Luzern, KKL, LUZERN FESTIVAL 2024, IOCO
KKL Luzern: Viele beliebte Werke würden im Repertoire fehlen! Der ungarische Dirigent Iván Fischer und das Budapest Festival Orchestra gehen diesem Gedanken anhand von drei verschiedenen Beispielen nach. Als Sergej Prokofjew (1891-1953) nach der Oktoberrevolution ......
LUZERN FESTIVAL 2024 - 14.9.2024 - KONZERTSAAL KKL - LUZERN - Konzert mit Werken von Prokofjew, Bartók und Dvořák - Budapest Festival Orchestra - Iván Fischer, Dirigent - Patrica Kopatchinskaja, Violine
von Peter Michael Peters
WAS WÄRE KLASSISCHE MUSIK OHNE POPULÄRE MUSIK…?
Viele beliebte Werke würden im Repertoire fehlen! Der ungarische Dirigent Iván Fischer und das Budapest Festival Orchestra gehen diesem Gedanken anhand von drei verschiedenen Beispielen nach. Als Sergej Prokofjew (1891-1953) nach der Oktoberrevolution seine russische Heimat verließ und 1918 in New York ankam, traf er dort drei ehemalige Studienkollegen aus St. Petersburg, die ein Klezmer-Ensemble gegründet hatten und ihm Partituren mit aschkenasischen Volksliedern und chassidischen Tänzen schenkten. Aus diesem Material schuf Prokofjew seine Ouvertüre über hebräische Themen, Op. 34 a (1919/arr. 1934): ein lebendiges und humorvolles Stück, das Erinnerungen an die verlorene Welt des Schtetls wachruft. Béla Bartók (1881-1945) wiederum durchstreifte den gesamten Balkan auf der Suche nach unverfälschter, alter Bauernmusik. Sie wurde zum Ausgangspunkt für seinen musikalischen Aufbruch in neue Welten – wie wir sie im Violinkonzert N° 2, Sz. 112 (1936/38) finden, das die aus Moldawien stammende Patricia Kopatchinskaja auf unvergleichliche Weise spielt. Der tschechische Komponist Antonín Dvořák (1841-1904) wiederum adelte die Tänze seiner Heimat, indem er sie in seine Symphonien einfließen ließ: Sogar die heroische Symphonie N° 7 in d-Moll, Op. 70 (1885) weist als Scherzo einen rasanten und feurigen Furiant auf.
Ein klingendes Denkmal…
März 1918. Fünf Monate nach der Oktoberrevolution verlässt Prokofjew seine Heimat Russland. Von Moskau reist er über Sibirien nach Japan, von dort schifft er sich nach San Francisco ein und erreicht schließlich im Spätsommer New York. Anders als erhofft, rollt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten keinen roten Teppich für ihn aus. Immerhin aber lernt Prokofjew hier seine spätere Frau kennen. Private Heimat in der Fremde!
Und: Im Jahr darauf komponiert er seine wohl beliebteste Oper: Die Liebe zu den drei Orangen, Op. 33 (1956). Kaum ist die Tinte der Partitur getrocknet, gibt es ein unerwartetes Wiedersehen: „Im Herbst 1919“, so erzählt es der Komponist in seinen Lebenserinnerungen, „kam das jüdische Ensemble Zimro nach Amerika. Es bestand aus einem Streichquartett, einem Klarinettisten und einem Pianisten. Alle waren seinerzeit meine Mitschüler am Musik-Konservatorium in St.Petersburg gewesen“. War Prokofjew mangels künstlerischer Perspektive aus Russland emigriert, kamen seine jüdischen Kommilitonen als Flüchtlinge in die USA. Denn seit der Machtübernahme der Bolschewiki erlitten Juden in Russland brutalste übergriffe. Allein im Jahr ihrer Flucht hatten zahllose Pogrome mehr als 150.000 Todesopfer gefordert.
