Klagenfurt, Stadttheater, STALLERHOF – Gerd Kühr, IOCO
Sophie Springer gelingt es, die beklemmende Atmosphäre des ländlichen Milieus, in dem das Werk spielt, in eine eindringliche Bühnenrealität zu übersetzen.
von Marcus Haimerl
Gerd Kührs erste Oper Stallerhof, ein Auftragswerk der Landeshauptstadt München für die 1. Münchner Biennale, wurde am 3. Juni 1988 in München uraufgeführt. Es ist die Vertonung des gleichnamigen Theaterstücks des deutschen Schriftstellers, Theaterautors, Regisseurs und Schauspielers Franz Xaver Kroetz, das am 24. Juni 1972 in Hamburg uraufgeführt wurde. Es handelt von Sexualität, Behinderung und Gewalt gegen Frauen und war bei seiner Uraufführung kein Skandal, sondern wurde von Publikum und Presse als besonders eindrückliche Sozialkritik wahrgenommen. Und doch ist es eng mit einem österreichischen Skandal verbunden. Dieser Skandal war auch einer der Gründe, warum der österreichische Komponist Gerd Kühr gerade dieses Werk als Grundlage für seine erste Oper gewählt hat.
Dr. Agnes Larcher, seit Herbst 1971 Vertragslehrerin an der Hauptschule Absam, plante mit der Mädchenklasse 4B die Lektüre des Theaterstücks Stallerhof und Geisterbahn von Franz Xaver Kroetz zu lesen. Sie verteilte am Samstag, dem 2. Juni 1973 den Text der beiden Stücke und wollte diese mit den Schülerinnen in der Folgewoche behandeln. Bereits am 4. Juni 1973 ließ der Direktor alle Texte einsammeln, die junge Lehrerin wurde umgehend suspendiert. Am 6. Juni 1973 überreichte die Leiterin des Schulamtes der Tiroler Landesregierung an Dr. Agnes Larcher das Entlassungsschreiben. Begründung: Weil Sie sich durch die entgeltliche Weitergabe von nicht entwicklungsgemäßen, vom Bundesministerium für Unterricht und Kunst als Klassenlesestoff nicht approbiertem Lesegut an Schüler der Hauptschule Absam, sowie durch die Verwendung dieses Leseguts im Deutschunterricht einer besonders schweren Verletzung der Dienstpflichten schuldig gemacht haben. Nach dem 6. Juni 1973 wurde dieser „Schulskandal“ erst in Tirol, dann in Österreich und schließlich auch in Deutschland als der „Fall Larcher“ bekannt. Die Entlassung von Dr. Agnes Larcher führte zu intensiven Debatten, Medien wie der ORF, Die Presse, Der Spiegel und Die Zeit berichteten ausführlich darüber. Bischof Paulus Rusch der Diözese Innsbruck thematisierte die Entlassung in seiner Fronleichnamspredigt "Über das notwendige Bekenntnis zur sittlichen Sauberkeit" am 8. Juli 1973 unter anderem mit den Worten: Wer also sittliche Sauberkeit will, wird eine Behandlung dieses Stückes ablehnen. Der Theologe Karl Rahner unterstützte Agnes Larcher, indem er betonte, dass solche Stücke im erzieherischen Kontext für Schülerinnen zumutbar seien. Trotz intensiver öffentlicher Unterstützung blieb die Entlassung bestehen und der Fall wurde vor das Arbeitsgericht gebracht. Ein gerichtlicher Vergleich ermöglichte Dr. Larcher die erneute Anstellung im Schuldienst.
Im Mittelpunkt der Oper Stallerhof steht die Beziehung der geistig zurückgebliebenen Bauerntochter Beppi und dem fast 60-jährigen Knecht Sepp. Beppi wird von ihren Eltern, dem Bauern Staller und seiner Frau, als soziale Schande empfunden. Der ständige Druck, dem Beppi ausgesetzt ist, verstärkt ihre Fehlleistungen. Nur der Knecht Sepp scheint sich um sie zu kümmern. Nach einer Geisterbahnfahrt auf dem Rummelplatz tröstet Sepp die verängstigte Beppi und vergeht sich an ihr. Zunehmend übernimmt Sepp die Rolle als Herr und Beschützer des Mädchens. Die Eltern entdecken die Affäre, aus Rache und zugleich Hilflosigkeit vergiftet Staller Sepps Hund und wirft ihn vom Hof. Staller und seine Frau beraten, wie es mit der schwangeren Beppi weitergehen soll, die Stallerin bereitet einen Abtreibungsversuch vor, kann ihn aber aus Mitleid nicht durchführen. Die Oper endet mit dem Einsetzen der Geburtswehen.
