Hannover, Staatsoper Hannover, LA BOHÈME - Giacomo Puccini, IOCO Kritik, 25.12.20222
LA BOHÈME - Giacomo Puccini
- wenn auch Sterne am Himmel leuchten, ist der Abgrund doch oft so nah -
von Christian Biskup
Zu arm um zu leben, aber doch zu reich, um zu sterben: Aber genau das ist es, der Tod, der am Ende das Publikum mit voller Wucht trifft. Giacomo Puccini war ein Theatermagier erster Klasse. Gemeinsam mit seinen Librettisten Giuseppe Giacosa und Luigi Illica schuf er einen mitreißenden dramatischen Stoff, legt dabei jedem Sänger und jeder Sängerin die herrlichsten Melodien in den Mund und lässt dem Orchester Klänge voller Farbe und Leidenschaft entspringen. Sie ahnen es schon – die Rede ist von Puccinis Welterfolg La Bohème aus dem Jahr 1896, der nun seine Wiederaufnahme an der Staatsoper Hannover erlebte; hier besprochene Vorstellung vom 21.12.2022.
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Die Staatsoper Hannover – für viele Enthusiasten heißt dies progressives Musiktheater, Traditionalisten hingegen verschreien das Haus wegen der angeblichen Respektlosigkeit vor den Opernstoffen (man denke an den Freischütz aus dem Jahr 2015 oder La damnation de Faust aus dem Jahr 2019). Gerade die Letztgenannten werden sich daher über die Wiederaufnahme der Inszenierung von Chris Alexander aus dem Jahr 1999 freuen, bietet sie doch eine poetische Sicht auf das Werk. Trotzdem ist die Inszenierung weder mit dem Bühnenrealismus der Vorkriegszeit, noch mit den Auswüchsen des Regietheaters zu beschreiben. Sie ist konkret und bietet doch auch genug Anknüpfungspunkte für die Fantasie der Zuschauenden. Vor allem hat die Inszenierung aber eines, und das ist Flair.
Wir befinden uns über den Dächern von Paris. Oder ist es doch das Mansardenzimmer? Die Übergänge zwischen Rudolfos Zimmer und der Außenwelt sind fließend. Eine schneebedeckte Schräge beschließt den Bühnenraum (Kathrin Kegler), dahinter leuchten die Sterne, im Vordergrund stehen Staffelei, Leinwände, ein nur wenig Wärme spendender Gussofen und einige Stühle. Das alles bietet Gelegenheit für tolle Bilder, gerade bei einem so intensiv und spielfreudig agierenden Ensemble. Rampensingen? Das ist hier Fehlanzeige! Die Personenführung strotzt vor Lebendigkeit und klug arrangierten Zusammenkünften auf der Bühne. Der erste Akt endet mit dem Liebesbekenntnis Arm in Arm vor dem schwarzen Himmel und dem Abgrund des Daches. Ein wunderschönes Bild, doch gleichzeitig von großer Ambivalenz. Die Sterne am Himmel leuchten, doch der Abgrund ist so nahe.
Der zweite Akt im Café Momus verströmt französisches Flair. Farbe und Form – knallig, kontrastvoll und kantig; man fühlte sich geradewegs in ein Gemälde von Toulouse-Lautrec hineinversetzt. Chris Alexander, beziehungsweise Valérie Junker als Leiterin der Wiederaufnahme, präsentieren ein lebendiges und detailverliebtes Bild, das in seiner Gesamtheit kaum aufzunehmen ist. Jede Person des Chores wird individuell geführt. Da gibt es die normalen Cafébesucher, einen Weihnachtsmann – die vorweihnachtliche Zeit charakterisierend, Händler und den knallbunten Parpignol (hervorragend besetzt mit Peter O'Reilly), der mit seiner Kinderschar weiteren Trubel in dieses Wimmelbild bringt. Herrlich komisch gelingt der Auftritt Musettas mit ihrem greisen Verehrer Alcindoro (besetzt mit dem spielerisch großartigen John Pickering), der hier wie ein alter, aber seiner Frau gegenüber machtloser Mafiosi gezeichnet ist. Ein wenig entzerrt wird der Trubel durch die zwei Spielebenen. Während die eigentliche Handlung auf dem Platz vor dem Café stattfindet, dient eine höhere Ebene im Hintergrund als Nebenschauplatz für die wachsame Gendarmerie oder die marschierende Militärkapelle. Im dritten Akt befindet man sich dann vor dem Cabaret, dessen geöffnete Türen Blick auf tanzende Paare in warm-roten Wände eröffnet. Kalte blau-weiße Töne charakterisieren die trostlose Außenwelt, in der Mimì – todkrank und unglücklich – Marcello aufsucht. Wieder ist es Abend – die Sterne funkeln im Hintergrund, es schneit. Doch von der romantischen Atmosphäre fehlt jede Spur. Der vierte Akt – wieder auf der Bühne des ersten Bildes – bringt das Ende. Mimì stirbt auf einem Sessel in Rudolfos Mansarde.