Die Musiker des Ensemble Zimro hatten, so Prokofjew weiter: „ihre Konzerttournee unternommen, um Geld für die Gründung eines Musik-Konservatorium in Jerusalem aufzubringen. […] Sie baten mich, für sie eine Ouvertüre für sechs Instrumente zu schreiben und gaben mit ein Heft, in dem jüdische Melodien aufgezeichnet waren. […] Eines Abends wählte ich daraus ein paar schöne Melodien und begann über sie am Klavier zu improvisieren. […] Am nächsten Tag arbeitete ich die Themen aus und am Abend war die Ouvertüre fertig […]; sie hatte ziemlichen Erfolg.“
Dieser Erfolg war wohl auch der Grund dafür, dass Prokofjew das Stück 1934 für kleines Orchester bearbeitete. Den typischen Klezmer-Klang der Klarinette hat er bewahrt: Ein klingendes Denkmal für die jüdischen Opfer des Jahres 1919…
Einer der Höhepunkte des Genre…
Das Violinkonzert N° 2, Sz. 112 sollte nach den Ideen von Bartók ursprünglich ein sogenanntes Thema und Variationen für Violine werden, ein Genre, das ihm am Herzen lag. Doch sein Freund, der Geiger Zoltán Székely (1903-2001), dem das Werk gewidmet war, bevorzugte eine eher klassische konzertante Form in drei Sätzen. Bartók kam daher seinem Wunsch nach und behielt dabei die Variationsschrift im zweiten und letzten Satz bei.
Die Kompositionsdauer von fast zwei Jahren ist für den Komponisten ungewöhnlich. Die ersten Skizzen stammen aus dem Jahr 1936, die endgültige Fassung wurde 1938 fertiggestellt. In der Zwischenzeit komponierte er seine Kontraste für Violine, Klarinette und Klavier, Sz. 111 (1940) sowie seine Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug, Sz. 110 (1938). Die Entstehung dieses Konzerts erfolgte zeitgleich mit einer für Bartók schwierigen Zeit, insbesondere einer Verschlechterung der politischen Situation in Ungarn, die den Künstler dazu veranlasste über ein Exil in die Vereinigten Staaten nachzudenken.
Es war der Geiger Székely, Widmungsträger des Konzerts, der als Solist bei seiner Uraufführung am 23. März 1939 mit dem Royal Concertgebouw Orchestra unter der Leitung von Willem Mengelberg (1871-1951) fungierte.
Das Konzert besteht aus drei Sätzen und seine Aufführungsdauer beträgt etwa knapp vierzig Minuten. Es ist ein gequältes Stück und ein reifes Werk, das mit dem endgültigen Stil des Komponisten beginnt.
° Allegro non troppo – Dieser von Harfe und Pizzicato eingeleitete erste Satz ist um zwei Themen herum gebaut: Das erste wird von der Violine mit sehr lyrischen Akzenten gesungen, das zweite Risoluto basiert auf zwölf chromatischen Klängen ohne Wiederholung und ohne Bezug zum Dodekaphonismus.
° Andante quietlo – Dieser zweite Satz ist nach dem Thema und dem Variationsschema aufgebaut: Die ornamentalen, konzertanten, polyphonen Variationen zeugen von großer Freiheit und wahrer Flexibilität und beweisen, wie Bartók sich in der ursprünglichen Kunst der Kombination instrumentaler Klangfarben hervorgetan hat, insbesondere in Begriffe der Perkussion.
° Allegro molto – Der letzte Satz in Form einer Rondo-Sonate von großer Lebendigkeit schließt das Werk ab, indem er die meisten Motive des ersten Satzes in eine von vom Komponisten bevorzugten Bogen-Konstruktion umwandelt.
Bartók war ein ausgezeichneter Pianist, war aber nie Geiger, verfügte dennoch aber über perfekte Kenntnisse der Saiteninstrumente. Zu seinem Konzertwerk für Violine gehören auch zwei Rhapsodien, die fast zehn Jahre zuvor geschrieben wurden, sowie ein erstes Konzert aus den Jahren nach seinem Tod, wieder entdeckt wurden. Die Nummerierung dieses Konzerts ist daher nicht das Werk des Komponisten. Bartók schrieb 1945 Skizzen für ein Abschlusskonzert: Dieses Mal für Bratsche.