Ergänzend zum Theaterstück wurde für Gerd Kührs Opernfassung das Libretto um Texte für eine Introduktion und Zwischenmusiken ergänzt. Franz Xaver Kroetz schlug Texte aus dem 27. Kapitel des Fünften Buch Mose des Alten Testaments vor, die von der Verkündung der Gebote handeln, zumal das ganze Stück vom Widerspruch zwischen dem fünften und sechsten Gebot lebt. Für diese Bibelmusik wählte Kühr ein Frauenterzett mit hellen, klaren Stimmen. Gerd Kühr schuf mit seiner Musik, die zwischen Tonalität und Atonalität, Kinderlied, Volksmusik und Kirchenmusik wechselt, eine vielschichtige, emotional durchdringende Klangsprache. Sie verstärkt die Tragik der Handlung, lässt aber auch Raum für eine gewisse Schönheit und Menschlichkeit, die in den Figuren verborgen liegt. Ein besonderes Highlight ist die Geisterbahnfahrt im zweiten Akt, bei der die Orchestermusiker 20 Sekunden lang frei improvisieren und ein beeindruckendes Klangchaos erzeugen. Der Schluss der Oper wird durch eine einfühlsame Szene gekrönt, in der Beppi in ihrem Solostück von einer typisch altsteirischen Besetzung aus zwei Violinen, Hackbrett und Bassgeige begleitet wird. Sophie Springers Regiearbeit zeichnet sich durch eine konsequent realistische, dabei jedoch vielschichtige szenische Umsetzung aus. Ihr gelingt es, die beklemmende Atmosphäre des ländlichen Milieus, in dem das Werk spielt, in eine eindringliche Bühnenrealität zu übersetzen. Dabei tritt die Enge und Ausweglosigkeit des dörflichen Lebens nicht nur in der Handlung, sondern auch im Bühnenbild und in der Figurenführung deutlich zutage. Auffällig ist auch die radikale Betonung der Unterdrückung: Beppis Lebensraum ist ein karger Verschlag unterhalb der Stube ihrer Eltern als bildhafte Metapher für ihre unterdrückte Stellung in der Familie (Bühne: Thomas Stingl). Gleichzeitig weckt der Raum beim Publikum Assoziationen zu realen Missbrauchsfällen und reflektiert das zentrale Motiv der Gefangenschaft – physisch, psychisch und sozial. Springer erschafft so eine Atmosphäre, in der die Grenzen zwischen fiktivem Drama und schmerzhaft greifbarer Wirklichkeit verschwimmen. Ein weiterer markanter Kunstgriff ist der Einsatz des Frauenterzetts in drei Fenstern oberhalb der Stube, die in dieser Inszenierung als Mitglieder der Dorfgemeinschaft in Erscheinung treten und so den moralischen Druck auf die Figuren erhöhen. Sie spiegeln die versteinerten Werte der Umgebung wider, rücken die Handlungen und Entscheidungen der Charaktere ins kollektive Urteil der Gesellschaft und schärfen so die moralischen Konflikte des Stückes. Die Personenführung ist von Genauigkeit und Sensibilität geprägt. Springer lässt die Figuren nicht einfach agieren, sondern macht ihre innere Zerrissenheit und seelische Verletzlichkeit sichtbar. Über feine Gesten, Blicke und räumliche Arrangements schafft die Regisseurin eine beklemmende Nähe, die den Schmerz, die Unterdrückung und die stumme Verzweiflung fühlbar werden lässt. Die naturalistische Detailtreue der Szene kontrastiert dabei wirkungsvoll mit den lyrisch-abgründigen Momenten der Musik, sodass sich ein ebenso direktes wie vieldeutiges Spannungsfeld zwischen Klang und Bild öffnet. Insgesamt überzeugt Sophie Springers Regie durch ihren mutigen Realismus, ihre subtile Psychologisierung der Rollen und die Fähigkeit, die gesellschaftlichen Mechanismen, die Gerd Kührs Oper thematisiert, klar und ungeschönt auf die Bühne zu bringen. Ihr gelingt es, die düstere Grundstimmung des Werks in eine Bühnensprache zu übertragen, die das Publikum herausfordert, verstört und zugleich tief berührt.
