Hamburg, Elbphilharmonie, NDR Elbphilharmonieorchester mit Beethoven und Strauss, IOCO Kritik, 02.03.2017
Krzysztof Urbanski mit NDR Elbphilharmonieorchester
Beethoven - Strauss
Leonoren-Ouverture, Nr. 3 c-Moll op. 37 - Also sprach Zarathustra
Von Patrik Klein
Vollkommene Stille: Das Nichts, dargestellt durch den tiefsten spielbaren Ton eines Orchesters...die Geburtsstunde der Menschheit: Also sprach Zarathustra...Das NDR Elbphilharmonieorchester Hamburg mit Beethoven und Strauss glänzt unter dem Taktstock des Ersten Gastdirigenten Krzysztof Urbanski und der wunderbaren Pianistin Alice Sara Ott.
Nach den umjubelten Eröffnungskonzerten und dem über drei Wochen andauernden Eröffnungsfestival in Hamburgs neuem Wahrzeichen, mit großen Gastorchestern aus Wien, Chicago und Dresden, einem Rockkonzert von den "Einstürzenden Neubauten", sowie etlichen Klavier-, Cello- und Liederabenden, kehrt nun so etwas wie Routine in das Haus am Kaiserkai ein. Die Diskussionen über die Architektur und die Akustik des Hauses verlieren langsam ihre Schärfe. Man ist sich einig, dass der direkte und transparente Klang des Hauses auf fast allen Plätzen, Disziplin bei Musikern und Gästen vorausgesetzt, einem ein wunderbares Konzerterlebnis bescheren kann. Die Qualität der Konzerte war weitgehend meisterhaft und von überragender Schönheit, die den oft durch Mittelmaß gebeutelten Hamburger Kulturliebhaber in einen regelrechten Rausch versetzen konnte.
Wesentlich verantwortlich für diese enorme Qualitätssteigerung ist das Residenzorchester der Elbphilharmonie, das NDR Elbphilharmonieorchester. Mit viel Engagement und jede Menge Überstunden hat das Orchester eine Vielzahl an Konzerten abgeliefert, die sich nicht hinter denen der ganz "großen" Orchester aus Wien , Chicago oder Dresden verstecken müssen. Dazu kamen noch jede Menge "Kurzkonzerte" von etwa einer Stunde Dauer für die Besucher, die normalerweise nicht in ein Konzerthaus gehen. Unter dem Motto "Klassik für Hamburg" konnte der Gast für kleines Geld Blockbuster der Klassik mit dem NDR Elbphilharmonieorchester erleben. Dazu noch einige "Late Night"- Konzerte, wo Klassik auf Pop traf und ein breites Publikum erreichte. Damit erfüllt das Orchester weit mehr, als von ihm erwartet und trägt somit zu einer kulturbereicherten Hansestadt entscheidend bei.
Federführend dabei ist seit 2011 der aktuelle Chefdirigent Thomas Hengelbrock. Interpretatorische Experimentierfreude und unkonventionelle Programmdramaturgie sind Markenzeichen seiner Arbeit, wie man zuletzt beim Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie erleben durfte. "Blockbusterfrei" führte er die erlesene Besucherschar von der Renaissance in die Gegenwart. Zudem brachte er einen frischen, inspirierenden "Musiziergeist" ins Orchester, und löste bei Orchestermusikern und Publikum eine regelrechte Aufbruchstimmung aus. Getragen und zusätzlich belebt wird diese vom jungen und dynamischen polnischen Dirigenten Krzysztof Urbanski als Erstem Gastdirigenten, der heute am Pult steht. Urbanski pflegt seit seinem Debüt im Jahr 2009 enge Beziehungen zum NDR Elbphilharmonie Orchester. 2015/16 hat er die Nachfolge von Alan Gilbert als Erster Gastdirigent angetreten und das Orchester u. a. auf Gastspielreise in Breslau, Kattowitz, beim Beethoven-Osterfestival in Warschau, beim Osterfestival in Aix-en-Provence sowie beim großen HafenCity Open Air zum Abschluss der Saison in Hamburg dirigiert.