Heroisch und feurig…
Einer gut etablierten Überlieferung zufolge ist die Symphonie N° 7 in d-Moll, Op. 70 die angesehenste der neun Symphonien von Dvořák. Sie wurde in einer Zeit des Zweifels geschrieben. Mitte der 1880er Jahre stellte sich schließlich der erhoffte große Erfolg ein. Der tschechische Komponist wird nun endlich ins Ausland eingeladen: Nach England, Deutschland, Ungarn, Russland und in die Vereinigten Staaten. Wien, die Stadt von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und Franz Schubert (1797-1828), ruft den Komponisten dazu auf, sich in seinen Mauern niederzulassen.
Kann Dvořák eine Ablehnung vernünftiger Weise in Betracht ziehen? Welche Zukunft hat ein Musiker, so begabt er auch sein mag, in der Provinzstadt Prag? Wird der aktuelle Erfolg des Verlegers Nikolaus Simrock (1751-1832), der gekonnt kurze Stücke bestellt, die in den Salons sehr beliebt sind, nicht bald verebben? Was die Gagen angeht, die er für seine Partituren erwarten könnte, versteht es sich von selbst, dass eine Installation in Wien den tschechischen Komponisten gegenüber Simrock oder seinen Konkurrenten in eine komfortable Position der Stärke bringen würde.
Das sind die Fragen, die sich Dvořák stellt. Er fragt sich, ob auch er in der Lage ist, eine Symphonie zu schreiben, die denen von Johannes Brahms (1833-1897) ebenbürtig ist, eine Symphonie, die sich der Welt auf natürliche Weise aufdrängt und die für diejenigen, die in ihm nur den liebenswürdigen böhmischen Folkloristen sehen, eine vernichtende Ablehnung wäre. Es widerstrebt ihm, sein Heimatland zu verlassen. Als Landjunge ist er der Großstadt gegenüber misstrauisch. Und er vergisst auch nicht, dass er Deutsch, spät und nicht ohne Schwierigkeiten gelernt hatte, die für ihn und dem restlichen tschechischen Volk die aufgezwungene Sprache bleibt.
Unter diesen Bedingungen schrieb er die Symphonie N° 7 in d-Moll. Es ist in Wirklichkeit die zweite in dieser Tonart. Eine hat er bereits vor zehn Jahren komponiert – in der heutigen Nummerierung ist es die vierte -, die neben brillanten Qualitäten auch einige Schwächen aufweist.
Ein langer Akkord aus Celli und Kontrabässen, ein Pianissimo-Paukenwirbel, ein strenges und gequältes Thema: Die Atmosphäre ist vom Beginn des ersten Satzes Allegro maestoso an vorgegeben. Der Ton ist sehr streng! Es erinnert an ein unversöhnliches Schicksal, das in dieser Hinsicht dem Geist von Piotr Ilitch Tschaikowsky (1840-1893), dem Opfer eines schrecklichen Schicksals nahe kommt. Das Wiegenlied des zweiten Themas ist eine offensichtliche Hommage an Brahms. Die Klarinette greift die erhabene Melodie des Andante aus dem Klavierkonzert N° 2 in B-Dur, Op. 83 (1881) des deutschen Meisters auf und entwickelt sie weiter. Dvořák überrascht uns mit einem höllischen Flächenbrand des Orchesters, einem vehementen Crescendo, das alle Notenpulte erobert. Dieses gigantische de profundis clamavi wird am Ende des Satzes in noch eindrucksvollerer Form wiederholt. Wir denken an die Säulen, die diese riesigen Kathedralen tragen, die in Anton Bruckners (1824-1896) Symphonien sind. Das Ende ist ein langes Gemurmel, das keine Linderung der in diesem ersten Satz aufgebauten Spannung bietet.