Musikalisch gelingt es dem gesamten Ensemble, mit intensiver Klanggestaltung, subtiler Charakterzeichnung und stimmlicher Präzision eine durchweg packende und unvergessliche Interpretation zu liefern. Stephen Chaundy beeindruckt in der Rolle des Staller. Seine Stimme, von kerniger Strahlkraft und fokussiertem Klang, formt die autoritäre Härte des Vaters ebenso wie die unterschwellige Verunsicherung, die unter dessen patriarchaler Fassade lauert. Gerade in den wütenden Ausbrüchen gelang ihm eine perfekte Balance aus kraftvollem Volumen und stimmlicher Kontrolle, sodass Stallers innere Zerrissenheit unmittelbar spürbar war. Als Stallerin schuf Sarah Alexandra Hudarew mit ihrem volltönenden, warmen und zugleich beweglichen Mezzosopran ein fein abgestuftes Porträt der Mutter. Ihre tiefe, dichte Klangfarbe verankerte die Figur in einer ebenso starren wie schmerzlich sehnsüchtigen Welt. Hudarew setzt ihre dramatische Bandbreite klug ein, sodass die Stallerin zwischen leiser Resignation, ersticktem Zorn und gelegentlichem Anflug von Mitleid stets glaubwürdig changiert. Katharina Ruckgaber berührt als Beppi mit kristallklarem, feinnervigem Sopran, der die Verletzlichkeit und Unschuld auf beinahe schmerzhafte Weise in Klang fasst. Ihre helle, unverfälschte Stimme von berührender Schlichtheit lässt Beppis innere Sehnsucht nach Zuneigung ebenso sichtbar werden, wie ihre Unfähigkeit, sich gegen die brutalen Verhältnisse aufzulehnen. Ruckgaber versteht es, Beppis verwundete Seele klanglich offenzulegen, ohne jemals ins Sentimentale abzurutschen. Als Sepp überzeugt der Bariton Matthias Störmer durch eine bemerkenswert differenzierte Interpretation. Sein kräftiges, im Kern warmes Timbre trägt nicht nur die Erdverbundenheit dieses ländlichen Charakters, sondern enthüllt in subtil abgestuften Dynamiken und feingliedrigen Phrasierungen eine tiefe innere Zerrissenheit. Er zeichnet den Knecht als unruhigen, zwischen Gewaltbereitschaft und sanfter Sehnsucht schwankenden Charakter, dessen Unsicherheit in feinen dynamischen Abstufungen stets hörbar bleibt.
Einen starken Eindruck hinterlässt auch das Frauenterzett, bestehend aus Nadia Petrova, Sun Mi Kim und Satoko Narumi. Diese drei Sängerinnen verleihen dem Werk eine Ebene voller archaischer Wucht und moralischer Strenge. Mit exzellenter Intonation, präzisem Zusammenspiel und guter Textverständlichkeit bilden sie einen vokalen Block, der wie ein stummer, uralter Kommentar über den Ereignissen schwebt. Ihr Gesang klingt zugleich bedrohlich, anklagend und unentrinnbar – ein finsterer Resonanzraum, der die Handlung gleichsam überhöht. Unter der Leitung von Mitsugu Hoshino gelingt es dem Kärtner Sinfonieorchester, Gerd Kührs anspruchsvolle Partitur in all ihrer subtilen Komplexität und emotionalen Dichte überzeugend zum Klingen zu bringen. Der Dirigent zeigt ein feines Gespür für die Balance zwischen klanglicher Transparenz und atmosphärischer Verdichtung. Das Ergebnis war ein orchestraler Klangkörper, der nicht nur Begleiter, sondern eigenständiger Interpret war – ein wesentlicher Faktor für das Gelingen dieser musikalisch und szenisch herausfordernden Produktion. Trotz spürbarer Betroffenheit zeigte sich das Publikum begeistert und dankte den Künstlern mit entsprechend intensivem Applaus.