Die Inszenierung mit den aufwendigen und die Individualität jeder Person betonenden Kostümen von Marie-Therese Cramer bezauberte das Hannoveraner Publikum von Beginn an. Nie herrscht Stillstand auf der Bühne, alles ist in Bewegung und das Ensemble agiert mit solch großer Spielfreude, dass der szenische Teil schlicht als beglückend beschrieben werden kann.
Auch musikalisch bot der Abend viel erfreuliches. Allen voran überzeugte die südafrikanische Sängerin Vuvu Mpofu als Musetta. Ausgestattet mit einem vollmundig-glühenden Sopran, hatte sie beste Voraussetzungen für die lasziv-freche Rolle, die sie ganz auch spielerisch voll ausfüllte. In ihrem berühmten Walzer betörte sie Marcello und das Publikum mit ihren wunderbar legato-geführten Gesangslinien, die sie in allen Lagen mit einer angenehmen Leichtigkeit über das Orchester trug. Ebenfalls überzeugend, besonders in den sehr leisen Tönen, gestaltete Kiandra Howarth die Partie der Mimì. Howarth, seit der vergangenen Spielzeit Ensemblemitglied in Hannover, war zuletzt als fulminante Rachel in Halevy's La juive sowie als Desmonda in Verdis Otello zu sehen. Ihre Stimme hat seitdem etwas mehr Schärfe in den Höhen bekommen, zeigt sich allgemein aber mehr im Lyrischen und Leisen bemerkenswert. Ihre bezaubernde Auftrittsarie „Mi chiamano Mimì“ gelingt so sehr intim, ihr Klang ist voller Wärme und Zartheit. Lediglich die sterbenskranke junge Dame nimmt man der Sängerin lange nicht ab. Erst im Schlussakt steht ihr Spiel mit ihrem ersterbenden Tönen vollends im Einklang und es gab wohl kaum jemanden, dem es bei den anschließenden verzweifelten Mimì-Rufen und dieser intensiven Todesmusik aus dem Orchester, nicht kalt den Rücken runterlief. José Simerilla Romero war ihr Partner, also in der Rolle des Rudolfo zu erleben. Anders als bei der ersten Aufführung der Wiederaufnahme (ja, diese Inszenierung macht süchtig und der Rezensent wird wohl auch ein drittes Mal diese Produktion besuchen) zeigte sich der argentinisch-spanisch-amerikanische Tenor nur bei schwacher Stimme und es gelang ihm teils über größere Strecken nicht, über das Orchester zu klingen. Sein Tenor ist eher lyrisch und wegen seiner warmen Klangfarbe prädestiniert als Rudolfo. In der ersten Aufführung gelangen ihm die einschmeichelnden Melodiephrasen mit einem guten Legato, die Höhepunkte wurden mit strahlendem Tenor zelebriert. Bei der zweiten Aufführung war der Eindruck insgesamt schwächer, die Stimme klang häufiger gepresst. Aber wahrscheinlich muss man bei den aktuell grassierenden Krankheitswellen ein paar Abstriche in Kauf nehmen. Die Leistung war insgesamt trotzdem gut. Dies gilt auch für das restliche Ensemble mit Luvuyo Mbundu als kerniger Marcello, Richard Walshe als sehr klangvoller und kraftstrotzender Schaunard und Markus Suihkonen als Colline, der mit seiner Mantelarie einen begeisterten Szenenapplaus hervorrief.
Trotz der durchweg guten stimmlichen Leistungen drang der Gesang nicht immer über das Niedersächsische Staatsorchester Hannover hinweg, das aber gar nicht so laut agierte, denn Dirigent Giulio Cilona setzte weniger den Effekt in den Vordergrund, trieb die Partitur Puccinis nicht in Kitsch, sondern hob die Lyrismen und die Orchesterfarben hervor. Das Zusammenspiel zwischen Graben und Bühne war exzellent, was angesichts der zahlreichen Rubati der Partitur auch oft anders erlebt werden kann. Der Chor und der Kinderchor der Staatsoper Hannover (Einstudierung Lorenzo Da Rio und Tatiana Bergh) agierten dabei auf ebenfalls hohem Niveau und trugen mit ihrer Spielfreude erheblich zu dem eindrucksvollen zweiten Akt bei.
Das Publikum spendete reichlich und begeisterten Beifall, wobei es ein Rätsel bleibt, wieso große Teile des Publikums nach dem entsetzlichen Tod Mimìs in das Orchesternachspiel hinein-klatschen, obwohl man doch angesichts des Bühnendramas versteinert verharren müsste. Fazit: Eine intensive Aufführung eines Meisterwerkes auf durchweg guten Niveau.
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