Das Poco Adagio ist ein Lied des Schmerzes. Die unbeschreibliche Schönheit der Melodien ist nie frei von einer dumpfen Bedrohung. Die Angst bleibt konstant, wie dieser seltsame Marsch, sowohl heroisch als auch traurig, der mit dem Stöhnen der Winde endet. Dieser Satz bietet einen der schönsten Höhepunkte der Lyrik, die Dvořák je komponiert hat, mit einer Raffinesse, die der böhmische Komponist noch nie zuvor erreicht hatte.
Es ist ein seltsames Scherzo: Vivace, mit dem der dritte Satz beginnt. Der nervöse Volkstanz, der ihm zugrunde liegt, hat nichts von der offenen Fröhlichkeit eines slawischen Tanzes. Sein eindringlicher Rhythmus klingt in unseren Ohren wie der symphonische Ländler von Bruckner und dem nächsten von Gustav Mahler (1860-1911). Diese elegante und wilde Musik hat die Schönheit des Teufels!
Der Seufzer, der das abschließende Allegro eröffnet, kündigt die Rückkehr der gequälten Atmosphäre des ersten Satzes an. Dvořák konzentriert all seine Kunst des Kontrapunkts, seine Orchestrierungs-kunst und sein Talent als Polyphonist um uns ein atemberaubendes Finale zu bieten. Er überwindet Stürme und romantische Ausbrüche und hält uns mit all seinem Sinn für Dramatik in Atem. Dieser Wettlauf in Richtung Abgrund lässt die Konzentration trotz einiger Lichtungen nie nach. Das Thema des Schicksals, unausweichlich, akzentuiert durch den Tritonus – Diabolus in musica! – vom Ausgangsthema erscheint wieder. Der Ausgang des Kampfes ist bis zum Schluss ungewiss, bis die majestätische, vom gesamten Orchester kraftvoll ausgestoßene Coda endet, unglaubliche Erleichterung in extremis für eine Symphonie von beispielloser Dichte ihres Autors. Die Symphonie N° 7 in d-Moll, die für die Royal Philharmonic Society London komponiert wurde, wird am 22. April 1885 in dieser Stadt uraufgeführt. Dvořák dirigierte selbst! Dank vielen großen Interpreten von einmaligem Format wie z. B. der deutsche Dirigent und Pianist Hans von Bülow (1830-1894) sollte sich der Erfolg bald in ganz Europa verbreiten. Er war Widmungsträger dieser Symphonie!
Das darauffolgende große Werk war eine sehr bedeutsame Rückkehr zu den mythologischen Quellen der slawischen Völker: Das gewaltige Oratorium Svatá Ludmila, Op. 71, B 144 (1886), das Dvořák ungewöhnlich lange beschäftigte. Fast neuen Monate von September 1885 bis Mai 1886…
Wien und die große Welt reichen ihm die Arme? Was auch immer! Dvořák ist nicht für das gehobene Leben geeignet. Seine Einfachheit passt nicht gut zu formellen Abenden und aristokratischen Versammlungen. Trotz der Vorteile eines Standorts in der Hauptstadt des Imperiums kann er sich nicht dazu durchringen, seine Provinz, sein Haus in Vysoká und seine langen Spaziergänge in der Natur aufzugeben. Bald werden neue schillernde slawische Tänze und eine leuchtende Symphonie N°8 in G-Dur, Op. 88 (1890) diese unerschütterliche Verbundenheit bestätigen.
