Jacques Offenbach: 150 Jahre La Vie Parisienne, IOCO Aktuell, 23.04.2016
Jacques Offenbach: 150 Jahre "Pariser Leben"
LA VIE PARISIENNE: Uraufgeführt 1866 im Palais Royal, Paris
Von Albrecht Schneider
Mit dem Namen JACQUES OFFENBACH (1819 - 1880) verbindet sich hierzulande zumeist dessen Oper HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN. Ganz gleich ob Staatsoper oder Stadttheater, jedes Haus wird diese Opéra Fantastique irgendwann einmal im Repertoire gehabt oder sie gerade im Programm haben. Ihre Entstehungsgeschichte verläuft leider ähnlich unselig, wie hernach ihre Seinsgeschichte bis in die Gegenwart hinein.
War doch JACQUES OFFENBACH bereits während der Arbeit an der Oper HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN schwer krank und starb vor deren Ende. Das hinterlassene Konvolut fertiger, halbfertiger, skizzierter und teilweise in alle Welt zerstreuter Notenblätter lieferte keine eindeutigen Hinweise, wie das endgültige Gesicht des Werks hätte aussehen sollen. Es spricht für die Genialität des Maestro Offenbach und bestätigt den Rang seiner - gemäß einer französischen Vorstellung deutscher Romantik - Opéra Fantastique, dass sie trotz einer fragmentarischen, zudem durch willkürliche Beschneidungen und durch Einschübe entstellten Partitur, einen bis heute andauernden Triumphzug rund um den Globus anzutreten vermochte.
Es bedurfte nicht weniger der Meisterschaft ihres Komponisten, um seine kleine und große Taten der Musik, über welche leider die Heldentat der LES CONTES D’HOFFMANN einen Schatten wirft, zu bewirken. Heutzutage sind seine unzähligen "kleineren", zumeist einaktigen Stücke wie z.B. MESDAMES DE LA HALLES, FORTUNIOS LIED, BA-TA-CLAN, VERLOBUNG BEI DER LATERNE - alles wahre Pretiosen an Esprit, Charme und Musik - den Deutschen weitgehend fremd, ausgenommen die mehrteiligen, wie vor allem ORPHEUS IN DER UNTERWELT und DIE SCHÖNE HELENA. Dagegen dürften DIE GROSSHERZOGIN VON GEROLSTEIN wie PARISER LEBEN vorzugsweise von Tonträgern aus die kleinen oder großen Ohren der Musikliebhaber erreichen. Aus Anlass der Uraufführung von LA VIE PARISIENNE im Jahr 1868, vor hundertfünfzig Jahren, soll diesem Glanzstück in Offenbachs Schaffenskatalog Erwähnung getan und es dabei gewürdigt werden.
Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zog es Heinrich Heine, den jüdischen Kaufmannssohn und jungen Dichter, nach Frankreich in der Überzeugung, in Paris ein Jahr nach der Julirevolution von 1830 deren Folgen kritischst beobachten zu müssen. Bald darauf brach auch sein um etliches jüngerer Landsmann, der 1819 geborene und gerade einmal vierzehn Jahre alte jüdische Kantorensohn Jakob Offenbach dorthin auf. Freilich in ganz anderer Absicht, nämlich um am Pariser Conservatoire die Ausbildung zum Cellovirtuosen voranzutreiben. Indessen der Ältere der zwei Rhapsoden in Frankreich, in dem die Juden anders als daheim alle Recht innehatten, zu einem genauen Schilderer französischer und zugleich bissigen Kommentator deutscher gesellschaftlicher wie politischer Zustände gedieh, so entwickelte sich der Instrumentalist Jakob aus Köln am Rhein im Laufe der Zeit zu dem Komponisten Jacques Offenbach. Und der begann mittels seiner Satiren, Travestien und Farcen, die im Gewand von Opéras comiques, Operetten und Bouffonerien daherkamen, nach und nach die glänzendste Stadt Europas zu deren Amüsement - im Jargon der Jetztzeit ausgedrückt - musikalisch aufzumischen. Gewiss war es ihm nicht nur darum zu tun, Adel, Bourgeoisie und Halbwelt einen Ohrenschmaus zu bieten. Nein, der in steter Arbeitswut Librettisten animierende, Noten schreibende, verwaltende, inszenierende und dirigierende knochendürre Mann verstand es nicht minder, mit Beginn von Louis-Napoleons Zweitem Kaiserreich dessen Fasson und Figuren ebenso zur Kenntlichkeit zu parodieren wie zuvor jene des Juste Milieu eines Bürgerkönigs Louis-Philippe.
Während dem Musiker bislang zumeist Stoffe aus der Mythologie, den Märchen oder der Historie zu Vorlagen gedient hatten, so schickte er mit LA VIE PARISIENNE die moderne Metropole Paris samt Bewohnern und Besuchern auf die Bühne. Welch launiges, frivoles und kurioses Theater hier aufgeführt wurde, wie die Musik eine unverschämte Camouflage in Gang brachte und in Bewegung hielt, das vergnügte ein ständig auf neue Reize versessenes Publikum. Ihren Spaß daran hatten sogar Potentaten wie Sultan, Zar, Könige und Prinzen, die anlässlich der Weltausstellung 1867 an die Seine gereist waren.