Für den heutigen Abend hat man eine der interessantesten Pianistinnen unserer Zeit, Alice Sara Ott engagiert, die schon in einigen Konzerten mit dem NDR Elbphilharmonieorchester hier am Kaiserkai glänzte. Alice Sara Ott begeistert ihr Publikum immer wieder mit unterschiedlichen aufregenden Projekten. Sie arbeitete z.B. höchst erfolgreich zusammen mit dem isländischen Komponisten Ólafur Arnalds im Rahmen von „The Chopin Project“, das zur Nummer Eins der offiziellen englischen Klassik-Charts aufstieg. Mit vielen berühmten Dirigenten und großen Orchestern gab es Auftritte auf der ganzen Welt. "Proud as fuck" kommentierte sie auf ihrer Facebookseite ihr Empfinden nach den ersten gelungenen Konzerten mit dem NDR Elbphilharmonieorchester. Auf dem Programm vor der Pause stehen Beethovens Leonoren-Ouverture Nr. 3 op. 72a und Beethovens Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 c- Moll op 37. Beethovens einzige Oper hat gleich vier verschiedene Ouvertüren. Nr. 3 schaffte den Sprung von der Bühne in den Konzertsaal.
"Dieses mein geistiges Kind hat mir vor allen anderen die größten Geburtsschmerzen, aber auch den größten Ärger gemacht", bekannte Beethoven über den Fidelio, seine einzige Oper. Neun Jahre lang hat er sich immer wieder den Kopf darüber zerbrochen. Heldin des Dramas ist Leonore, die sich in Männerkleidung unter dem Decknamen Fidelio als Kerkerknecht einschleust und schließlich ihren Gatten Florestan aus der Gefangenschaft rettet. Die Uraufführung der Oper – von Anfang an schwankte der Titel zwischen Fidelio und Leonore – fand im Herbst 1805 im Theater an der Wien statt und war ein grandioser Misserfolg. Beethoven arbeitete die Partitur im Jahr darauf gründlich um, alles schien vielversprechend, doch diesmal überwarf er sich mit dem Intendanten des Theaters und es gab nur ein paar wenige Aufführungen. Richtig zufrieden war Beethoven ohnehin nicht. Und so griff er noch einmal zum Rotstift, strich Vieles und komponierte für die dritte Version der Oper – die wir heute Fidelio nennen – große Teile neu. Endlich waren Komponist und Publikum zufrieden. Die zahlreichen Überarbeitungen sind der Grund dafür, warum es für Fidelio bzw. Leonore vier verschiedene Ouvertüren gibt. Denn für jede Neuversion der Oper schrieb Beethoven eine eigene Ouvertüre. Ihre genetische Substanz ist zwar die selbe, sie ist aber jeweils unterschiedlich ausgeprägt; und alle vier Ouvertüren stehen in unterschiedlicher Beziehung zur Oper.
Urbanski dirigiert das rund fünfzehn Minuten dauernde Stück nicht, nein er tanzt es. Er steht auf den Zehenspitzen, den Körper in schwindelerregende Positionen bringend, sichtlich in die Musik vertieft. Er dirigiert auswendig und wirkt mal wie ein DJ und mal wie ein kleiner Junge, der mit seinem Lieblingsspielzeug hantiert. Und das Orchester folgt ihm freudig. Leiseste Streicherflächen erscheinen plötzlich im Saal und schwellen an bis zur vollen Lautstärke. Deutlich vernimmt man alle Orchesterinstrumente in diesem wunderschönen Konzerthaus, das sich geradezu anbietet, einzelne Musikinstrumente auch einmal außerhalb des Orchesterpodiums zu platzieren. Ein herrlicher Effekt, wenn einige aus der Bläsergruppe aus den oberen Rängen erklingen. Freundlicher Applaus nach diesem "warm up".
Weiter geht es mit dem mit Spannung erwarteten nächsten Programmpunkt. Ludwig van Beethoven: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 c-Moll op. 37. Beethoven widmete das Konzert dem Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, von dem er sagte, er spiele nicht "prinzlich oder königlich, sondern wie ein tüchtiger Klavierspieler". Bei der Uraufführung im April 1803 saß Beethoven selbst am Klavier. Er spielte aus Noten, die er allerdings nur in eilig hingeworfener, stenographischer Kurzschrift festgehalten hatte – was seinen Umblätterer ziemlich ins Schwitzen brachte: "Ich erblickte fast lauter leere Blätter, höchstens auf einer oder der anderen Seite ein paar mir recht unverständliche Hieroglyphen hingekritzelt." Beethoven soll sich darüber königlich amüsiert haben. Unterwelt, Trauer, Verwünschungen, und alles, was nicht ganz geheuer ist- das ist die Sphäre der Tonart c-Moll, die Beethoven für sein drittes Klavierkonzert wählte. Es ist nebenbei das einzige Konzert in einer Moll-Tonart – und Beethoven kostet den düsteren Charakter genüsslich aus und setzt ihn in ein wirkungsvolles Spannungsverhältnis zu lichten Passagen.
