen gilt, dass die große Textdeutlichkeit unbedingt erwähnenswert, weil nicht selbstverständlich ist!

Publikum

Eine Schar von fast 100 Kindern (zumeist im Vorschulalter) über eine Schulstunde lang gebannt an ein Bühnengeschehen zu fesseln, das deutlich karger ist als alles, was die Screens von TV, Tablets, Kino, Handy & Co anbieten, ist eine kolossale Leistung. Wie oben beschrieben, ist die Bandbreite von heiterer, ausgelassener Stimmung (auf beiden Seiten der Bühne) bis zu poetischer Ruhe und knisternder Spannung enorm.

Da schaut keiner der Eltern auf die Uhr, kein Kind muss dringend auf die Toilette. Plötzlich ist der fantasievolle Spuk vorbei; aber Gottseidank verspricht Nisse ja: „Morgen komm ich wieder!“ Intensiver Applaus von den Rängen und von den jungen Menschen am Bühnenrand, der erst abbricht, als der junge Regisseur Michal Hoffmeyer allen Kindern eine Postkarte der Produktion verspricht, auf die sich Nisse und Bertil noch mit einem Stempel verewigen. Education at its best!

Fazit

Mit dieser Regiearbeit hat der junge Oldenburger Michal Hoffmeyer nun nach langen Jahren als Assistent seine erste eigene Inszenierung vorgelegt. Ein vermeintlich kleines Werk, das unmittelbar generationsübergreifend einnimmt und ausstrahlt, und mit dem sich der junge Spielleiter für weitere Aufgaben empfiehlt. Allerdings hat er mit den zwei Protagonistinnen auch zwei äußerst charismatische Partner und mit den kreativen Menschen der angeschlossenen Gewerke auch hingebungsvolle Kolleginnen an seiner Seite. Mit dieser interessanten Neudeutung der bekannten Parabel der schwedischen Erfolgsautorin Lindgren fügt die Kölner Kinderoper ihrer langjährigen Erfolgsgeschichte ein neues Kapitel hinzu.: „Killevips!