Hamburg, Elbphilharmonie, Wiener Philharmoniker_Brahms-Glanert-Mahler, IOCO Kritik, 10.2.2017
Ätherischer Streicherklang aus der Tiefe der Unterwelt
Wiener Philharmoniker und Semyon Bychkov
Von Sebastian Koik
Für ihr erstes Konzert in der Elbphilharmonie am 22.1.2017 haben die Wiener Philharmoniker ein Programm mit starkem Hamburg-Bezug zusammengestellt: Mit Johannes Brahms und Detlev Glanert sind zwei der drei Komponisten des Abends Söhne der Stadt; Gustav Mahler lebte und wirkte sechs Jahre lang in Hamburg und dirigierte in dieser Zeit unfassbare 715 Opernvorstellungen.
Das Konzert beginnt mit Johannes Brahms/ Detlev Glanert: Vier Präludien und Ernste Gesänge. Brahms stellte die Texte für die Gesänge aus der Bibel zusammen und wollte darin Trauer und Trost ausdrücken. In den ersten drei Gesängen geht es um den Tod, im vierten Gesang um Liebe als erlösende Kraft. Dieses letzte große Werk von Brahms wird als die Quintessenz seines Liedschaffens angesehen. Detlev Glanert, der in Deutschland meistgespielte lebende Opernkomponist, hat Brahms' Gesänge für Orchester umgeschrieben und sie durch Präludien miteinander verbunden. Er ist beim Konzert anwesend.
Gleich zu Beginn wird deutlich, dass wir es mit einem besonderen Orchester zu tun haben. Die vielen Geigen und Bratschen klingen im ersten Präludium unglaublich ätherisch, ja himmlisch. Unvergleichlich schön. Der erste Gesang führt sofort mit den ersten Zeilen in das Thema Tod ein: „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch.“ Der Bassbariton Johan Reuter singt beim ersten Lied auf eine derart außerirdisch klingende Weise, dass man meinen könnte, er stünde mit beiden Füßen kraftvoll auf dem Boden der Unterwelt. Sehr sonor, mit viel Bass, angenehm warm vibrierend und die Luft wunderbar zum Schwingen bringend. Johan Reuter singt wie mit dem Odem einer anderen Welt. Er setzt die Musik und die Stimmungen ganz hervorragend um und ist eine Idealbesetzung für die Ernsten Gesänge. Dieses erstes Lied kann man sich nicht besser gesungen vorstellen. Das ist ganz große Kunst der Lied-Interpretation
Das zweite Präludium erklingt schmerzerfüllt und leitet perfekt passend das nächste Lied ein. Der sehr einsam klingende Gesang ist getränkt von Leiden, Unglück und Verzweiflung, singt von Unrecht und dem schrecklichen Bösen „das unter der Sonne geschieht“. Das dritte Präludium lässt an Dantes Inferno denken, an Chaos, an Schmerz, ein aus den Fugen geratenes Dasein. Das darauf folgende Lied wirkt zunächst anklagend, leidend, von Schmerz gepeinigt. „O Tod, o Tod, wie bitter bist du“, heißt es in den ersten und wiederholt in den mittleren Zeilen. Doch dann, von einem Moment auf den anderen, wechseln das Orchester und der Sänger zu extrem friedlichen und versöhnlichen Tönen. Das Orchester ist jetzt weit ausladend und verströmt Ruhe, Frieden, Licht, Schönheit. Der Tod wird jetzt mit seiner erlösenden Kraft gesehen. Der Gesang endet mit: „O Tod, o Tod, wie wohl tust du!“ Der Gesang von Johan Reuter ist im Erdboden fest verwurzelt und verankert und setzt die Musik und Gefühlslagen ganz wunderbar um.
Das vierte Präludium beginnt mit großer Nervosität und Unruhe, doch bevor der Gesang des vierten Liedes einsetzt, herrscht Harmonie. Der Gesang des letzten Liedes erklingt zum Schluss in einem Ton der Versöhnung, der Erkenntnis, des Friedens. Auch die sonstige Musik strahlt jetzt Frieden, Ruhe, Harmonie aus. Es wird das Bild einer unbeschwerten Idylle, einer reinen und unschuldigen Welt, einer Welt in Liebe gemalt. Textlich enden die Gesänge mit einem Hohelied auf Glaube, Hoffnung, Liebe, „aber die Liebe ist die größeste unter ihnen“. Dann ein Ausblenden. Ein schöner Ausklang aus der Welt der Vier ernsten Gesänge zurück in unsere.
In der zweiten Konzerthälfte steht Gustav Mahler mit der Sinfonie Nr.1 D-Dur Titan auf dem Programm, ein Werk das Mahler nach der ersten Aufführung in Budapest als zweites 1893 in Hamburg präsentierte. Damals erklang es im Konzerthaus Ludwig am Millerntorplatz an der Reeperbahn, diesmal in der erst vor wenigen Tagen eröffneten Elbphilharmonie. Es beginnt mit der musikalischen Umsetzung von Stille. Aufgefächert über fünf Oktaven halten die Streicher den Ton a. “Im Anfang war das Nichts.“ Es klingt, als sei das Universum leer, als befinde man sich in einer Zeit vor der Erschaffung der Welt. Es herrscht eine sehr schöne Spannung! Cello-Klänge lassen an eine Ursuppe denken. Dann die erste Melodie, der Beginn „richtiger“ Musik. Doch nach den wunderschön gemalten Bildern und mysteriösen Stimmungen zu Beginn des Sinfonie spielt das berühmte Orchester ab jetzt zwar auf einem sehr guten Niveau, aber meist mit unvollkommenem Tempo und Timing und mit suboptimaler Spannung und Musikalität. Nicht straff, nicht spritzig, nicht quirlig und lebendig genug.
Beim Komponieren zitiert Mahler gerne, sich selbst und andere. In seiner ersten Sinfonie zunächst das Lied Ging heute morgen übers Feld, das er vier Jahre zuvor komponiert hatte. Im zweiten Satz stimmt Mahler einen Bauerntanz an, der zwischen derbem Volkston und graziler Kunstfertigkeit oszilliert. Im dritten Satz stimmen zunächst ein Kontrabass und eine Pauke den Kanon Bruder Jakob an, in den nach und nach weitere Stimmen aus dem Orchester einsteigen – das Ganze als Trauermarsch in Moll verwandelt. Es erklingen ein Tanz, ungarische Czardas-Tanzmusik. ein schön komponierter Walzer, doch leider wird das alles nicht lebendig genug gespielt. Es springt kein Funke über.
Über den vierten Satz der Sinfonie schreibt Mahler: „Mit einem entsetzlichen Aufschrei beginnt der letzte Satz, in dem wir unseren Helden mit allem Leid der Welt in furchtbarstem Kampfe sehen. Immer wieder bekommt er eins auf den Kopf vom Schicksal, und erst im Tode erringt er den Sieg. Herrlicher Sieges-Choral.“ Und herrlich, wie das Orchester diesen Kampf, Sieg und Choral spielt! Am Lebendigsten, Kraftvollsten, Musikalischsten spielen die Wiener Philharmoniker am heutigen Abend in den lauten, schnellen und klangmächtigen Passagen, in Passagen wie diesem letzten Satz des Titan. Das Orchester und der durchgeschwitzte, erschöpft und müde wirkende Dirigent Semyon Bychkov erhalten viel Applaus und Jubel. Als Zugaben werden Antonín Dvoráks Slawischer Tanz e-Moll (c-Moll) op. 72/2 und Johann Strauß' (Sohn) Tritsch-Tratsch-Polka op. 214 gespielt.
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