GRETEL UND HÄNSEL - ein Essay zur Weihnachtszeit
Zur 50. Jubiläumsvorstellung der Märchenoper von Engelbert Humperdinck (1854- 1921) am Oldenburgischen Staatstheater werfen wir in diesem Essay den Blick auf 130 Jahre Entstehungs- und Aufführungsgeschichte; die Uraufführung war am 23. Dezember 1893 in Weimar unter Richard Strauss.
"Nicht ohne meine Schwester!" - Der nicht endende Marathon eines Opernklassikers - auch am Oldenburgischen Staatstheater
von Thomas Honickel
Anlässlich der 9. Wiederaufnahme und zur 50. Jubiläumsvorstellung der Märchenoper von Engelbert Humperdinck (1854- 1921) am Oldenburgischen Staatstheater werfen wir in diesem Essay einmal den Blick zurück in 130 Jahre Entstehungs- und vor allem Aufführungsgeschichte, (Uraufführung am 23. Dezember 1893 in Weimar unter Richard Strauss) resp. Interpretation und Rezeption des Werkes durch die Generationen.
Der Siegburger in Bayreuth
Engelbert Humperdincks Geniestreich im Fahrwasser der Wagnerschen Bayreuth-Opern, wo er während des Parsifal Assistenz des Meisters war, gehört bis heute zu den ungebrochenen Lieblingen des Repertoires.
Das mag zum einen am Märchensujet liegen, vielleicht aber auch am szenisch immanenten Lebkuchenduft, welcher der Oper schnell einen Platz in der Weihnachtszeit sicherte. Unbedingt aber gilt, was schon Richard Strauss, der damals 29jährige Dirigent der Uraufführung am Weimarer Haus, sagte: „Wahrlich, es ist ein Meisterwerk erster Güte! Welch blühende Erfindung, welch prachtvolle Polyphonie – und alles originell und neu
„Kinderstubenweihfestspiel“
Das vom Komponisten mit Augenzwinkern und Verweis auf den parallel entstandenen „Parsifal“ als „Kinderstubenweihfestspiel“ bezeichnete abendfüllende Werk ist eines seiner ganz wenigen sinfonischen Zeugnisse für die Bühne aus dieser Zeit. Die Partitur der üppigen Orchesterbesetzung hat durchaus zahlreiche Anklänge an Wagnersche Musik inklusive zahlreicher Leitmotive. Darüber hinaus verwebt sie aber kunstvoll auch einige Kinderlieder dieser Zeit und schafft überdies auch noch zwei weitere Melodien, die später zu Volksliedern wurden: „Brüderchen, komm tanz mit mir“ sowie den berühmten „Abendsegen“.
Dass das Werk bis heute fast immer in der Vorweihnachtszeit verortet wird, mag der Stille der Zeit mit dem Hang zum Märchenerzählen geschuldet sein, vielleicht auch dem Knusperhaus, das auf die Zeit der Schleckereien verweist. Die Uraufführung, sicher auch ein Traditionselement, war am Vorabend des Heiligabend 1893. Sie wurde für Humperdinck zum kolossalen Erfolg, zum Start in ein gesichertes, auskömmliches Leben.
Der Geschichte selbst ist diese traditionelle, jahreszeitliche Zuordnung indes nicht zu entnehmen, denn die Geschwister sollen im sommerlichen Wald auf einer blumenübersäten Wiese Erdbeeren sammeln; und sie übernachten auch noch (ohne witterungsbedingte Erkältung) im nächtlichen Wald. Aber sei´s drum: wir lieben dieses Werk mit seinem rührseligen Finale so, wie wir auch die übrigen Klassiker aus Film und Fernsehen in diesen vorweihnachtlichen Wochen gerne inhalieren.
Geschwister Humperdinck und Gebrüder Grimm
Adelheit (auch Adelheid) Wette, die Schwester des Komponisten Humperdinck, schrieb das gedichtete Libretto. Daraus wurde zunächst ein Singspiel deutlich kürzer mit Dialogen. Später folgte dann die heutige durchkomponierte Fassung. Für jeden Intendanten ein gefundenes Fressen, um volle Häuser mit deutlich kleinem sängerischen Aufwand herzustellen. Gerade einmal sechs Solisten und ein Kinderchor sieht das Skript vor. Da sind die Kassenergebnisse vorprogrammiert und fest im Etat eingepreist.