Im schwarzen, hautengen klitzerndem Kleid erscheint die bildhübsche 28-jährige Deutsch-Japanerin Alice Sara Ott mit einem sympathischen Lächeln im Gesicht. Das unterhalb der Knie auffächernde Kleid, welches bis zum Boden reicht, offenbart dennoch, dass sie "barfuß" spielt, um einen maximalen Kontakt zu ihrem Instrument herzustellen. Der erste Satz ist Musik über Musik. Wie ein Mosaik fügen sich die einzelnen Elemente, die Musik ausmachen, zusammen: Rhythmus, Melodie, Harmonik, Klangfarben, Dynamik, der Kontrast zwischen dem Solisten und der Gruppe und schließlich die große Architektur der Sonatensatzform mit ihren zwei unterschiedlichen Themen. Beethoven baut die Elemente Schritt für Schritt zusammen, fast wie nach Rezept. Dennoch haftet der Musik keineswegs etwas Schematisches, Lehrbuchhaftes an – im Gegenteil: Jede neue "Zutat" wirkt wie eine kleine Sensation und gibt der Musik neue Würze. Ott spielt virtuos und für eine so zarte Person mit ziemlich hartem Anschlag, immer mal wieder den Blick halb links ins Orchester wendend, lächelnd, hörend und auf Harmonie bedacht. Hat sie mal eine kurze Spielpause, so schaut sie veträumt ins Publikum. Die Musik scheint sie tief zu bewegen.
Der zweite Satz verlässt den finsteren Moll-Bereich; er ist gleichsam auf der südlichen Halbkugel angesiedelt: in strahlendem E-Dur. Er gehört ganz dem Klavier. Die gedämpften Streicher begleiten dezent mit tupfenden Akkorden und treten nur dann hervor, wenn das Klavier schweigt. Die Pianistin klebt hier förmlich an den Tasten mit immer wieder lächelnden Blickkontakten zum auflegenden DJ.Der dritte Satz, ein symmetrisch angelegtes Sonatenrondo, lebt von seinem prägnanten Thema; Beethovens Schüler Carl Czerny empfahl: "Das Thema dieses Finales ist zwar klagend, aber mit einer naiven Einfachheit vorzutragen." Alice Sara Ott läuft nun zu Höchstform auf. Die Themenwiederholungen und Wechselspiele wirken wie ein Frage- und Antwortspiel zwischen ihr und dem Orchester. Sie zaubert schwindelerregende Läufe mit spürbarer Spiellaune. In der Solokadenz am Ende kann sie sich so richtig austoben, ruft das Orchester mit lauten Trillern herbei. Es folgt ihr aufs Wort und die in Quarten gestimmten Pauken kommen dazu. Durch die häufige Motivwiederholung entsteht eine ungeheure Spannung. Nach dem Verklingen des letzten Tones löst sich diese Spannung im Publikum in einem Riesenbeifall für Pianistin und das Orchester.
Als Zugabe spielt Alice Sara Ott aus Peer Gynt von Edvard Grieg "In der Halle des Bergkönigs". Nein, sie spielt es nicht; sie steigert sich in ihrer Virtuosität in einen Spielrausch, den man so noch niemals an den Tasten wahrgenommen haben dürfte. Die Konzertbesucher in Japan dürfen sich auf ein Ereignis freuen, denn in genau dieser Konstellation geht es in wenigen Tagen auf eine zweiwöchige Japan-Tour.
Nach der Pause folgt die sinfonische Dichtung (frei nach Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra) von Richard Strauss, Also sprach Zarathustra op. 30 Jeder kennt es aus einer Bierwerbung und vor allem aus dem Film 2001: Odyssee im Weltraum - ein viel und gern genutzter Klassiker.