KKL Luzern - Konzert - 14. September 2024
Wilde und ansteckende Lebendigkeit…
Der Abend beginnt mit der Ouvertüre über jüdische Themen von Prokofjew, ein Kammermusikwerk aus dem Jahre 1919, hier wird es in der Bearbeitung von 1934 für kleines Orchester gespielt. Inspiriert von einer Sammlung jüdischer Volksmotive, die Zimro mit Prokofjew teilte, wählte der russische Komponist zwei Themen für seine Ouvertüre. In der reinen Klezmer-Tradition beginnt das erste mit einer lebhaften und fröhlichen Tanzmelodie, die ans Groteske grenzt und von der Klarinette unter rhythmischer Begleitung des Orchesters eingeleitet und entwickelt wird. Die zweite ist eine klagende Melodie, getragen von den hohen Tönen des Cellos. Das erste Thema kehrt in einem kurzen Durchführungsabschnitt zurück, in dem die Melodie fragmentiert, umgekehrt und kontrapunktisch bereichert wird. Der erste Abschnitt wiederholt sich dann, wobei das Klezmer-Thema ein letztes Mal für einen kurzen Auftritt zurückkehrt, bevor die Musik zu einer letzten Explosion von Akkorden beschleunigt. Die Ouvertüre ist ein Werk, das kaum von der Geschichte der Verfolgung der Juden in Osteuropa zu trennen ist, denn diese Musik verkörpert ihre Freuden und ihr Leiden. Die Aufführung der Ouvertüre in Luzern, fast ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023 und deren teilweise negativen Auswirkungen auf europäischen Boden stellen Fragen und erfordern vor allem den richtigen Ton. Der ungarische Dirigent Iván Fischer und sein Budapest Festival Orchestra spielten die Ouvertüre im richten Ton: Mit leuchtender und ernster Energie und einer wilden und ansteckenden Lebendigkeit, die nach dem letzten Takt in anhaltendem Applaus explodierte.
Zu sanften Harfenklängen explosive Wildheit…
…formt eine Solo-Violine eine leidenschaftliche Melodie, die eine betörende Mischung aus Angst und Zärtlichkeit ausstrahlt. Die emotionale Mehrdeutigkeit in der Eröffnungspassage von Bartóks Violinkonzert N° 2 schafft die Bühne für einen fesselnden Dialog zwischen der Solistin und dem Orchester, das eine erstaunliche Vielfalt an Stimmungen einfängt. Das Konzert wurde für den großen Virtuosen Székely geschrieben, einen von Bartóks profiliertesten Konzertpartnern und Widmungsträger seiner 2. Rhapsodie für Violine und Orchester. Székely hatte sich lange dafür eingesetzt, dass Bartók ihm ein solches Werk schrieb, doch der Komponist wehrte sich standhaft gegen den Vorschlag. Vielleicht hatte seine Zurückhaltung viel mit den schmerzhaften Erfahrungen zu tun, die er mit seinem Violinkonzert N° 1 gemacht hatte. Dieses 1907/08 entstandene Werk blieb zu seinen Lebzeiten unbekannt und unveröffentlicht – ein Produkt einer unerfüllten Liebesbeziehung mit der Geigerin Stefi Geyer (1888-1956), die nicht nur die Avancen des Komponisten zurückwies, sondern sich auch weigerte das Konzert zu spielen.
Doch im Laufe der Zeit scheinen diese unangenehmen Erinnerungen so weit verbannt worden zu sein, dass Bartók seine Meinung änderte. 1936 teilte er seinem Verleger mit, dass er über die Komposition eines Violinkonzerts nachdenke und die jüngsten Werke von Alban Berg (1885-1935) und Karol Szymanowski (1882-1937) studieren wollte, um seine schöpferische Vorstellungskraft anzuregen. Er brauchte jedoch noch zwei weitere Jahre, um die Partitur fertigzustellen, wobei sein Fortschritt zweifellos durch die Verpflichtung behindert wurde, andere Kompositionen wie die Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug und Kontraste fertigzustellen. Ein weiterer Faktor war die zunehmend instabile politische Lage in Europa, die Bartók 1940 schließlich dazu zwang, seine Heimat Ungarn zu verlassen und in die USA zu gehen. Dies scheint seine Moral schwer belastet zu haben! Inwieweit diese Unsicherheit den musikalischen Charakter des Konzerts beeinflussten: Bleibt eine offene Frage. Es genügt zu sagen, dass die explosiven Aggressionsausbrüche, die jeden Satz durchziehen und die ebenso unerwarteten Passagen voller Mysterium und innerer Reflexion ein tiefes Gefühl der Unruhe erzeugen.