Die märchenhafte Folie der Gebrüder Grimm formulierten Wette / Humperdinck neu um, indem sie die Elternrolle neu definieren. Das Erziehungsteam sind die bemühten, aber letztlich zu wenig zugewandten Eltern, die in prekären Verhältnissen lebend mit den sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten restlos überfordert sind. Das zeitgemäße Szenario äußert sich im Alkohol beim Vater und in Prügelattacken bei der Mutter. Von Liebe ist da nicht viel zu spüren. Aber, anders als bei Grimm, sind die Kinder auch zwei ganz schöne Racker, die sich wenig konstruktiv einbringen, sondern „ihr Ding machen“, wie man neudeutsch sagen würde. Das alles ist eine explosive Mischung, die mit der Hexe als vermeintlich zugewandter Freundin das Unheil im Exil der Kinder beschleunigt. Heute würde man von Pull-Faktoren und Brandbeschleunigern sprechen, die sich den Kindern als Alternativprogramm zum elterlichen, spießigen Heim offerieren. Dass diese Verlockungen indes ein Irrweg sind, merken die Kinder sehr spät, und sie entkommen ihnen nur durch Gewitztheit und viel Glück. Gretel ist dabei die entscheidende, mutige Strippenzieherin („Schwesterlein!“), - übrigens ein Brahms-Zitat eines Volkliedes aus dessen Feder-, weshalb wir auch im Titel unseres Beitrags die Namen der jugendlichen Protagonisten gezielt vertauscht haben.
Dass die Kinder bei dieser Selbstrettung gleich noch viele weitere Opfer der Knusperhexe entzaubern und in die Welt zurückführen, gibt ihnen fast den Charakter von kleinen Helden. Das Ganze ist eine Bannlösung, die man in vielen märchenhaften und mythischen Erzählungen findet, etwa bei Astrid Lindgrens „Mio, mein Mio“, wo am Ende die Möwen aus Ritter Katos Burg wieder zu Kindern zurückverwandelt werden, oder im Märchen „Die sieben Raben“, wo die mutige Schwester den Zauber an den verwandelten Brüdern löst. Aber auch in mythologischen Erzählungen kommen immer wieder solche Verzauberungen vor; zumeist in Tiergestalten. Diese gehen mal gut, mal tragisch aus: Odysseus Mannschaft, die von Kirke in Schweine verwandelt werden, oder die Hauffschen Gestalten aus „Kalif Storch“ und „Zwerg Nase“.
Die Nähe zur Kinderwelt stellt sich durch die geschickte Wahl der Stimmpartie für Hänsel ein: eine Hosenrolle für eine jugendliche Alt-Stimme. In zwei zentralen, dramaturgischen Passagen haben Wette / Humperdinck noch die Rolle des Sandmännchens am Ende des 2. Aktes sowie die des Taumännchens zu Beginn des 3. Aktes hinzuerfunden. Ein Gewinn sowohl für das herrliche Engelfinale vor der Pause als auch für den Start in den neuen Tag bzw. ins Unheil des Knusperhausbesuches. Überhaupt spielt die Traumpantomime, so von Humperdinck bezeichnet, eine dramaturgisch zentrale Rolle: Fürs dräuende Unheil ebenso wie für die sich dort bereits andeutende finale Rettung. Auch die Wahl von gleich vierzehn Engeln gemahnt an die vierzehn Nothelfer, die vor allem in der katholischen Glaubenslehre der Zeiten verankert sind (Würzburg/ Balthasar Neumanns spätbarockes Werk: die Wallfahrtskirche „Vierzehnheiligen“).
Die Geschwisterstory im Spiegel der Nachwelt
Die mit zahlreichen archetypischen Motiven beladene Geschichte der Geschwisterkinder in nächtlicher Gefahr und unter zauberischem Einfluss bietet Anhaltspunkte für mannigfaltige Deutungen:
Neben den klassischen, märchenhaften Deutungen gab und gibt es auch immer tiefenpsychologische Interpretationsansätze, die durchaus gelungen und damit auch für Erwachsene sinnstiftend sein können. Seit Eugen Drewermanns Märchenanalysen wissen wir um die tief verborgenen Sinnebenen von Märchen, gerade solcher aus dem Hause Grimm. In den Bereich dieser Deutungen gehören auch Besetzungsfragen wie die Dopplung von Hexe und Mutter (beide Mezzo) in einer Person. Da bekommt dann die Mutter ordentlich ihr Fett weg, und sie ist nur als Albtraumdeutung des 2. Aktes noch sinnfällig ins Happyend zu hieven. Dort schimmert dann von ferne die Stiefmuttervariante der Grimmschen Fassung durch.