Was nun setzten die Textdichter Ludovic Halévy und Henri Meilhac gemeinsam mit dem Tonsetzter Jacques Offenbach so delikat wie hinreißend in Szene: Zunächst lassen sie die Herren Gardefeu und Bobinet, ein Duo einheimischer Dandys, an einem Pariser Bahnhof herumlungern, wo die Eisenbahn Touristen zuhauf ausspuckt. Die zwei charmanten Nichtsnutze haben bislang ihr Dasein dem Umgang mit feinen und weniger feinen Damen, überhaupt dem Lustgewinn jeder Qualität gewidmet, und fühlen sich einem derartigen Lebenswandel auch fernerhin fest verpflichtet. Zu dem Zweck nehmen sie sich eines gerade angereisten schwedischen Ehepaars an, deren männlicher Teil, der Baron Gondremarck, auf die ihm empfohlene Starkurtisane der Stadt namens Metella scharf ist, wohingegen die sehr hübsche Baronin auf das gepriesene Pariser Leben überall zu treffen hofft. Gardefeu, recht angetan von der schwedischen Schönen, dient sich mit unkeuschen Gedanken den beiden Touristen als Cicerone an und lädt sie in sein Haus ein, indem er ihnen vorgaukelt, hierbei handele es sich um die Depandance eines Luxushotels. Allerdings bringt der Wunsch des Schweden, an der Hoteltafel, der Table-d’hôte, zu Abend zu speisen, den Hausherren gewaltig in Verlegenheit. Womit das Spiel der Täuschungen, der Maskeraden, der Frivolitäten wie auch der Melancholie endgültig anhebt.
Gabrielle und Frick, Handschuhmacherin die eine, Schuhmacher der andere, wegen Lieferungen just zugegen, müssen als Hauptmannswitwe bzw. als ein Major gemeinsam mit ihrem rasch herbeizitierten Freundeskreis die Hotelgäste mimen. Metella erscheint und trifft auf den geilen Baron. Die funkelnagelneue Offizierskopie Frick betont ihre zivilen Vorzüge ähnlich arios wie die synthetische Wittib Gabrielle melodiös ihrem dahingeschiedenen Hauptmann nachseufzt. Zuletzt möchten alle ihren Teufelshunger gestillt haben und schmettern unisono in einem wirbelnden und polternden Dreivierteltakt: »Allons à table.«
Benehmen und Handlungsweisen der Bonvivants, Domestiken, Schwärmer, Hedonisten, Protzer und Liebeslustigen offenbaren sich im Dialog, den Charakter und das Temperament schenkt ihnen die Musik, wie sie ohnehin das PIECE EN 5 ACTES MÊLÉE DE CHANT (Originaltitel) mit Leidenschaft und Sinnlichkeit auflädt. Ihren Fortgang nimmt die Lustbarkeit am nächsten Tag mit einer Soirée im Hause von Bobinets Tante, Madame de Quimper-Karadec, wo das nordische Aristokratenpaar Gondremack der vornehmen Gesellschaft begegnen sollen. Die freilich formiert sich aus besagter Verwandten vielköpfiger männlicher wie weiblicher Dienerschaft, die sich zu fashionablen, standesgemäßen Personen ausstaffiert. Das Zimmermädchen singt mit den Kollegen ein anrührendes Couplet von der Liebe, die Handschuhmacherin trällert vom graziösen Gang der Pariserinnen, die Konversation erschöpft sich in melodischen Höflichkeitsfloskeln und ebensolchen Diagnosen gegenseitiger Trunkenheit, bis die Gesellschaft entflammt vom Augenblick einen Jubelchor über Spiel und Tanz anstimmt.
Ein Geldprotz von Brasilianer lädt am dritten Abend zum Maskenball in den Festsaal des Café Anglais, wo Mimikry und Amüsement sich wiederholen. Sie alle miteinander drehen sich im Kreise, und das nicht allein beim Walzertanzen. Metellas elegisches Lied weiß von der Flüchtigkeit des Genusses und der Leere danach. Eine Gesellschaft feiert sich selbst, eine, der am grauenden Morgen beim Kehraus der Feier deren Geschmack bitter auf der Zunge liegen müsste. Doch der Katzenjammer verschwindet im Furioso der Musik, die bis ins Finale ihren Protagonisten gewogen bleibt. Von denen sieht zum Schluss wohl niemand seine Erwartungen erfüllt: Weder buhlt der Baron erfolgreich um die Kokotte Metella, noch kriegt Gabrielle den brasilianischen Krösus, Bobinet darf weiter halb- wie ganzseidenen Damen Avancen machen und Gardefeu gegenüber erweist sich die Baronin als eine spröde Schöne. Der soziale Aufstieg des Dienstpersonals bricht in der Minute ab, in der es aus dem Kostüm wieder in den Arbeitsanzug zu steigen hat. Aber bedeutungslos aus welchem Stand und von welchem Habitus: keinem und keiner aus diesem Ensemble flirtender und tanzender Komödianten, Schelme und Komparsen wird es ob des Verlusts der künstlichen Paradiese das Herz zerreißen. Schließlich heißt es ja: "Voilá la Vie Parisienne".Der Trug der Welt spiegelt sich im Trug des Theaters, und ihm applaudiert halb Paris. Chapeau, Monsieur Jacques Offenbach und Merci. Albrecht Schneider / 23.03.2018