Seit Yehudi Menuhin (1916-1999) wurde der Masstab erstaunlich hoch gelegt, mit zahllosen herausragenden Interpreten dieses Werks von einer Galaxie von großen Stars! Aber die Aufführung des heutigen Abend muss sich auf keinen Fall in den Schatten stellen: Die großartige Violinistin Patricia Kopatchinskaja mit dem Budapest Festival Orchestra und Fischer brachte genügend Explosivstoff in Form von Adrenalin mit und sie bewahrte auch eine aufregende Balance zwischen ihrem Instrument und dem Orchester. Wie zu erwarten, spielte Kopatchinskaja ihren Solopart großartig und entlockte der Musik eine irrsinnig große Bandbreite an Farben und Emotionen, ohne jedoch die strukturelle Kohärenz des Werks zu opfern. Sie spielte, besser gesagt, sie sang und tanzte gewissermaßen mit ihren nackten Füssen wie auf glühenden Kohlen in wilder Ekstase, um dieser hochexplosiven Musik gerecht zu werden. Aufgrund ihrer umfangreichen Erfahrung im Spielen osteuropäischer Volksmusik erschafft Kopatchinskaja eine ganz andere Klangpalette als die übrigen Geigerinnen. Ihr Ton kann in einer Passage kraftvoll hart und in der nächsten zart lyrisch klingen. Fischer und sein Orchester sind unglaublich reaktionsschnelle Partner, die auf alle Nuancen in Kopatchinskajas Spiel mit lebhaft charakterisierten Klangfarben reagieren. Gute Beispiele sind die brillanten Einwürfe von Flöte und Klarinette im Eröffnungssolo und die spielerischen Dialoge zwischen Holzbläsern, Harfe und Schlagzeug im Allegro scherzando des Mittelteils. Angesichts des überaus beeindruckenden Beitrags des Orchesters erscheint es ganz angemessen, hier Bartóks ursprünglichen Schluss des Finales zu spielen. Die dröhnenden Blechbläser erinnern für einen Moment an die Eröffnungspassage seines Balletts Der wunderbare Mandarin, Op.19, Sz. 73 (1926) und bescheren dem Werk einen unwiderstehlich berauschenden Abschluss. Ein verdienter tosender Applaus für diese Interpretation und dass nicht nur für die Interpretin, sondern für alle Mitwirkenden.
Neugierde auf die eigene Identität…
Ein packendes, dunkles und beunruhigendes Klima zunächst: Fischer vertieft sich in den Diskurs und misst die Bilanz. Mit ihren zitternden Streichern und den köstlichen Horn- und Oboen-Akkorden ist das Budapest Festival Orchestra eindeutig unverwechselbar. Im wachen schnellen Tempo sprudeln gewissermaßen die Musiker! Ihr mitreißender Dvořák zeigt mehr als ein echtes Gespür für Fortschritt, leidenschaftliche Frische und ansteckende Überschwänglichkeit in der Unterstützung. Der langsame, freie, offensichtliche Satz spielt mit einem majestätischen Ton die Karte des Theaters. Umgekehrt wird das elegante Scherzo nicht die erwartete Spannung erhalten. Dieser oberflächliche, überaus romantische Dvořák gipfelt in einem zweiten Satz, der sowohl angespannt als auch bukolisch ist. Das führt zu einem brandheißen Scherzo, in dem Fischer definitiv die perfekte Balance zwischen Tanz und Drama findet. Wir haben trotz allem mit dieser hinreißenden und glühenden Symphonie N° 7 eine Menge Hörgenuss! Die Leidenschaft und Angst der ersten Takte reagiert auf das idyllische Licht des Waldes. Das Poco-Adagio ist voller Charakter, singt und entzündet sich unter den Wirbeln der Flöte und dem Klang der Posaune. Das elegante Scherzo ist präzise, bissig, prägnant! Das Budapest Festival Orchestra hatte uns im wahrsten Sinne bezaubert und wir verspürten unweigerlich im Saal den unnachahmlichen erdigen Duft und den wild tanzenden Teufel der böhmischen Wälder. (PMP/18.09.2024)