In eine ähnliche Richtung geht die Überlegung, die Hexenpartie mit einem Tenor zu besetzen, was der Rolle eine enorme Bizarrerie verleiht; verstößt allerdings gegen den ausdrücklichen Wunsch des Komponisten.
Es gibt auch Deutungen, in denen, einem Splattermovie gleich, der Kannibalismus der Hexe auf offener Szene gezeigt wird, oder wo über Kindesmissbrauch fabuliert wird. Das sind Erwachsenenversionen, die ihre Berechtigung haben mögen, die aber gewiss nicht in die Vorweihnachtszeit als Familienrührstück gehören.
Wie mehrschichtig der Stoff deutbar zu sein scheint, mag man an experimentellen Regiearbeiten neuerer Zeit sehen, die das Werk in die Einöde einer Gebirgslandschaft ziehen, um dort über sexuellen Missbrauch zu verhandeln. (Ein Ansatz, der übrigens dem der Oldenburger „Ring“- Inszenierung von 2015-2020 stark ähnelt). Brigitte Fassbaenders Regiearbeit am Staatstheater Braunschweig macht aus dem Knusperhaus ein Hotel Ilsenstein, das die Jugend im Stil einer Kinderlandverschickung der 50er Jahre empfängt, um sie dort abzuschlachten. “Sweeney Todd“ für die Jugend! Naja…
Die Themen Prekariat, Drogenkonsum, Arbeitslosigkeit, Konfliktpotentiale in Ehen der Unterschicht und Gewalt an Kindern finden latent oder offensichtlich schon in dieser Oper ihren Raum: ein trunksüchtiger Vater, eine überforderte Mutter, schwer erziehbare Kinder oder die Verlockungen der Außenwelt. Günstige Voraussetzungen für einen dramaturgischen Cocktail, den Humperdinck in einem Geniestreich zu Papier brachte. Allerdings blieb er wie manch anderer Meister in den Augen der Nachwelt ein Ein-Stück-Komponist. Zu Unrecht: denn mindestens seine „Königskinder“ hätten Repertoirebetrieb verdient.
Conclusio
Siegburg, die Stadt im Irgendwo-Nirgendwo zwischen Köln und Bonn, schmückt sich heute mit dem Sohn der Stadt, der dort indes als arrivierter Künstler nur noch selten weilte. Nach recht mageren Jahren im Anschluss an das prägende Bayreuth-Erlebnis und dem schnellen Tod Wagners nach dem finalen „Parsifal“ war die weihnachtliche Koproduktion der Geschwister Wette / Humperdinck ein finanzieller Segen und Balsam für die Tonschöpferseele. Das Phänomen von Geschichte, Musik und szenischen Möglichkeiten scheint sich bis heute nie verbraucht zu haben. Das mag auch an den eben archetypischen Momenten des (nicht nur) märchenhaften Stoffes liegen. Aber über allem eben glänzt und schimmert, glitzert und poltert, flammt und gleißt die Musik des Siegburgers auf; jedoch nicht walkürisch sondern eher mit einer nötigen Prise rheinischen Frohsinns und katholischer Frömmigkeit: Keine epischen, wagnerischen Längen, keine überbordenden Klangbombaste.
Die überschaubare Länge von gut zwei Stunden kann man schon fast als didaktischen Kompositionsansatz verstehen; verbunden mit Brezel und Limo in der Pause schaffen das selbst Vorschulkinder bravourös. Apropos Einstiegsalter für diese Oper: Einige Häuser machen den pädagogisch klugen Trick, vor oder vor allem nach der Aufführung im Foyer eine Begegnung mit den Protagonisten herzustellen. Das fördert das Image des Hauses, schafft Bindung zwischen Akteuren und der Jugend und ist vor allem geeignet, der Figur der Hexe das Dämonische zu entziehen. So ist gesichert, dass es nicht zu Albträumen der Kleinen kommen muss; und möglicherweise einer nachfolgenden, grundsätzlichen Abneigung gegen das Genre Oper. Vielleicht hat Frau Rosina Leckermaul (so ihr „wirklicher“ Name, mit denen sie sich den Geschwistern in der Oper vorstellt), ja auch noch etwas Naschwerk in den Taschen ihrer Schürze?