Vor dem Konzert fand eine Einführung mit Krzysztof Urbanski statt. Dieser sprach über seine Faszination von der Akustik des Saales und besonders dem Zusammenspiel des Orchesters mit der Orgel. Urbanski beschrieb die sinfonische Dichtung: "Vollkommene Stille. Das Nichts, dargestellt durch den tiefsten spielbaren Ton. Die Geburtsstunde der Menschheit. Nietzsche war davon überzeugt, dass der Mensch durch seine Entwicklung zu etwas Größerem, zu etwas Besserem fähig ist. Dies nannte er den "Übermensch". Und Strauss stellt dieses dreisilbige Wort "Ü-ber-mensch" mit den Intervallen Quinte und Oktave dar. Auf diese Weise will er sagen: Es passiert gerade. Wir stecken mitten in diesem Evolutionsprozess. Das Stück ist in neun Teile gegliedert. Nach dem Erwachen der Menschheit mit dem berühmten Eingangsmotiv wendet es sich der Religion zu. Strauss nutzt dazu zwei Melodien aus dem Mittelalter. Eine gespielt von der Orgel und die andere gespielt von den Hörnern. Er gebraucht diese Motive, um den Beginn zu zeigen: Es gibt Religion. Es ist faszinierend, wie er diese religiösen Motive benutzt. Es gibt einen Moment des Gebets. "Langsam mit Andacht", eine wunderschöne Passage gespielt von den Streichern, die bis zur Ekstase anwächst. Dann benutzt er Celli und Bässe und startet einen philosophischen Diskurs über die Bedeutung und den Sinn von Religion. Die Menschheit wendet sich dann den Freuden und Leidenschaften zu. Danach der Wissenschaft und Weisheit. Es ist wirklich faszinierend, wie Strauss durch die Musik durch diese Punkte auf Papier seine eigene Sicht zum Ausdruck bringt. Seine eigene Philosophie über die Natur des Menschen und seine eigenen Gedanken über die Zukunft der Menschheit. In Nietzsches Werk gibt es einen ständigen Kampf zwischen Zarathustra, der die Menschheit auf die Zukunft vorbereiten will, und denen, die dazu noch nicht bereit sind. Sie wollen sich nicht weiterentwickeln. Sie halten zu sehr an ihren Ideen fest, ihren Dogmen, der Religion und dergleichen. Strauss hat diesen Konflikt vorzüglich aufgegriffen. Wir haben diese Idee und das Ringen um Weiterentwicklung. Am Schluss steht dieses wunderschöne H- Dur im Raum symbolisch für die Zukunft der Menschheit. Dagegen spielen Posaunen, Celli und Kontrabässe das Eingangsmotiv. Tatsächlich endet das Stück mit denselben Noten, mit denen es begonnen hat, in vollkommener Dunkelheit. Faszinierende Musik, absolut!"
Der Erste Gastdirigent nimmt das Publikum mit zu seiner Interpretation des rund 35-minütigen sinfonischen Werkes. Wieder bewegt er sich in seiner unnachahmlichen Art auf dem Podium. Er tanzt im Walzerschritt und zuckt wie von Blitzen getroffen. Er dirigiert, ja manchmal hat man den Eindruck er suggeriert die Musik aus tiefster Seele im Einklang mit dem Stück.
Es entsteht eine kraftvolles Spiel zwischen dem blendend aufgelegten Orchester und der wundervollen Orgel aus Bonn, die wie gemacht zu sein scheint für die Elbphilharmonie. Sie schleicht sich zunächst kaum hörbar ins Orchester und bildet dann eine perfekte Harmonie mit diesem. Sanfte Streicherklänge schmeicheln den Ohren, riesige Pauken und 8 Kontrabässe bedienen das unterste Frequenzspektrum. Verspielte Piccolo- und Querflötenklänge verkünden Lebensfreude. Trotz groß besetztem Orchester erfasst man jede Instrumentengruppe deutlich. Wuchtig, bis an die Schmerzgrenze gehend das Gesamtklangbild mit aufbrausender Orgel. Über dem Orchester schwebt ein Harfenklang. Zum Ende hin die Solovioline dazu im Dialog (glänzend gespielt vom Konzertmeister Stefan Wagner). Im obersten Rang vor dem Orchester erschallt die Glocke zum leisen Piccolo- und Querflötenfinale.
Es gibt kein Gut oder Böse mehr. Der Bogen wird zum Beginn des Stücks gespannt. Verheißt das den nächsten Morgen, die „ewige Wiederkehr des Gleichen?“ In jedem Fall wirkt die formale Geschlossenheit wie ein Narkotikum gegen die Widersprüche der Welt, an denen Nietzsche verzweifelte.
Und nach einigen Sekunden der Stille gibt es auch kein Halten mehr beim Publikum. Großer Jubel in der Elbphilharmonie nach diesem glanzvollen Konzert. Von Patrik Klein
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