Klosterneuburg / Wien, Kaiserhof, La Bohème - Giacomo Puccini, IOCO Kritik, 16.07.2022
La Bohème - Giacomo Puccini
- Erschütternder Totentanz im Kaiserhof des Stiftes Klosterneuburg bei Wien -
von Anna Kaiser
Seit über 20 Jahren steht die operklosterneuburg für einzigartige Opernerlebnisse und Sommertheater auf Spitzenniveau. In der malerischen Kulisse des barocken Kaiserhofes in Klosterneuburg bei Wien können sich zeitgemäße Inszenierungen der großen Werke der Opernliteratur sehen – und hören lassen: 2022 steht die Oper La Bohème von Giacomo Puccini im Mittelpunkt des Opernfestivals.
In der Inszenierung des Franzosen François de Carpentries spürt man seine Liebe zu den SängerInnen. Er führt das Ensemble aus dem von Komik dominierten ersten und zweiten Akt in die Tragik des dritten und vierten Aufzuges.
De Carpentries’ offensichtlich sehr differenzierter Personenführung ist es zu danken, dass in der Inszenierung die vielen kleinen Dilemmata der einzelnen Protagonisten deutlich zu Tage treten können: Rodolfos Unfähigkeit mit Mimis Krankheit umzugehen, Marcellos begründete Eifersucht und Ungeduld, Mimis Naivität und Zerbrechlichkeit, Musettas Überspanntheit und Wildheit.
Optisch unterstützt wird de Carpentries’ Konzept durch Csilla Domjan (Maske), Lukas Siman (Licht) und die kluge Auswahl von glücklicherweise der Zeit der Handlung entsprechenden Kostümen der Belgierin Karine van Hercke. Ausgelassen überspielen die vier Bohemiens anfangs ihre tatsächliche - materielle - Not. Überschattet aber wird alles vom omnipräsenten Hauch des Sterbens, eindrucksvoll personifiziert durch Tänzerin Liviana Degen.
Aus diesem Hauch lässt de Carpentries am Ende des vierten Aktes den Tod selbst werden, der am Kutschbock eines Leichenwagens stehend, darauf wartet, die soeben verstorbene Mimi ins Jenseits zu führen. Durch das Herz zerreißende „Coraggio“ (Sei mutig) von Marcello (Thomas Weinhappel) und die beeindruckenden „Mimi“-Rufe von Rodolfo (Clemens Kerschbaumer) wird so das Ende der Oper zu einem ungeheuer packenden, einprägsamen Bild. De Carpentries und sein hochkarätiges Sängerensemble machen aus der Klosterneuburger Bohème dank ihrer brillanten gesanglichen und schauspielerischen Leistungen einen erschütternden Totentanz, der dem Zuschauer unglaublich unter die Haut geht, weil es einem immer mal wieder schwer fällt, zu entscheiden, wer von ihnen das traurigste Los gezogen hat:
Ist es Colline (Dominic Barberi), der in seiner meisterhaft gestalteten Mantelarie mit profundem Bass die personifizierte Melancholie zu sein scheint? Ist es Marcello (Thomas Weinhappel), der – schauspielerisch exzellent und stimmlich um ein Vielfaches dünkler und mächtiger geworden – bis in die kleinsten Facetten beeindruckend zeigt, wie sehr ihm die Kränkungen durch Musetta und das traurige Schicksal seines Freundes Rodolfo zusetzen? Oder ist es gar die höhensichere Aleksandra Szmyd als Musetta, die ihre raffiniert dargestellten Eskapaden im zweiten Akt angesichts des Schicksals von Mimi im 4. Akt bühnensicher reuen? Vielleicht der meist in sich gekehrte Schaunard (Aleš Jenis)? Oder sind es doch Rodolfo (Clemens Kerschbaumer) und Mimi (Einspringerin Camille Schnoor), die ein wunderbares Puccini-Pärchen wie aus dem Bilderbuch sind?
Kerschbaumer, der sich als Tenor ganz eindeutig für das italienische Fach empfiehlt, vermag mit seinen sicheren und überaus strahlenden Höhen und seiner von rührender Ehrlichkeit geprägten Darstellung, Schnoor mit ihrer dramatischen Mittellage und einem erstklassigen Piano zu imponieren. Sie alle bilden ein stimmlich wie schauspielerisch ausgezeichnet aufeinander abgestimmtes Ensemble, was dem Kammerspielcharakter der Bohème perfekt gerecht wird.
Der Kunst des in Wien geborenen Bühnenbildners Hans Kudlich ist es zu danken, dass sowohl die intimen Sequenzen im ersten, dritten und vierten Akt, als auch das geschäftige Treiben im zweiten Akt trotz eines sich nur um Nuancen verändernden Bühnenbildes raffiniert und stimmig in Szene gesetzt werden.
Einziger fallweise zu bemerkender Schwachpunkt ist die vom musikalischen Leiter, dem aus Linz stammenden Christoph Campestrini, forcierte Lautstärke des Orchesters (hier im Besonderen jene der Bläser), unter der die Balance zwischen Orchester und SängerInnen stellenweise leidet; daran können auch die sonst guten akustischen Verhältnisse des Klosterneuburger Innenhofes nichts ändern.
Wenn auch – wie Claude Debussy meinte – Giacomo Puccini in seiner Bohème die Pariser Atmosphäre besser als jeder andere beschrieben hat, gelingt es Campestrini nicht immer, der Beethoven Philharmonie und dem gründlich studierten Chor (Chorleitung Michael Schneider) diese Atmosphäre bei derart forcierter Lautstärke zu entlocken.
Eine Bohème und Bohèmiens, die unsere Aufmerksamkeit verdienen!
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